Zehn Jahre NATO-Osterweiterung

"Eine militärische Auseinandersetzung können wir uns nicht erlauben"

Harald Kujat im Gespräch Christopher Ricke · 29.03.2014
Der frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat, hat im Deutschlandradio Kultur die Schutzfunktion der NATO für frühere Ostblockstaaten betont, setzt in der Ukraine-Krise aber weiter auf diplomatische Lösungen.
Christopher Ricke: US-Präsident Obama und Russlands Präsident Putin haben miteinander telefoniert. Es gibt also weiter diplomatische Bemühungen, die Ukraine-Krise beizulegen, und da kann es natürlich durchaus hilfreich sein, sich ab und zu auch mal in die russische Position zu versetzen. Denn die Russen haben schon die Empfindung, dass ihnen zum Beispiel die NATO vor zehn Jahren sehr auf den Pelz gerückt ist. Estland wurde NATO-Mitglied, Litauen, Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Slowenien – alle NATO-Partner.
Das war die zweite Stufe der NATO-Osterweiterung, nachdem Polen, Tschechien und Ungarn schon ein paar Jahre Mitglied waren. Zehn Jahre Osterweiterung – der Wechsel vieler Staaten aus dem Lager des früheren Warschauer Pakts hin zur NATO, also die Ausdehnung der NATO bis vor die russische Haustür. Ich spreche jetzt mit General außer Diensten Harald Kujat. Er war damals Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, also an führender Stelle mit der Erweiterung beauftragt. Guten Morgen, Herr General!
Harald Kujat: Guten Morgen, Herr Ricke!
Ricke: Die Lage in der Ukraine ist sehr, sehr kritisch. Ist der Jahrestag trotzdem so was wie ein Feiertag?
Kujat: Sicherlich für die Staaten, die vor zehn Jahren in die NATO aufgenommen wurden, denn sie sehen jetzt, dass aus ihrer Sicht jedenfalls diese Entscheidung völlig richtig war. Die Mitgliedschaft in der NATO schützt diese Staaten. Ich glaube zwar nicht, dass Russland oder auch jemals die Sowjetunion versucht hätte, diese Staaten nun wieder zu besetzen, aber es ist eine Garantie der Sicherheit. Und insofern ist es für diese Staaten sicherlich ein wichtiger Tag.
"Es war richtig, die Ukraine nicht aufzunehmen"
Ricke: Es gab ja auch die Diskussion, die Ukraine einmal mittelfristig in die NATO aufzunehmen. Diese Diskussion kann man sicherlich politisch führen, aber man kann sie auch militärisch betrachten. Wäre es denn – wenn man vom Rathaus kommt, ist man immer klüger –, wäre es heute klüger gewesen, die Ukraine mit aufzunehmen?
Kujat: Nein. Ich bin immer dagegen gewesen, die Ukraine aufzunehmen, genauso wenig, wie wir hätten Georgien aufnehmen sollen, und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Ein ganz entscheidender Aspekt für die Mitgliedschaft in der NATO ist für die Bewerber jedenfalls die Schutzgarantie, die sich aus Artikel fünf des NATO-Vertrages ergibt. Das heißt aber auf der anderen Seite auch, dass die NATO in der Lage sein muss, diese Schutzverpflichtung zu erfüllen. Das ist weder gegenüber Georgien möglich noch gegenüber der Ukraine. Insofern kann die NATO gar nicht eine solche Verpflichtung eingehen. Ich denke, es waren auch eine ganze Reihe von NATO-Staaten, die das abgelehnt haben in der Vergangenheit und die sich auch in dieser Haltung heute bestätigt sehen.
Ricke: Ist denn die NATO, sind denn die NATO-Staaten überhaupt noch in der Lage, diese Schutzverpflichtung wirklich zu erfüllen, nach Jahren des Armeeumbaus, nach der langen Diskussion, dass es eben nicht mehr um die Verteidigung mit Bodentruppen geht, sondern eher um internationale Eingreiftruppen? Sind wir noch fit?
Kujat: Na ja, es ist schon schwieriger geworden, deutlich schwieriger geworden. Man muss ja auch immer die andere Seite sehen. Russland ist zunächst mal nach der Auflösung der Sowjetunion, nach dem Verschwinden des Warschauer Paktes ja durch ein ziemlich tiefes Tal gegangen. Und die Streitkräfte sind sehr, sehr geschwächt worden in dieser Zeit, aber inzwischen hat Russland deutlich aufgeholt. Man darf nicht vergessen, Russland ist nach wie vor neben den Vereinigten Staaten die einzige nuklearstrategische Weltmacht, und es ist inzwischen wieder eine sehr starke Militärmacht.
Auf der anderen Seite haben die NATO-Staaten doch das, was man so etwas spöttisch Friedensdividende nennt, mehr als genug eingefahren in den vergangenen Jahren. Denken Sie an Deutschland nur. Deutschland hat dramatisch abgerüstet und wäre kaum in der Lage, heute einen wichtigen, einen gewichtigen Beitrag zur Bündnisverteidigung zu leisten geschweige denn zur Landesverteidigung.
Also die Situation ist sehr, sehr schwierig. Umso wichtiger ist es natürlich, dass man in einer solchen Krise, wie sie jetzt um die Ukraine entstanden ist, immer wieder versucht, mit der Gegenseite ins Gespräch zu kommen und eine Regelung zu finden, die den Interessen beider Seiten gerecht wird. Denn eine militärische Konfrontation können wir uns überhaupt nicht erlauben. Aber ich denke, auch Russland hat daran kein Interesse.
"Osterweiterung war gewaltiger Beitrag zur Stabilisierung Europas"
Ricke: Die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ließ die NATO ja zum zehnten Jahrestag der Osterweiterung noch mal anders und sagt, es sei nicht nur ein militärisches, sondern ein politisches Bündnis, und es sei vor allem der demokratische Wertekanon, der hohe Anziehungskraft auf Neumitglieder entfaltet. Ich habe da etwas gestaunt. Ich dachte dann doch eher, vielleicht bin ich ja etwas schlicht, es sei die Angst vor den Russen gewesen?
Kujat: Sie sind überhaupt nicht schlicht, sondern Sie haben den Nagel völlig auf den Kopf getroffen. Richtig ist schon, dass die NATO in erster Linie ein politisches Bündnis ist, das wird sehr häufig übersehen, aber mit einem militärischen Arm, mit einer militärischen Organisation. Sie haben völlig recht, ich habe selbst sogar die ersten Verhandlungen mit Polen und Ungarn beispielsweise auf der militärischen Seite geführt, die Beitrittsverhandlungen, und es war ganz eindeutig und ist auch heute noch, rückblickend, völlig klar, dass diese Staaten unter den NATO-Schirm schlüpfen wollten. Präziser gesagt, sogar in erster Linie unter den Nuklearschirm der Vereinigten Staaten.
Also, der sogenannte Wertekanon spielte auf der Seite der Beitrittskandidaten keine Rolle. Allerdings spielte auf unserer Seite schon eine Rolle, ob diese Staaten beispielsweise mit ihren Nachbarn die Schwierigkeiten, die ja häufig bestanden, geregelt hatten. Ob sie Minderheitenrecht eingeführt hatten; ob sie eine demokratische Kontrolle der Streitkräfte eingeführt hatten – das waren alles Kriterien oder Voraussetzungen, die erfüllt sein mussten. Und insofern hat die NATO schon mit der Osterweiterung doch einen gewaltigen Beitrag zur Stabilisierung Mitteleuropas geleistet. Das darf man nicht unterschätzen.
Ricke: General außer Diensten Harald Kujat. Er war vor zehn Jahren bei der NATO-Osterweiterung Vorsitzender des Militärausschusses der NATO. Vielen Dank, Herr Kujat!
Kujat: Ich danke Ihnen, Herr Ricke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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