Yves Bonnefoy: "Der rote Schal"

Erinnerung als Versuch, die Liebe zu finden

Der rote Schal ist Titel des Textes von Yves Bonnefoy als auch Leitmotiv des autobiographischen Buches.
Der rote Schal ist Titel des Textes von Yves Bonnefoy als auch Leitmotiv des autobiographischen Buches. © imago / stock & people / Hanser Literaturverlage
Von Verena Auffermann  · 13.12.2018
Der inzwischen verstorbene französische Dichter Yves Bonnefoy spürt in seinem einzigen autobiografischen Prosatext seiner inneren Welt nach. "Der rote Schal" ist Augenöffner für jeden, der sich auf die Suche nach sich selbst macht.
Als Yves Bonnefoy 2016 im Alter von 93 Jahren in Paris starb, trauerte Frankreich um einen seiner größten Dichter. Bonnefoy war ein vielseitig gelehrter Literat, der neben den vielen Gedichtbänden und literarischen Essays bedeutende Bücher über Künstler - zum Beispiel über Miró und Giacometti - schrieb. Er war in der Nachfolge von Roland Barthes Mitglied im berühmten Pariser Collège de France und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten.
Gedichte, das war Yves Bonnefoys Überzeugung, können nur ein Fragment aus einem größeren Zusammenhang sein. So ist auch der "Rote Schal", sein einziger autobiographischer Prosa-Text, zu lesen. Ausgangspunkt der Erinnerungsarbeit ist Bonnefoys Gedicht "Der rote Schal".

Die Suche nach dem Bekannten

Es handelt von einem alten Mann, der bei sich "Ordnung schaffen" will, der seine Merkhefte und Notizen der Studienzeit durchblättert und dabei auf die Adresse eines Mannes stößt, den er in seinem Leben nur einmal traf, aber unbedingt wiedertreffen möchte.
Diese Suche versinnbildlicht das Gedächtnistraining des am Surrealismus geschulten Autors Bonnefoy. Er findet den früheren Bekannten im Halbdunkel der Erinnerung wieder, bekleidet mit einem roten Schal um den Hals. Der rote Schal wird zum Leitmotiv des Buches, zum Symbol. Rot ist die starke Farbe der Erinnerung, der Liebe und des Blutes.
So ist diese Erzählung über eine ländliche Herkunft, über Vater und Mutter, keine Rekonstruktion einer kompletten Lebensgeschichte, sondern eine Bewusstseinsbeschreibung, eine Sekundenbeleuchtung einzelner Szenen und Gesten und eine Suche nach der Herkunft der eigenen Emotionalität. Bonnefoy verdeutlicht, dass auch das "tiefe Gedächtnis" nur eine Rekonstruktion der Vergangenheit sein kann.

Entdeckungsreise eines Literaten

In den schweigsamen oder wortlosen Eltern erkennt der Dichter die Wurzel für sein Leben als eines Menschen, der sich den Gebrauch der Wörter zum Lebensinhalt gemacht hat. Der gesamte, zwischen Reflexion und Erinnerungsbildern hin und her wandernde Text liest sich wie eine versteckte Suche nach der Liebe. Denn was ist Erinnerungsarbeit anderes, schreibt Bonnefoy, als der Versuch, die Liebe zu finden.
"Der rote Schal" ist eine wunderbare Entdeckungsreise eines alt gewordenen, weisen Literaten auf der Suche nach allem, was er verdrängt hat, was "verkapselt, verschlossen ist". "Der rote Schal" ist eine literarisch und psychologisch komplexe Wegbeschreibung, Augenöffner für jeden, der sich auf die Suche nach sich selbst macht.

Yves Bonnefoy: "Der rote Schal"
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz
Edition Akzente/Carl Hanser Verlag, München 2018
213 Seiten, 24 Euro

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