Zarte Erinnerungen und Wahnsinn

24.10.2013
Die sorgenvolle Liebe zu seiner jüdischen Frau zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs bringt den Japaner Takashima in eine süddeutsche Nervenheilanstalt. Mit der Wahl dieses Schauplatzes erschafft Morio Kita in "In Nacht und Nebel" eine historisch detaillierte Situation um einen verletzlichen Helden und macht durch ihn die Gräuel der NS-Zeit erfahrbar.
Winter 1943/44: In Deutschland herrscht Krieg. Doch davon bekommen die Ärzte und Patienten einer süddeutschen Nervenheilanstalt wenig mit. Die Klinik erinnert ein wenig an das abgeschiedene Sanatorium im "Zauberberg" von Thomas Mann, den der japanische Autor Morio Kita sehr bewunderte. Kitas etwas weltfremdes Klinikpersonal reagiert entsprechend überrascht und entsetzt, als eines Tages SS-Männer auftauchen und all jene Patienten deportieren lassen, die sie für unheilbar halten.

Zeuge der Selektion wird auch der Japaner Takashima, der jedoch als leichterer Fall und sicherlich auch als Bürger einer mit Deutschland verbündeten Macht nicht existentiell bedroht ist. Er wurde ein Jahr zuvor mit Wahnvorstellungen in die Klinik eingeliefert. Unter diesen litt er, seit seine jüdische Frau Anna verhaftet worden war. Takashima war 1939 als Medizinstudent nach Deutschland gekommen. Er verliebte sich in die Tochter seines Zimmerwirts und heiratete sie. Aus ihrer Haft konnte Takashima sie befreien, weil er eine Bescheinigung der japanischen Botschaft vorlegte, der zufolge Anna seit ihrer Hochzeit als Japanerin zu betrachten sei. Doch Anna blieb gefährdet, was ihrem Mann furchtbar zusetzte. In der Klinik, die für Takashima auch ein Gefängnis ist, hängt er seinen zarten Erinnerungen an Anna nach und wartet darauf, dass sie ihn abholen kommt. Als ihm ein japanischer Freund von Annas Tod erzählt, reißt ihn die Krankheit mit sich fort.

Ob Morio Kita bewusst war, welch vertrackte juristische Situation er in seinem 1960 erschienenen und noch im selben Jahr mit dem renommierten Akutagawa-Preis ausgezeichneten Roman "In Nacht und Nebel" entwarf? Durften Juden 1939 wirklich noch Zimmer an Japaner vermieten? Die Vermietung an "arische" Deutsche wurde ihnen im selben Jahr per Gesetz untersagt. Und durften Juden und Japaner nach Kriegsbeginn in Deutschland noch heiraten? Schließlich war es Juden bereits seit 1935 verboten, "Arier" zu heiraten. Japaner aber galten als "Ehrenarier". Antworten sind schwer zu finden, denn leider wurde die Geschichte der Japaner im Deutschen Reich bei uns bislang nur rudimentär erforscht.

Im Bereich der Medizingeschichte aber bewegt sich der studierte Neurologe Morio Kita auf sicherem Gebiet, wie er auch schon in seinem Meisterwerk "Das Haus Nire" gezeigt hat. Mehrfach lässt er den Pathologen Karl Kersenbrock damals übliche Präparatanalysen und auch Therapieverfahren mit dem studierten Mediziner Takashima diskutieren, als es diesem zeitweise besser geht. Darüber hinaus sind Kersenbrock und sein deutsches Ärztekollegium auch charakterlich überzeugend gelungen.

So entwickelt der auch aufgrund seiner geschmeidigen Übersetzung leicht lesbare Roman "In Nacht und Nebel" eine enorme historische und zwischenmenschliche Komplexität. Dass Morio Kita außerdem den Mut hatte, einen verletzlichen japanischen Helden in eine reichsdeutsche Nervenheilanstalt zu schicken und die Nazizeit durch sein Leid erlebbar zu machen, ist ungewöhnlich und macht "In Nacht und Nebel" zu einer der interessantesten Übersetzungen in diesem Herbst.

Besprochen von Katharina Borchardt

Morio Kita: In Nacht und Nebel
Aus dem Japanischen von Otto Putz
Cass-Verlag, Löhne 2013
172 Seiten, 15,95 Euro