Zaubern kann er nur als Regisseur

Von Rebecca Partouche · 11.11.2008
"So viele Jahre liebe ich dich" erzählt von zwei Schwestern, die sich verloren hatten. Als die Ältere nach 15 Jahren aus der Haft entlassen wird, finden sich die Schwestern wieder. Der erste Film des Regisseurs Philippe Claudel zeigt mit viel Herz einen warmen Blick auf die Menschen.
Es begann alles wie ein Märchen. Als er beschloss, seiner kleinen Tochter das wahre Land vom Weihnachtsmann zu zeigen, traf Philippe Claudel nicht nur den echten Weihnachtsmann - er wurde auch reichlich beschenkt. Denn in Lappland fiel ihm die Geschichte seines ersten Filmes ein:

Philippe Claudel: "Ich mochte die Stimmung dort. Die kalte graue Atmosphäre, die langen Nächte inspirierten mich. Ich bin jemand, der sich im Winter in seinem Element fühlt. Da bin ich immer am Produktivsten. Ich konnte noch nie im Sommer etwas Vernünftiges machen. In Lappland war es ganz wunderbar für mich: die unendlichen Nächte, der Tag, der kaum mehr als zwei bis drei Stunden dauert, und das ist noch nicht mal Tag, sondern ein graues Licht, verschneit und eiskalt, es ist etwas sehr, sehr Schönes."

Skandinavien: mit seinen starken Lichtkontrasten ein magischer Ort. Denn dort ist nicht nur der Weihnachtsmann zu Hause. Die großen Naturalisten Strindberg und Ibsen, Ingmar Bergmann und Lars von Trier haben ihre düstersten Geschichten hier geschrieben. Abgründige Familiendramen ohne Erbarmen oder Erlösung. Mord, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch: die Menschen, um die es geht, haben alle eine unverzeihliche Schuld auf sich geladen und werden deshalb von ihren Familie verstoßen.

Nach solch einem Familiendrama klingt auch die Geschichte von Philippe Claudel. Darin steht eine Frau im Mittelpunkt, die nach 15-jähriger Abwesenheit von der Familie ihrer Schwester wieder aufgenommen wird. Der Grund ihres langen Verstummens ist der schrecklichste, den man sich nur vorstellen kann:

Das Geheimnis aus der Vergangenheit kommt ans Tageslicht, aber anstatt sich - wie sonst im naturalistischen Drama - an die Gurgel zu gehen, schließen sich die Schwestern immer fester in die Arme - und das ist ganz große Wunder in diesem Film. Die menschliche Wärme und die große Liebe, die entstehen kann, nachdem alle Gefühle erstarrt und für tot erklärt wurden.

Philippe Claudel: "Das zentrale Thema des Filmes, sein Rückgrat ist die Wiedergeburt einer Frau. Ich habe alles getan, kamera- und lichttechnisch, um zu zeigen, wie eine Tote unter die Lebenden zurückkehrt. Gleich in der ersten Einstellung sieht man ein graues verschlossenes Gesicht, auf das im Laufe des Filmes immer mehr Licht kommt. Das Licht verändert sich, die statische Kamera fängt an, sich zu bewegen, der Ton, der am Anfang noch mager und autistisch ist, wird immer reicher und vielfältiger."

Die ins Leben zurückgeholte Frau ist nicht zufällig Ärztin. Auch Philippe Claudel wollte ursprünglich einmal Arzt werden. Aber ein Arzt ist machtlos gegenüber dem Tod. Zaubern – Tote unter die Lebenden zurückbringen – kann er nur als Regisseur. Denn der Tod ist das große, bestimmende Thema von Claudel. Nicht nur in seinen Filmen.

Philippe Claudel: "Ich bin 46 und Jahr für Jahr löse ich mich von unnützen Dingen. Ich werfe Ballast ab. Am Ende werden sicher nur die Knochen übrig bleiben. So ist das menschliche Leben. Man wird immer nackter. Und es bleibt nur das Wichtige übrig: Dass man sich in die Arme schließt und gegenseitig hilft gegen diesen dauerhaften Versuch der Menschheit, uns zu zerstören."

"So viele Jahre liebe ich dich" ist ein warmherziger, sehr intimer Film, der viele Spuren des Lebens von Claudel selbst trägt. Gefängnis, Adoption, der Alltag in Lothringen - das alles ist dem Regisseur sehr vertraut. Er selbst hat elf Jahre im Gefängnis unterrichtet, bevor er Literaturprofessor und Schriftsteller wurde. Daher ist es ihm besonders wichtig, alles so getreu wie möglich zu erzählen, bis ins letzte Detail.

Philippe Claudel: "Ich wollte absolut alles kontrollieren: die Bewegungen der Schauspielerinnen, ihre Kleidung, ihre Schuhe - das habe alles ich bestimmt. Auch die Details im Hintergrund: ein Bild, eine Flasche, ich habe alles selbst kontrolliert, selbst die Bücher in der Bibliothek habe ich überprüft und bestimmte Titel aussortiert, weil ich sie nicht haben wollte, obwohl man sie am Ende nicht sieht. Es klingt manisch, aber ich glaube, dass die Intensität eines Filmes durch so etwas entsteht."

Das stimmt. Der Film ist an jeder Ecke liebenswürdig. Voller Wärme und Liebe zur Familie. Aber vielleicht ist das kein Wunder, bei einem Film, der in Lappland, unter dem wohlwollenden Auges des Weihnachtsmanns geschrieben wurde.