Zehn Jahre nach dem Sturz von Miloševic

Von Stephan Ozsvath · 05.10.2010
Heute vor zehn Jahren stürmten hunderttausende Serben das Parlament und den staatstreuen Fernsehsender RTS in Belgrad. Inzwischen sucht Serbien den Weg in die EU, steckt aber auch in einem Teufelskreis der Schulden.
Der Marktplatz "Zeleni Venac" im gleichnamigen AltStadtviertel von Belgrad. Vor zehn Jahren wurde nur wenige Blocks entfernt Geschichte geschrieben. Die Atmosphäre heute hier - auf dem Markt neben dem Fast-Food-Restaurant - ist wenig marktschreierisch. Nur wenige Käufer streifen durch die Auslagen. Viele können sich die wenigen Dinare für Pflaumen, Tomaten und Paprika nicht leisten, erzählt dieser Marktverkäufer aus Smederevo, knapp 50 Kilometer von Belgrad entfernt:

"Die Leute hier in der Nachbarschaft, im Parlament, die bekommen wenigstens Geld, wenn sie arbeiten. Wir hier arbeiten und wir bekommen nichts. Und dann wollen die Leute, die hier einkaufen, auch noch alles billiger haben. Es gibt auch viele, die laufen herum und betteln, wollen etwas umsonst haben, weil sie nichts zu essen haben. Es gibt einfach keine Jobs, totale Krise."

Jeder Sechste in Serbien hat keinen Job - offiziell. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Und im Kosovo ist es noch schlimmer, erzählt Marktverkäufer Vojko Simic. Er stammt von dort, aus der Gegend von Peć:

"Die Albaner sind nicht das Problem. Ich habe Freunde dort, wir haben in Maribor zusammen gelebt und uns immer getroffen. Die Albaner dort sagen: Kommt zurück. Aber es gibt keine Arbeit, die Bedingungen zum Leben sind einfach zu schlecht."

Und was sagt er zur entschärften Kosovo-Resolution, die kürzlich von der UNO-Vollversammlung verabschiedet wurde ? Die darauf verzichtet, die Unabhängigkeit des Kosovo zu kritisieren und von "Dialog" spricht? Und wegen der Präsident Boris Tadić von den Nationalisten im Parlament als "Verräter" beschimpft wurde?

"Er handelt so, wie man ihn handeln lässt. Würde er anders handeln, wäre das sicher nicht gut, weder für ihn noch für uns."

Geld und Macht, darum geht es doch eigentlich, meint der Kosovo-Serbe und nimmt noch einen Schluck Bier:

"Das entscheiden doch ohnehin nicht wir, sondern die EU und andere. Ich würde ja gerne ins Kosovo zurückkehren, habe auch schon die Rückkehr beantragt, aber die Bedingungen sind leider nicht günstig."

Ein Neubauviertel in Neu-Belgrad, der Trabantenstadt am anderen Ufer der Save. Beton reiht sich an Beton, unter den Brücken leben Roma in zusammengezimmerten Wellblechhütten. Für Eigentumswohnungen und Garagen werden westliche Preise verlangt, 20.000 Euro Kaufpreis für einen Autostellplatz sind hier normal. Die 36-jährige Olga Lazarevic hat hier eine Wohnung gekauft, sie ist geschieden und hat einen fünfjährigen Sohn. Und sie war vor zehn Jahren dabei, als Milošević gestürzt wurde:

"Am 5. Oktober war eine ganz tolle Atmosphäre. Ich war zu Hause mit einem Kollegen von der Uni, wir haben Fernsehen gesehen. Viele Menschen sind Richtung Rathaus gegangen. Wir haben uns entschieden, auch zu gehen. Es war eine große Reihe von Autos und Autobussen, die von Neu-Belgrad Richtung Rathaus zogen. Viele waren mit Fahnen und Pfeifen. Viele waren begeistert. Und wir haben gehört, dass Milošević die Armee vorbereitet hat für den Fall, dass die Demonstranten durchbrechen. Er wollte sich verteidigen."

Vor dem Parlament, ganz in Nähe des Belgrader Rathauses, hat sich am 5. Oktober 2000 eine vieltausendköpfige Menschenmenge versammelt. Die Polizei schießt Tränengasgranaten. Es kommt zu Zusammenstößen. Verletzte werden in umliegende Krankenhäuser gebracht. Mit dabei in der Menge ist auch der Bauunternehmer Ljubisav Djokic. Er fährt mit seinem Bagger vor das Parlamentsgebäude. Im Erdgeschoss brennen schon einige Räume, die Polizei hat sich dorthin zurückgezogen:

"Ich sagte: Leute, steigt in die Baggerschaufel! Ich hob sie hoch bis zum ersten Stock, dann haben sie auch dort Feuer gelegt. Dann fuhr ich zurück und sah, wie sich die Polizei zurückzieht."

Djokic fährt weiter zum Gebäude des Staatsfernsehens RTS, erzählt er, es ist nur ein paar Häuserblocks vom Parlament entfernt. Eine Forderung der Opposition damals: Die Führung des Milošević-Sprachrohrs soll zurücktreten.

"Wir kamen zum Fernsehen, dort war überall Tränengas. Ich fuhr auf eine kleine Plattform am Eingang, dort hatten sich 15, 20 Polizisten verschanzt und die schossen wie wild auf mich. Die Baggerschaufel war aber unten, deshalb trafen sie mich nicht. Ich machte die Tür kaputt, dann strömten Demonstranten herein. Einer kam zu mir und sagte: Da ist vorhin ein hoher Offizier auf Deinen Bagger gestiegen und hat auf dich geschossen. Ein Projektil zerfetzte meine Jacke und eins flog mir am Ohr vorbei."

Dann zeigt "Bagger-Joe", wie er genannt wird, einen Zeitungsartikel. Der kleine Mann mit dem großen Selbstbewusstsein deutet auf ein Foto:

"Das ist dieser Mann hier – in Den Haag hat er ausgesagt, dass er den Auftrag hatte, mich zu töten."

Der Bagger steht ein paar Kilometer von seiner Wohnung entfernt in einer Kiesgrube. Der Motor ist ausgebaut, das Metall rostet, aber die Einschusslöcher in den Fenstern des Führerhauses sind noch gut zu sehen. Er hat versucht, den Bagger im Internet zu versteigern, keiner wollte ihn. Einem Museum hat er ihn angeboten, vergeblich. Jetzt will er den Bagger der Herstellerfirma anbieten. Mal sehen, sagt er und rechnet vor: Von 200 Euro Rente müsse er leben. Und dann witzelt er: Es wäre mal wieder Zeit, mit einem Bagger ins Parlament zu fahren.

In einem Einkaufszentrum in "Neu-Belgrad" zündet sich Milja Jovanovic eine neue Zigarette an, der Aschenbecher vor ihr füllt sich stetig. Die korpulente Kettenraucherin gehört zu den Gründern der Studentenbewegung "Otpor", die vor 10 Jahren Demos gegen Milošević organisiert hat:

"Ich denke, es war ein Aufstand, keine Revolution, denn es war im Großen und Ganzen friedlich. Keine Toten. Und das ganze System, wie Politik funktioniert, ist nicht sehr verändert worden. Und ja: Otpor hatte einen großen Anteil an diesem Aufstand. Darauf bin ich heute noch stolz. Und mich hat immer sehr geärgert, dass die Leute diesen CIA-Unsinn erzählt haben, dass Otpor von außen gesteuert wurde."

Milja Jovanovic schreibt heute an ihrer Doktorarbeit. Viele ihrer ehemaligen Otpor-Kampfgefährten sind in der Regierung untergekommen, bekleiden Posten als Staats-sekretäre und Botschafter. Serbien, vor 10 Jahren international völlig isoliert, steht heute vor den Türen der EU, Serben können sich in der EU frei bewegen:

"Es gibt einen pragmatischen und einen idealistischen Standpunkt. Ich hasse die EU-Bürokratie, dass sich Brüssel in die Staaten und in das Leben des Einzelnen einmischt. Aber ich denke, die EU kann helfen, das größte Problem Serbiens zu lösen, nämlich die Korruption."

Nur einige Kilometer Luftlinie entfernt wohnt der ehemalige Berliner Botschafter Serbiens in Berlin, Ognjen Pribicevic, mit seiner Frau und dem kleinen Sohn. Wenn er aus dem Fenster schaut, blickt der Mittvierziger auf die "Beogradska Arena". Hier spielen Rockgrößen wie Guns and Roses, hier fand vor zwei Jahren der "Grand Prix d'Eurovision" statt. Vor 10 Jahren war Pribicevic Mitglied der Opposition:

"Für mich war das eine Revolution. Aber leider stoppte die später. Weil die, die Milošević gestürzt haben, sich gegenseitig bekämpft haben, statt das System zu ändern. Und die Antwort auf die Frage nach Mladić und dem Mord an Djindjic ist: Dass wir nicht am 6. Oktober den Geheimdienst dichtgemacht und einen neuen geschaffen haben - das war unser erster und größter Fehler."

Er zeigt auf die Spielecke vor dem Fenster. Lego-Steine, Dinosaurier, Spielzeugautos, alles liegt bunt durcheinander. So chaotisch sei die Oppositionsbewegung damals auch gewesen. Und, betont der schmächtige Serbe, heillos zerstritten:

"Das größte Problem in Serbien heute ist, dass immer noch viele Leute von der Welt abgeschnitten sind. Sie haben nicht wahrgenommen, dass die Welt globalisiert ist. Und sie sind in die Vergangenheit orientiert statt in Richtung Zukunft, EU, Toleranz, in Richtung besserem Leben in jeder Hinsicht. Das ist das Erbe von Milošević, und das wird mindestens 30 Jahre dauern, bis eine andere Generation den 'Mainstream' im politischen Leben Serbiens verändert hat."

Nachdenklich schaut er aus dem Fenster, so als könne er dort in die Zukunft schauen:

"Es gibt keine Chance ohne EU. EU als ein Symbol von Werten eines Systems, das auf Reformen achtet, auf Toleranz, also: EU als Säule, als Rahmen für unseren Wandel."

Die Knez Mihajlova, die Fußgängerzone in der serbischen Innenstadt. Flaneure bewundern die teuren Auslagen. Sonja Biserko, die Grande Dame der serbischen Demokratie-Bewegung, nippt an ihrem Kaffee. Die 62-jährige sieht müde aus. Tiefe Falten haben sich neben der Nase eingegraben und zeugen von jahrzehntelangen Kämpfen. Aus Protest gegen die Politik der "ethnischen Säuberungen" hat sie Anfang der 90er-Jahre den diplomatischen Dienst quittiert. Der Geist Miloševićs ist zehn Jahre nach seinem Sturz weiter lebendig, sagt die Präsidentin des Belgrader Helsinki-Komitees:

"Der 5. Oktober 2000 wurde wahrgenommen im Westen als Ende der Ära Milošević. Es dauerte zehn Jahre, um zu verstehen, dass die serbische nationalistische Ideologie von seinen Nachfolgern wie Kostunica fortgesetzt wurde. Nur mit anderen Mitteln, diplomatischen. Selbst unser aktueller Präsident Boris Tadić hat seine Grenzen - nicht, weil er Serbien nicht als europäisches Land definieren will, sondern wegen der Ideologie und weil einflussreiche informelle Kreise Serbien in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft definieren wollen."

Armee und Polizei seien zwar reformiert worden - insbesondere wegen der NATO-Partnerschaft. Leute, die früher das Sagen in der Armee hatten, wurden ausgetauscht, einige Kriegsverbrecher ausgeliefert. Aber immer noch wird ideologisch gezündelt, kritisiert Biserko. In Bosnien und im Kosovo - die Grenzfragen sollen offen bleiben. Sie nennt Serbien einen "Destabilisierungsfaktor":

"Ich glaube, dass die Elite Serbiens darauf setzt. Sie wollen die EU nicht, das sind nur leere Worte, sie wollen nur das Geld. Deshalb ist der EU-Kandidatenstatus für Serbien so wichtig. Denn der liefert einen neuen Rahmen und Instrumente, um die Prozesse hier im Lande zu kontrollieren. Daher verzögern sie hier so. Und deswegen ist Mladić so wichtig - sie halten ihn fern von Den Haag, solange sie glauben, mit der EU spielen zu können, um Geld für ihr politisches Überleben zu bekommen. Sie verschleiern ihre wahren Interessen, insbesondere in Bosnien."

Biserko befürchtet, dass die internationale Gemeinschaft die Geduld verlieren könne und Nationalisten à la Milorad Dodik sich durchsetzen könnten. Der Präsident der serbischen Teilrepublik Bosniens droht seit Jahren mit einer Abspaltung der Republika Srpska.

Allerdings liegen die Eliten damit über Kreuz mit der Bevölkerung. Nach jüngsten Umfragen befürworten 65 Prozent der Serben den EU-Beitritt des Landes. Sie erwarten ein besseres Leben im Schoß der EU, Bewegungsfreiheit und vor allem eins: Mehr Möglichkeiten für junge Leute.

Es ist Nacht geworden in Belgrad. Am Ufer der Save liegen zahlreiche schwimmende Diskotheken vor Anker. Anziehungspunkte für die Jungen, die die Nacht zum Tag machen wollen. Die Discothek "Sounds" ist eine der ältesten hier. Sie gab es schon vor dem Sturz des Diktators. Olga Lazarevic, die ehemalige Germanistikstudentin, die heute für eine deutsche Baufirma arbeitet, geht hier auch aus:

"Es gibt in erster Linie Freiheit - unter Milošević gab es einen Schleier von Geheimnis. Auf einmal gab es einen Boom in den Medien, alles wurde veröffentlicht. Jetzt können die Medien alles schreiben. Freiheit in jeder Hinsicht. Medien, Überzeugungen, Glauben. Bewegungsfreiheit wegen der Visafreiheit. Und das Bildungsministerium schickt jetzt jedes Jahr die Besten eines Jahrgangs zum Studium ins Ausland. Unter Milošević nur wenige."

Der Hüne Bogdan Djakonovic, der sich gerade ein Bier bestellt hat, ist einer, der Auslandsluft geschnuppert hat. Er hat in Greifswald und Berlin studiert. In Belgrad betreibt er ein Internetportal, auf dem er Tipps zum Ausgehen in Belgrad gibt. Für ihn sind die Parties ein Gradmesser der Demokratisierung:

"Die Parties, die wir heute haben, gingen los, als die Leute in Belgrad anfingen, Milošević zu stürzen. Das kam alles aus der Opposition. Sie haben das größte Festival, das Exit-Festival in Novi Sad, ins Leben gerufen - gegen Slobodan Milošević."

Der Manager des Clubs mit weiß-orangener Lounge-Atmosphäre hat sich dazugesellt. Er nennt sich DJNaxx. Noch etwas hat sich verändert seit Miloševićs Sturz, meint er:

"Die Clubszene war immer groß, aber die Leute sind jetzt offener gegenüber ausländischer Club-Musik. Vor zehn Jahren wurde ihnen Folk-Musik als das große Ding verkauft, diese speziellen Folk-Rhythmen, hübsche Mädchen - das war das Beste, um die Menge zu kontrollieren in Zeiten der Krise. Folkmusik ist immer noch groß hier, aber Club-Musik ist im Kommen, das wollen die offenen Leute. Die Nationalisten stehen auf serbische Folk-Rythmen, süße Melodien."

Urbane Kultur gegen Retro-Sounds vom Land. Der Kulturkampf wird auf Save und Donau ausgetragen. Schwimmende Clubs am Ufer, umkreist von "Turbo-Folk-Dampfern", die den "Milošević-Sound" in die laue Belgrader Abendluft blasen. Welcher Rhythmus - Stadt gegen Land, Zukunft gegen Vergangenheit - sich letztlich durchsetzen wird, ist noch nicht entschieden.
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