Yom Kippur statt Weihnachten

05.02.2010
Als der Kindergarten Martha Goldberg in Bremen vor zwölf Jahren gegründet wurde, meldeten sich gerade mal sechs Kinder an. Inzwischen werden dort rund 30 Sprösslinge betreut. Sie kommen aus der ehemaligen Sowjetunion, Spanien oder Nigeria - auch nicht-jüdische Familien zeigen Interesse.
Ein kalter, klarer Vormittag in Bremen. Auf dem Spielplatz hinter der Synagoge, unter hohen Bäumen, vergnügen sich rund 30 Kindergarten-Kinder. Manche der Kleineren bewegen sich noch ein wenig vorsichtig am Rand, einige Größere sind in Gespräche vertieft. Drei Erzieherinnen haben die Situation im Blick, eingreifen müssen sie kaum.

"Ich hab das gefunden. Ein kleines Stückchen Lego."
"Ich mache morgen Sport."
"Heute ist eine Feier, Shabbat."
"Was macht ihr an Shabbat?
Wir trinken was Schönes, wir trinken diese Weintrauben."
"Bei Shabbat muss man Brot essen."
"Dann essen wir Chips, Schukar … Nicht Chips, er lügt dich nur an."

Seit zwölf Jahren gibt es den Jüdischen Kindergarten Martha Goldberg, angefangen hat man mit sechs Kindern. Benannt ist der Kindergarten nach einer sozial engagierten Bremerin, die zusammen mit ihrem Mann und drei weiteren jüdischen Menschen bei der Reichspogromnacht in der Hansestadt ermordet wurde. Der Kindergarten wurde gegründet, als viele junge Familien aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland übersiedelten, erzählt Elvira Noa, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde.

"Die waren natürlich, und sind auch noch, sehr stark geprägt von dieser generationenlangen, 70 Jahre währenden antijüdischen, antireligiösen, atheistischen Haltung … "

… und hatten, auch um Diskriminierung zu entgehen, oft nur eine geringe Bindung an die Religion.

"Die Kinder lernen natürlich schnell, und wir hoffen eben, dass auch Eltern, das geschieht auch, da und dort, mit den Kindern, dann in die Tradition hineinwachsen."

"Bildung" gehört selbstverständlich dazu für die Mädchen und Jungen im Kindergarten Martha Goldberg - das war schon so, als in städtischen und christlichen Kindergärten "Lernen vor der Schule" noch verpönt war - nach den miserablen Pisa-Schulleistungstests ändert sich das gerade.

"Bildung ist sehr wichtig bei uns, und das ist auch eine traditionelle Haltung der jüdischen Familien aus der ehemaligen Sowjetunion, wir haben ein sehr gutes Vorschulprogramm."

Die Älteren, die Fünfjährigen, lernen spielerisch ein wenig Lesen und Rechnen. Was in vielen Ländern der Welt üblich ist, kann in Deutschland allerdings zum Problem werden. An den Grundschulen sieht man es nicht gerne, wenn Kinder sich in der ersten Klasse langweilen, weil sie den Stoff schon kennen. Der Martha-Goldberg-Kindergarten und die benachbarte Grundschule haben ihre Konzepte mittlerweile stärker aufeinander abgestimmt.

Erzieherin Inga Gieler erzählt, was in ihrem Kindergarten sonst noch anders ist:

"Unser Schwerpunkt, Judentum, das Essen, was wir singen, dass wir praktisch dreisprachig sind, dass wir auf Hebräisch, Deutsch und Russisch singen, das ist besonders."

"Wo ist mein Schaf?"
"Dein Schaf? Du hast es in der Hand."
"Mein Schaf … "

Marla sucht ihren Stuhl mit dem Schafbild, manche Kinder suchen eine Zeit lang nach den richtigen Worten auf Deutsch - zu Hause sprechen sie Spanisch, Portugiesisch oder Ibo, eine Sprache aus Nigeria.

Die Kinder, die sich eifrig melden, weil sie diesmal Shabbat-Mama oder Shabbat-Papa sein wollen, kommen nur zur Hälfte aus einer jüdischen Familie, erklärt Elvira Noa. Jüdische Kinder haben in dem einzigen jüdischen Kindergarten der Stadt Vorrang, aber:

"Wir sind offen für alle. Wir machen einen Tag der offenen Tür, dann erklären wir ihnen, dass wir hier einen anderen Rhythmus haben, dass wir kein Weihnachten, kein Ostern feiern, und wenn die dann einverstanden sind, dann nehmen wir sie auch auf."

Stattdessen feiert man Yom Kippur, das Versöhnungsfest, Simchat Thora als Freudenfest, dass es die Thora gibt, und das Laubhüttenfest, bei dem die Kinder erfahren, dass viele Menschen unter ärmlichen Bedingungen leben müssen - früher wie heute.

50 Kinder besuchen mittlerweile die Kindertagesstätte - es gibt zwei Kindergarten- und eine Hortgruppe. Einige alteingesessene nicht-jüdische Familien schätzen das Angebot, in die Hortgruppe gehen auch zwei muslimische Kinder. Vor allem aber schicken nicht-jüdische Familien aus der ehemaligen Sowjetunion ihre Söhne und Töchter in den Kindergarten, weil hier Russisch verstanden und manchmal gesungen wird. Gesprochen wird allerdings Deutsch. Der Martha-Goldberg-Kindergarten sieht eine wichtige Aufgabe darin, die Integration nicht-deutschsprachiger Kinder besonders zu fördern.

"Ich glaube, ihr seid fertig mit dem Essen, dann können sich Shabbat-Mama und Shabbat-Papa Lieder wünschen. Larissa, was möchtest du mit uns gerne singen?"

"Shabbat Shalom."

Der Jüdische Kindergarten hat noch etwas, was andere Bremer Kindertagesstätten nicht haben: Vor dem Gemeindezentrum parkt immer, gut sichtbar, ein Polizeiauto, im Eingangsbereich sitzt eine Polizistin oder ein Polizist und blickt auf den Überwachungsmonitor. Erzieherin Lena Tulmann:

"Die Kinder sind schon daran gewöhnt, dass die da stehen, und die begrüßen schon jeden Morgen unsere Polizisten, die gehören irgendwie jetzt dazu zu unserem Haus."