Zehn Jahre nach Erfurt-Amoklauf: Keine Psychologen, keine Sozialarbeiter

Christiane Alt im Gespräch mit Katrin Heise · 26.04.2012
Zehn Jahre nach dem Amoklauf eines Schülers am Erfurter Gutenberg-Gymnasium beklagt dessen Direktorin Christiane Alt fehlende Ressourcen zur Prävention. Auch ihre Schule brauche Freizeitpädagogen, Schulpsychologen oder Sozialarbeiter, sagte Alt.
Katrin Heise: Es ist zehn Jahre her, 26. April 2002, in Erfurt erschießt der 19-jährige Robert Steinhäuser 16 Menschen und sich selber. Es war der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, der erste in Deutschland, nicht der letzte, wie wir ja inzwischen leider wissen. Leben mit diesem Teil der Biografie, Wege aufzeigen, so ist die Einladung zum zehnjährigen Gedenken an den Amoklauf überschrieben.

Von den Jugendlichen, die Zeugen der Schreckenstat von Robert Steinhäuser wurden, ist inzwischen keiner mehr an der Schule, anders sieht es im 56-köpfigen Lehrerkollegium aus, da gibt es immerhin noch 15 Pädagogen, die damals schon an der Schule waren. Und es waren ja vor allem Lehrer, die der Amokläufer erschossen hat.

Die damalige Direktorin Christiane Alt leitet die Schule bis heute, ich habe sie vor der Sendung sprechen können. In anderen Zusammenhängen sagt man ja, zehn Jahre sind eine lange Zeit und die Zeit heilt die Wunden und ich habe sie gefragt, ob dies in irgendeiner Form auch für das von ihr Erlebte gilt?

Christiane Alt: Nein, das gilt überhaupt nicht. Dieser Spruch, der kann Betroffene nicht wirklich trösten, weil, für uns ist eher die Zeit die Wunde. Und wir haben uns aber inzwischen in unserem Leben darauf eingestellt, dass wir damit leben müssen.

Heise: Sie waren und Sie sind Direktorin der Schule. Mussten Sie da eigentlich immer stark sein? Sie haben ja eine Führungsrolle.

Alt: Eine Führungsrolle setzt voraus, dass man Verantwortung übernimmt und das man sich auch an der ein oder anderen Stelle stärker beweisen muss. Aber das habe ich mir so ausgesucht, ich wollte das so und ich habe mich damit auch arrangiert.

Heise: Das heißt also, Schwäche oder Nichtstärke konnten Sie dann nur im Privaten erleben?

Alt: Ich grenze das ganz klar ab. Als Schulleiterin spreche ich grundsätzlich für die Belange der Schulgemeinde und versuche, dort mehrheitliche Stimmungen und Meinungen und auch die Schritte, die wir gegangen sind in den zehn Jahren, zu kommunizieren. Und mein privates Leben habe ich eigentlich versucht in diesen zehn Jahren, aus der Öffentlichkeit herauszuhalten, das möchte ich auch so beibehalten.

Heise: Es waren ja vor allem Lehrer, die damals Opfer wurden, die erschossen wurden. Wie hält man danach das Kollegium zusammen?

Alt: Ich muss davon ausgehen, dass damals, als wir uns entschieden haben, diese Schule zu erhalten, das Kollegium zusammenzubleiben, die Schulgemeinde wollte zusammenbleiben, da deckten sich meine persönlichen Eindrücke und Gedanken Gott sei Dank mit denen meiner Kolleginnen und Kollegen und auch der Schüler- und Elternschaft. Und insofern hatten wir damals einen Wunsch, eine Vision, sicher begründet, im Angesicht von so viel Verlust nicht noch mehr Verlust hinnehmen zu wollen und dieser grausamen Tat etwas entgegenzuhalten. Und das hat uns damals letztlich auch zusammengeschweißt, um diesen langen und schwierigen Weg miteinander gehen zu können.

Heise: Ja, man liest in dem Zusammenhang auch immer mal wieder das Wort Schicksalsgemeinschaft. Kann eine Schicksalsgemeinschaft dann auch wieder andere von außen zulassen, oder ist das nicht auch ziemlich schwer, die dann ... ja, Ahnung hat jeder in Deutschland von der Tat, aber natürlich nicht mit erlebt.

Alt: Es ist für Außenstehende vergleichsweise schwer, in die Schicksalsgemeinschaft zu kommen, da gibt es Berührungsängste und Befindlichkeiten, was darf ich jemanden fragen, was kann ich jemandem zumuten. Das ist zweifelsfrei ein schwieriger Weg, hier eine Integration von Kolleginnen und Kollegen vorzunehmen mit den hinzugekommenen Lehrerinnen und Lehrern, die das aber alle freiwillig getan haben, sicherlich mit einem guten Vorsatz, aber auch nicht ahnen könnend, was das im Einzelnen dann bedeutet.

Wir mussten uns eigentlich ständig selbst hinterfragen und auf unserem Weg auch Korrekturen vornehmen, wo wir gesehen haben, das geht so nicht. Es gab keine Beispiele dafür, das ist was anderes, wenn zwei Schulteile fusionieren, das ist eine ganz andere Situation. Und umso mehr bin ich heute froh, dass wir das geschafft haben, denn schließlich sind auch die Lehrerinnen und Lehrer, die danach gekommen sind, in diese schwierige Rolle, jemanden ersetzen zu müssen, hier, seit zehn Jahren im Kollegium. Und ich denke, wir sind ein Kollegium. Mit unterschiedlichen Erfahrungen, aber auch die, die dazugekommen sind, haben auch letztlich, sind auch in diesen Sog mitgenommen worden.

Heise: Vor zehn Jahren erschoss ein Schüler 16 Menschen und sich selbst am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. Christiane Alt war damals und ist heute Direktorin der Schule. Frau Alt, konnte oder wollte man, war man in der Lage eigentlich, die Geschichte des Schülers Robert Steinhäuser im Kollegium, an der Schule aufzuarbeiten?

Alt: Mit denen, die noch leben und ihn auch als Schüler hatten, ist das in kleinen Gruppen geschehen. Das Schwierige ist, dass ein Gutteil der Kolleginnen und Kollegen, die hier hätten mithelfen können, leider unter den Opfern sind.

Heise: Hat sich, würden Sie sagen, die pädagogische Arbeit an der Gutenberg-Schule verändert?

Alt: In den ersten Jahren war das natürlich eine ganz andere Situation, ein anderes Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Wenn man sich in Anbetracht dieser Tat in den Armen gelegen hat, wenn Lehrer und Schüler ganz vorsichtig und behutsam miteinander umgegangen sind in den ersten Wochen, Monaten und auch Jahren, bis letztendlich 2010 die letzten Schüler ja mit dem Abitur das Haus verlassen haben, dann ist das ein anderes Lehrer-Schüler-Verhältnis, als man das normalerweise kennt.

Das haben wir aber heute so nicht mehr, weil es auch von den Schülern gar nicht so gewünscht ist, mit dem Lehrer sich im Arm zu liegen. Aber wir haben, denke ich, einige Grundsätze hier im Haus: Die Schule hat in ihre über 100-jährige Schulgeschichte das Ereignis integriert, der bewusste Umgang mit dem Ereignis gehört zu unserem Konzept und wir weisen alle Eltern und alle Schüler, die sich unsere Schule als ihre Schule nach der Grundschule aussuchen, auf diesen Teil der Geschichte hin, auch auf das jährlich stattfindende Ritual, das dann auch jetzt mit den aktuellen Schülern gestaltet wird, die gar keine persönlichen Bezüge haben.

Wir, die Zeitzeugen, stellen uns den Schülern zur Verfügung, wir erzählen von unseren eigenen Erlebnissen. Das können meine Kolleginnen und Kollegen in den letzten Jahren immer besser und auch mehr können darüber sprechen, das war anfangs eher nicht so. Und insofern haben wir natürlich hier einen Erfahrungswert mitzuteilen in die Richtung der Kinder, in die Richtung der Eltern, das haben andere Schulen nicht. Aber ansonsten, wenn Sie das Haus jetzt heute betreten würden, würden Sie denken, Sie kommen in eine ganz normale Schule.

Heise: Und wie an jeder normalen Schule gibt es immer Schüler, die sich nicht wohlfühlen, die sich vielleicht auch gemobbt fühlen. Schafft man das, haben Sie das Gefühl, schaffen Sie das vielleicht, das eher wahrzunehmen im Schulstress, den es ja ohnehin gibt?

Alt: Da würde ich nicht unbedingt sagen, dass wir uns da ausnehmen, weil, meine Kollegen müssen gleiche Unterrichtsverpflichtungen erfüllen wie an anderen Schulen auch. Wir haben keine Unterstützungsinstrumente in Form von Freizeitpädagogen, Schulpsychologen oder Sozialarbeitern, das ist das, was ich jeder Schule in Deutschland eigentlich seit diesen zehn Jahren wünschen würde ...

Heise: ... und Sie haben keine ...

Alt: ... die haben wir nicht, das haben wir nicht. Es gibt ja hier und da Schulen, da hat man Sozialarbeiter oder auch Freizeitpädagogen ins Kollegium integriert, weil ich denke, das bräuchten wir vor Ort, diese Menschen, die in einer Schulgemeinde wirklich integriert sind, die dort ein Zimmer haben, wo die Tür aufsteht, wo Kinder, Eltern und auch Lehrer kommen können, um eben in dem Bereich von Prävention darin auch Ansprechpartner zu finden beziehungsweise auch einen Menschen zu finden, der das Zeitliche, die Ressource dafür hat. Und das haben Lehrer nicht.

Heise: Es gibt ja inzwischen Pläne an Schulen, wie man im Falle eines Amoklaufs reagiert. Bei der Polizei gibt es solche Pläne, da ist in den zehn Jahren einiges geschehen. Aber würden Sie sagen, es hat sich tatsächlich was getan in unserer Gesellschaft?

Alt: Das Hauptproblem ist, dass das so nicht wahrnehmbar ist. Sicherlich ist es wichtig, dass man sich heute an Schulen zunächst erst mal einstellt, in Gefahrensituationen besser reagieren zu können, als wir es damals konnten. Wir sind zwar nach wie vor kein Hochsicherheitstrakt hier, wir haben Informationssysteme und Warnsysteme, aber wir haben offene Türen und zu uns kann jeder ins Schulhaus hinein. Das wollten wir nicht so, wie man das in Amerika hat, das geht in Deutschland auch, glaube ich, eher nicht.

Diese Dinge sind richtig und wichtig, dass man in Lehrerkollegien sensibilisiert, dass es dieses Phänomen eben auch in Deutschland gibt, dass in der Lehrerausbildung mit Sicherheit etwas passieren muss, dass Lehrer sensibilisiert werden. Das ist das eine. Das Zweite ist – und da müssen wir, denke ich, nachlegen –, dass, wenn Schule die Defizite ausgleichen soll, die in der Gesellschaft auftreten, dann muss Schule anders ausgestattet sein als heute, und dann meine ich eben nicht sächlich, da meine ich halt die personellen Ressourcen.

Heise: Das, was Sie auch erwähnt haben, das Präventive eben, das Miteinander eigentlich.

Alt: Ja, ja.

Heise: Was geschieht eigentlich mit Ihnen und den Kollegen, Sie haben es eben erwähnt, wenn Sie von Amokläufen wie zum Beispiel dem in Winnenden hören?

Alt: Das ist für uns immer eine ganz schlimme Situation. Das Problem ist, dass wir eigentlich ab diesem Moment ganz genau wissen, was die Menschen vor Ort in den nächsten Jahren und, für viele wahrscheinlich sogar, die überlebt haben, lebenslänglich dann mit sich tragen müssen. Also, dieses Leben mit diesem Teil der Biografie. Das ist das, was sich uns dann sofort einblendet. Und das ist schlimm zu hören.

Heise: Konkret in Winnenden haben Sie auch versucht sogar, zu helfen.

Alt: Ja, das haben wir getan, indem wir uns einfach als Gesprächspartner zur Verfügung gestellt haben, weil wir auch selbst die Erfahrung gesammelt haben, dass man einfach Menschen braucht, die zuhören. Es liegt uns fern, Ratschläge in diese Richtung zu geben, das können wir nicht und wollen wir nicht, aber den ein oder anderen Erfahrungswert ...

Und die Dinge gleichen sich ja auch, die Parallelen, wenn man die Folgezeiten dann auch vergleicht. Es gibt gleiche Phänomene und gleiche Strategien und man kann mit Erfahrungswerten dann vielleicht vor Ort helfen. Aber letztlich muss die betroffene Schulgemeinschaft ihren Weg selbst suchen und auch entscheiden, welchen sie gehen möchte.

Heise: Das sagt Christiane Alt. Sie war vor zehn Jahren und sie ist heute noch die Direktorin des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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