Wutbauern in der Sinnkrise

Moderation: Matthias Hanselmann · 29.11.2011
Der vermutlich letzte Castortransport hat das Zwischenlager in Gorleben erreicht - doch was wird jetzt aus der Protestbewegung, die dort im Laufe der Jahre entstanden ist? Ein Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Klaus Schönberger.
Matthias Hanselmann: Gestern Abend hat der vermutlich letzte Castortransport das Zwischenlager Gorleben erreicht, nachdem – man muss sagen – Tausende von Demonstranten von den Gleisen getragen werden mussten oder, die sich einbetoniert hatten, befreit werden mussten. Damit verliert jetzt auch eine jahrzehntelange Kultur von Widerstand und Protest ihren Gegenstand.

Was passiert jetzt? Geraten die Wutbauern und Wutbürger aus dem Wendland und die Masse derer, die jeweils zum Tag X angereist sind, in eine Identitätskrise? Gelingt es Gorleben, sich jenseits der Proteste neu zu erfinden oder wird man zwangsläufig zu einer Art, sagen wir Museum des Widerstands? Wir sprechen mit dem Kulturwissenschaftler und Protestforscher Klaus Schönberger. Guten Tag, Herr Schönberger!

Klaus Schönberger: Guten Tag!

Hanselmann: Nach dem vermutlichen Ende der Castortransporte, erst mal: Welche Rolle hat denn der jahrzehntelange Widerstand für den Ort und die Region gespielt?

Schönberger: Na ja, das kann man ja in der Allgemeinheit nicht sagen, weil natürlich auch das Wendland an sich eine differenzierte soziale Entität gewesen ist, das heißt, ich würde mir nicht getrauen für die gesamte Region oder für den gesamten zu sprechen, aber für bestimmte Aspekte und Darstellungen der Wahrnehmung, der medialen Wahrnehmung, war natürlich das gallische Dorf an der Grenze sozusagen, diejenige Fantasie, die vorgeherrscht hat.

Und da müsste man sich schon noch mal vor Ort genauer angucken, wer daran tatsächlich beteiligt war und wer nicht. Und was klar ist, die Medien verlieren zunächst mal ihr Bild vom Wendland. Was dann dort tatsächlich stattfindet, das werden wir sehen, da haben nämlich schon immer sehr unterschiedliche Dinge stattgefunden, und es gab auch unterschiedliche Positionen.

Aber was natürlich schon richtig ist, was Sie sagen, ist, man verliert eine Projektionsfläche und man verliert einen Ort, man verliert sozusagen das Bild vom rebellischen Wendland unter Umständen. Das werden wir sehen natürlich auch, inwieweit die Entwicklung jetzt tatsächlich in diese Richtung geht, die Sie beschrieben haben, ob es nicht an einer anderen Stelle dann doch wieder Entscheidungen gibt, die dann auf ähnliche Kulturen treffen werden. Wir werden sehen.

E ist vielleicht auch viel zu einfach zu sagen, es gibt diese Kultur des Wendlands – Gorleben war für die gesamte Antiatombewegung das, sozusagen der Ort, an dem sich die Aktivitäten gebündelt haben und an dem dann tatsächlich eine veritable und sichtbare Widerstandstätigkeit aufgetreten ist. Insofern ist dann natürlich die Frage, welchen Weg die Anti-AKW-Bewegung insgesamt gehen wird. Wird sie sozusagen an einem Ort gebunden sein oder wird sie sich in einer anderen Weise organisieren müssen, wie sich das sowieso schon abzeichnet insgesamt für die Protestbewegung? Ich weiß es nicht, ich kann da auch nur spekulieren und Vermutungen anstellen, und wir werden sehen.

Hanselmann: Ich gebe Ihnen ja recht, dass man differenzieren muss, natürlich haben die Bauern im Wendland ein ganz anderes Interesse als der Großgrundbesitzer, unter dessen Grundstück vielleicht teilweise die Castoren vor sich hin strahlen. Aber natürlich – und das haben Sie ja auch gesagt – war Gorleben ein Fokus für eine ganz bestimmte Bewegung, im weitesten Sinne für die deutsche Öko- und Anti-AKW-Bewegung. Der ist jetzt weg – glauben Sie, es entsteht andernorts ein neuer oder ist die Sache damit beendet?

Schönberger: Meinen Sie jetzt im Bezug auf die Anti-AKW-Bewegung oder generell auf die Protestbewegung bezogen?

Hanselmann: Sagen wir mal diese Art altmodischen Protest der Anti-AKW-Bewegung und der Ökobewegung.

Schönberger: Also der hatte sich ja auch schon verändert, also der Protest in Gorleben, und auch die Anti-AKW-Bewegung hatte sich verändert. Es ist ja nicht so, dass das immer in ähnlicher Weise passiert ist, wir haben auch sehr Erstaunliches erlebt in den letzten zwei, drei Jahren, als sich dann sozusagen die Anti-AKW-Bewegung auch ein Stück weit differenziert hat. Es waren nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen, es gab sehr unterschiedliche Gruppierungen, es gab Duldungen von ganz verschiedenen Praktiken des Widerstands, das war vorher sehr umstritten. Das Ganze hat auch so was Projektförmiges bekommen an verschiedenen Stellen, natürlich immer im Bezug auf diesen einen Kulminationspunkt, auf dieses Ereignis, aber die Zusammensetzung hatte sich schon geändert, der Gruppen beziehungsweise ihr Verhältnis zueinander. Und das ist etwas, was eine allgemeine Entwicklung ist und wo die Anti-AKW-Bewegung in der allgemeinen Entwicklung sich auch weiterentwickelt. Und die andere Frage ist natürlich, welche Bedeutung hat ein konkreter Ort für so eine Form, für so eine Bewegung – und das ist nicht zu unterschätzen.

Hanselmann: Wir hatten ja auch schon andere Orte.

Schönberger: Sie wird sich neu erfinden müssen, wenn es nicht mehr diesen einen Ort gibt, und vor allem natürlich verändern sich die Bedingungen, wenn es wirklich klar wäre – was ich nicht weiß, ob es wirklich klar ist ... Es wird behauptet, dass Schluss ist mit den AKW und dass es jetzt wirklich um die Frage der Abwicklung geht. Das ist natürlich eine ganz andere Situation als die Behauptung, man braucht die Atomtechnologie und so weiter. Das sind unterschiedliche Ausgangsbedingungen. Es wird einen anderen Ort geben, der sich auch zur Wehr setzen wird, weil er dieses Ding nicht vor seiner Haustüre haben möchte, aber das ist ein anderer Streit.

Hanselmann: Ich will noch mal auf den Punkt Ortsbezogenheit zurückkommen, den Sie angesprochen haben: Kann man die Situation mit der Ruppiner Heide vergleichen, wo erfolgreich gegen das Bombodrom jahrelang protestiert wurde, oder mit den gelungenen Protesten damals um das AKW Wyhl in den 70er-Jahren, das auch nicht gebaut werden durfte?

Schönberger: Die mediale Projektionsfläche wird verschwinden, es wird sicher auch vom Kalender der Protestbewegungen verschwinden, wenn es denn ... wie gesagt, ich will das erst mal sehen auch noch, dass das wirklich sich so entwickelt, da würde ich immer noch ein kleines Fragezeichen dahintersetzen.

Hanselmann: Es sind ja auch immerhin noch 113 Castoren dort in der Erde, die eben vor sich hin strahlen werden, das ist auch noch Grund genug eigentlich, den Protest aufrechtzuerhalten.

Schönberger: Ja klar, wie gesagt - auch ob diese Antiatompolitik so fortgesetzt wird oder nicht und was es dann wiederum für andere Ereignisse gibt, wir werden sehen. Also ich bin da noch etwas zurückhaltend. Bevor wir verbreiten, das ist das Ende der Bewegung, will ich das erst mal tatsächlich auch in der entsprechenden Weise politisch abgesichert sehen.

Hanselmann: Gut, dann lassen Sie uns bei diesem Punkt bleiben, der Formen des Protestes. Sie haben gesagt, es haben sich neue Formen des Protestes entwickelt, die sind zum Teil auch im Wendland schon ausprobiert worden, ganz medial gerade vermarktet wird die Occupy-Bewegung. Kann man sagen, dass die Gorleben-Bewegung und die Wendland-Bewegung im Vergleich zu der Occupy-Bewegung eine altmodische ist, sind es zwei völlig verschiedene Arten von Protest?

Schönberger: Sagen wir mal so, das, was wir jetzt gerade besprechen, ist eine bestimmte Art Identitätsprojekt auch gewesen für eine bestimmte Darstellung – der Selbstdarstellung des Protestes im Bezug auf den rebellischen Ort, und es sind viele Leute dorthin gezogen und haben dann eine Widerstandskultur mit aufgebaut, und das ist eine Art auch von Lebensstil gewesen, wie das auf die 80er-Jahre zurück und die 70er-Jahre verweist. Da waren das die üblichen Verdächtigen, und es ging insofern um einen Ausstieg aus der bürgerlichen Gesellschaft, um es mal flapsig zu sagen.

Und jetzt ist es etwas differenzierter, da sind die Leute gar nicht mehr gegen die gesamten Verhältnisse, sondern sie protestieren punktueller und damit werden die Zusammensetzungen auch heterogener. Und das ist nicht so, dass man sozusagen sein ganzes Leben da hineinsetzt, seinen ganzen Alltag danach organisiert, sondern da ist ein Anliegen, das wird verfolgt, und dann schaut man sich an, wie weit verfolgt man das, und zieht sich wieder zurück und so weiter. Damit ist das nicht mehr so umfassend, aber es ist auch nicht mehr so berechenbar. Und das ist das, was die Schwierigkeiten ausmacht für Prognosen von Protest.

Deshalb kann auch so was passieren wie die "Occupy Wall Street"-Bewegung, dass das auf einmal überall auftaucht, weil es sehr, sehr unterschiedliche Gruppen sind, und was auch noch ein wichtiges Anliegen ist, und das im Unterschied zu dem Gorleben-Protest, weil es da eine ganz klare Forderung gibt und ein ganz klares Ziel. Bei den anderen Formen von Protestbewegungen, die sich gegen die kapitalistischen Verhältnisse richten, ist es sehr viel nebulöser, unklarer, es gibt auch nicht sozusagen die einheitliche Position, während in Gorleben wurde natürlich um ein bestimmtes Anliegen gerungen: keine Castoren, keine Transporte und auch kein Endlager und Auflösung des Zwischenlagers. Da gibt es klar umrissene Forderungen, nur die Formen haben sich ein Stück weit schon dieser Projektförmigkeit ... , entlang derer entwickelt, und jetzt in diesen anderen Bewegungen wird es unverbindlicher, unklarer, und das wurde ja auch immer kritisiert in den Medien, ich finde zu Unrecht.

Das Problem ist, dass sich das Politische neu organisiert oder neu konstituiert, dass unsere Vorstellung von dem Politischen sich wahrscheinlich verändern wird und dass diese neuen Praktiken und diese neuen Formen durchaus sein könnten eine adäquate Antwort auf die veränderten Verhältnisse insgesamt. Und wie das dann ausfallen wird, das wird sich konkret zeigen, das kann man auch nicht in einem Forschungskontext klären, sondern das passiert in der Praxis und in der Auseinandersetzung vor Ort.

Hanselmann: Einschätzungen zu Formen des Protests nach dem vermutlich letzten Castortransport waren das vom Kulturwissenschaftler und Protestforscher Klaus Schönberger. Danke schön, Herr Schönberger, guten Tag!

Schönberger: Bitte schön, ja, guten Tag!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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