Zauberberg auf Amerikanisch

16.02.2009
In Andrea Barretts Roman "Die Luft zum Atmen" ist eine Lungenheilanstalt in den USA Ort des Geschehens. Nach Eintritt des Landes in den Ersten Weltkrieg macht sich eine Atomsphäre des Misstrauens gegenüber Patienten aus Osteuropa breit. Mit starken Parallelen zur Gegenwart zeichnet Barrett ein Psychogramm verirrter Menschen und eine Psychologie der verführbaren Menge.
Der amerikanischen Autorin Andrea Barrett ist ein kleines Kunststück gelungen. Hat sie doch aus einem ehrgeizigen literarischen Vorhaben, so etwas wie einen neuen Zauberberg zu schreiben, einen Roman geschaffen, der in weiten Teilen ein Verschlingbuch geworden ist - spannend, menschenklug und ergreifend. Wir lesen ein Psychogramm verirrter Menschen und eine Psychologie der verführbaren Menge.
Ort und Zeit der Handlung: eine Lungenheilanstalt in den Bergen während des Ersten Weltkriegs. Liegekuren, Bluthusten, Gespräche, Liebeleien, Intrigen. Wir kennen das Szenario. Und doch ist diese Tuberkuloseklinik gänzlich amerikanisiert, ist emanzipiert von Thomas Mann. Und das nicht nur, weil das Sanatorium statt in Davos in den Adirondacks liegt.

Viele der Kranken sind Einwanderer aus Russland und aus Osteuropa. Manche husteten Blut, bevor sie auch nur Fuß fassen konnten in der neuen Heimat. Leo Marburg zum Beispiel, der aus Odessa stammt, einst Chemie studierte, in New York in einer Zuckerfabrik arbeitete und krank wurde. Jetzt ist er in der Heilanstalt, diesem Mikrokosmos menschlichen Miteinanders, und wird zur Projektionsfläche aller möglichen Begierden und Rachsüchte, wird als Täter in einer Tragödie verfolgt, deren gänzlich unschuldiges Opfer er ist.

Dabei beginnt alles ganz harmlos. Ein reicher Fabrikbesitzer gründet aus Langeweile eine Art Mittwochsgesellschaft. Die ersten Male redet nur er: von seiner Leidenschaft für Fossilien, von seiner Zementfabrik. Erst dann kommen auch die anderen zu Wort. Erzählen aus ihren Leben, von dem, was sie wissen, womit sie sich beschäftigen. Sie reden über Apfelfarmen und die Relativitätstheorie, über utopische Gesellschaftsentwürfe und soziale Hilfswerke. Sie lesen, lernen, erinnern sich und schöpfen Hoffnung. Vielleicht gibt es ja doch ein Leben nach ihrer Krankheit. Aus siechen Patienten werden an diesen Nachmittagen lebhafte Redner und Diskutanten.

Als die USA in den Ersten Weltkrieg eingreifen, wird alles anders. Es gedeiht ein unbekömmlicher Patriotismus, und der Fabrikbesitzer wird – auch aus enttäuschter Liebe - zum profunden Eiferer, der alle bespitzeln und beargwöhnen lässt, die aus Russland kommen, aus Deutschland gar. Brahms und Bach dürfen nicht mehr gespielt werden. Sie könnten die Moral unterminieren. Feindliche Agenten gilt es um jeden Preis zu enttarnen. Und Leo Marburg, da ist er sich sicher, muss ein Spion sein – heute würden wir wohl sagen: ein Terrorist.

Weil das Buch auf diese Weise in der Vergangenheit die Gegenwart aufscheinen lässt, klingt so vieles uns auch heute vertraut. Weil in Barretts Lungenheilanstalt als politischer Wahnweg entlarvt wird, was unter George W. Bush in Amerika unter dem Deckmantel der Terroristenbekämpfung geschehen ist. Die "American Protective League", die der Fabrikbesitzer gründet und erfolgreich führt, ist mit einem kleinen Zeit- und einem noch kleinerem Gedankensprung leicht anzusiedeln im Amerika der letzten Jahre.

Der Autorin gelingt es, aus diesen Verschlingungen von Fundamentalismus, Krankheit, Verfolgung, Wissbegier, Liebeswahn und Einsamkeit eine packende Geschichte zu schreiben. Die erzählt wird von einem kollektiven Wir. Den Kranken der Heilanstalt. Jenen, die wohl schon immer dort waren und immer dort bleiben werden.
So hat Barrett ihren Erzähler anonymisiert und ist dennoch nicht in die Falle der Distanz getappt. Dazu ist ihr Menschenblick viel zu barmherzig und zu intelligent.

Rezensiert von Gabriele von Arnim

Andrea Barrett: Die Luft zum Atmen
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Karen Nölle
Dörlemann Verlag 2008
414 Seiten, 23,90 Euro