Zehn Jahre Leopoldina als Nationalakademie

"Die Leopoldina ist kein Meinungsklub"

Der Festsaal im neuen Gebäude der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina am Freitag (25.05.2012) in Halle (Saale). Im Dezember 2011 wurde der Schlüssel übergeben, zum Jahreswechsel 2012 der Umzug in das neue Domizil bewältigt und heute wurde der Komplex mit einem Festakt eingeweiht. Foto: Peter Endig dpa/lah | Verwendung weltweit
Einweihung des Festsaals der Leopoldina: "Weil ich davon überzeugt war, dass Wissenschaft und Politik einander brauchen." © dpa-Zentralbild
Annette Schavan im Gespräch mit Julius Stucke · 14.07.2018
Damit Politiker ihre Entscheidung auf der Basis von Fakten fällen können, wurde die Leopoldina zur Nationalakademie ernannt – von der damaligen Forschungsministerin Annette Schavan. Die sagt heute, die Leopoldina schaffe einen Mehrwert.
Julius Stucke: Wie treffen Politiker ihre Entscheidungen? Weil ihr Gewissen etwas sagt, weil ihre Partei eine Linie hat, der sie folgen, weil sie eben links, rechts, liberal, grün oder sonst wie ticken und auch dementsprechend handeln? All das mögliche Erklärungsmuster, die man sich auch als Gemisch, als Entscheidungsschorle quasi vorstellen kann. Hoffentlich möglichst nie, weil irgendwer dafür bezahlt, und hoffentlich oft auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Und auch dafür gibt es seit zehn Jahre eine nationale Akademie der Wissenschaften. Dazu ernannt wurde damals die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle – eine Entscheidung der damaligen Forschungsministerin Annette Schavan. Guten Morgen hier bei "Studio 9", Frau Schavan!
Annette Schavan: Guten Morgen, Herr Stucke!
Stucke: Wie und warum haben Sie denn damals diese Entscheidung getroffen?
Schavan: Weil ich davon überzeugt war, dass Wissenschaft und Politik einander brauchen, Wissenschaft mit ihrer Expertise Grundlagen für politische Entscheidungen schaffen kann, beitragen kann jedenfalls zu diesen Entscheidungen und umgekehrt Politik ein offenes Ohr braucht für Erkenntnisse, Erfahrungen, Einschätzungen der Wissenschaft. Das war ausschlaggebend, und ganz schlicht die Tatsache, dass Deutschland eines der wenigen Länder ohne nationale Akademie war, also dringend notwendig war, im internationalen Kreis der Akademien vertreten zu sein.
Stucke: Wenn sie als Basis für politische Entscheidungen dient, die Leopoldina, um welche Themen geht es da, wo findet wissenschaftsbasierte Politikberatung in der Praxis statt?
Schavan: Beispiele, die uns schon damals beschäftigt haben, waren der Klimawandel, die demografische Entwicklung – nicht nur in der Gesellschaft in Deutschland. Es gab schon Vorarbeiten, die Leopoldina war beteiligt an einem Kreis internationaler Akademien, der Akademien der G8-Länder, die für die Gipfel wichtige Dokumente geschaffen haben. Und ganz wichtig: Die Leopoldina war schon damals engagiert im Blick auf Afrika, die Frage Kapazitätsbildung, wie können Strategien aussehen, damit Afrika seine Möglichkeiten besser nutzt. Also es war die Leopoldina bereits renommiert, sie hatte wichtige Beiträge geleistet, und in einem Satz gesagt: die großen Zukunftsfragen, da, wo es nicht um Entscheidungen für eine Legislaturperiode geht, sondern um Entscheidungen, die künftige Generationen existenziell betreffen.
Stucke: Wie funktioniert das ganz konkret? Wie funktioniert das an einem Beispiel ganz konkret, diese Hilfe bei der Entscheidungsfindung?

"Unterschiedliche Einschätzungen gehören zur Wissenschaft dazu"

Schavan: Hilfe bei Entscheidungsfindung heißt, wenn G8- oder jetzt G7-Gipfel sich mit Fragen der Partnerschaft, neuer strategischer Partnerschaften mit Afrika beschäftigen, Expertise einzuholen. Leopoldina hat selbst schon damals 1.300 Mitglieder gehabt, viele internationale Wissenschaftler, holt aber dann auch Expertise bei den Länderakademien, bei acatech, bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie, stellt Expertise zur Verfügung, trägt vor, liefert Fakten. Natürlich heißt politische Beratung und Entscheidung nicht Umsetzung von Fakten oder Empfehlungen eins zu eins, aber es ist heute schwer vorstellbar, dass in den großen Zukunftsfragen entschieden wird ohne Fakten.

Annette Schavan
© imago / epd
Stucke: Fakten ist ein interessanter Punkt, denn nun hat ja nicht alles, was das Label "wissenschaftlich beraten" bekommt, ja auch wissenschaftliche Eindeutigkeit. Also zum Beispiel gab es in diesen zehn Jahren auch Empfehlungen bei so einem komplexen Thema wie Forschung mit Embryonen, wenn ich das richtig sehe, und diese Empfehlung haben dann manche wiederum auch kritisch sehen. Also ist das auch ein schwieriges Feld, auf dem sich die Leopoldina immer bewegt?
Schavan: Selbstverständlich. Der Diskurs in der Wissenschaft, Ringen, unterschiedliche Einschätzungen gehören zur Wissenschaft dazu, fließen auch in solche Prozesse ein. Und natürlich gehört dazu auch, im Zweifelsfall nicht nur ein Votum vorzulegen, sondern unterschiedliche Traditionen, aus denen auch Voten entstehen, wenn ich etwa an die bioethischen Fragen denke. Das alles, was an Debatte in der Wissenschaft stattfindet, berührt auch die Politik und wird auch von der Politik wahrgenommen. Wichtig ist, dass der Dialog Kontinuität hat.
Stucke: Und wie schafft man es, auf solchen schwierigen Feldern dann eben für sich sauber zu bleiben, dass man eben nicht in irgendeinem Feld von Meinungen vielleicht dann auch in die Kritik selber gerät?
Schavan: Die Leopoldina ist kein Meinungsklub, sondern wenn man so will der Klub der Besten. Es sind eine Menge Nobelpreisträger Mitglied – ich glaube, damals waren es schon 35. Man kann davon ausgehen, wer Mitglied in einer Akademie ist – und häufig ja in mehreren Akademien –, das sind jene, die wirklich in ihrem wissenschaftlichen Leben sich erwiesen haben als Experten erster Ordnung, wenn man so will. Die Leopoldina steht mit ihrem Ruf für das, was sie an Expertise abgibt, und sie ist ja ernannt worden zur Nationalen Akademie der Wissenschaft damals vor zehn Jahren – übrigens heute vor zehn Jahren, in der Tat –, weil sie einen international so großen und wichtigen Stellenwert hatte, einen großartigen Ruf.

Leopoldina als Koordinationsinstanz

Stucke: Großartiger Ruf: Es gab damals ja auch Befürchtungen, dass mit der Entscheidung für so eine Nationalakademie anderen Wissenschaftsinstitutionen, die eigentlich auch einen guten Ruf genießen, wie zum Beispiel die Max-Planck-Institute, dass es denen damit schwer gemacht wird, dass die eine weniger wichtige Stimme haben können. War das ein bisschen auch berechtigt, wenn Sie auf diese zehn Jahre zurückschauen?
Schavan: Das ist nach zehn Jahren ganz gewiss nicht mehr berechtigt. Es gab heftige Debatten – nicht nur mit den anderen Wissenschaftsorganisationen, sondern auch mit den Länderakademien. Deutschland war gewohnt, dass es Länderakademien gibt, und ich glaube, es ist dann ein guter Weg gefunden worden, wie Akademien unter der Koordinierung und Moderation der Leopoldina wirklich zusammenarbeiten. Die Akademienlandschaft ist damit kraftvoller geworden, und heute, so scheint mir, kommt niemand mehr auf die Idee, dass das einer Max-Planck-Gesellschaft oder einer Helmholtz-Gemeinschaft geschadet hat.
Stucke: Gibt es so was wie einen Wunsch für die nächsten zehn Jahre Leopoldina?
Schavan: Nun, wenn ich mir die politische Landschaft in Europa anschaue, das, was wir an Debatten in den letzten Monaten erlebt haben, überhaupt Entwicklungen, wie sie jetzt deutlich werden, dann ist der Wunsch natürlich, dass sich diese Möglichkeit der wissenschaftlichen Expertise wirklich für den politischen Alltag durchsetzt. Also deutlich wird: Entscheidend ist nicht allein, was jemand glaubt, dass es in der Luft liegt, sondern es braucht für die Verantwortung in der Politik in Entscheidungssituationen wirklich die Fakten, ansonsten wird es keine tragfähigen Antworten auf die großen Zukunftsfragen geben können.
Stucke: Annette Schavan über zehn Jahre Leopoldina als Nationalakademie, etwas sehr Aktuelles, wie man daraus schließen kann. Frau Schavan, danke Ihnen für das Gespräch!
Schavan: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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