Wurzel fassen im Erdreich des Schmerzes

Vorgestellt von Gregor Ziolkowski |
Von den Überlebenden einer metaphorischen Pest sagt Albert Camus in seinem großen Roman, sie scheiterten "zwischen Abgrund und Gipfel, schwankten mehr als sie lebten, richtungslosen Tagen und unfruchtbaren Erinnerungen preisgegeben, irrenden Schatten gleich, und hätten nur Kraft schöpfen können, wenn sie eingewilligt hätten, im Erdreich ihres Schmerzes Wurzel zu fassen".
Fred Wanders episodischer Roman "Der siebente Brunnen" ist vielleicht in erster Linie genau das: ein Versuch, "im Erdreich des Schmerzes Wurzel zu fassen". Dieses "Erdreich des Schmerzes", das ist für den Wiener Juden Wander die Erfahrung mehrerer Konzentrationslager, es ist die Erfahrung einer Welt der Grausamkeiten und Leiden, der Auszehrungen und der Tode. In der Unumgänglichkeit, sich diesen Erfahrungen zu stellen, um nicht nur das tatsächlich Geschehene, sondern auch die Erinnerungen daran zu überleben, liegt wohl jenes "Wurzel fassen", von dem Camus sprach.

Und so müsste man Fred Wanders Text radikal nennen. Nicht so sehr die äußeren – die politischen oder historischen – Bezüge geben diesem Roman seine Kraft, sondern seine Verwurzelung im Inneren des Geschehens. Die Binnenperspektive, bei der der erstaunte, dabei ungemein ruhige Blick des Erzählers vor allem Personen und ihre Schicksale in den Blick nimmt, versetzt den Leser in ein Geschehen, das schwer zu ertragen ist.

Es ist die Perspektive der Opfer, die jeden Moment ihres Daseins mit der unvermeidlichen Erkenntnis zubringen, dass sie vernichtet werden sollen. In dieser Welt, in diesem existentiellen Bewusstsein entstehen Wanders Porträts und Situationsschilderungen. Sie vermitteln eine bedrückende Nähe und sind dabei von einem atemberaubenden Willen zu sprachlicher Schönheit getragen.

Diese Spannung, bei der dem Höchstmaß an Grausamkeit die Macht eines kulturellen Widerstands entgegengestellt wird, macht Fred Wanders Roman zu einem der Klassiker der Holocaust-Literatur.

Fred Wander: Der siebente Brunnen
Roman. Mit einem Nachwort von Ruth Klüger.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005,
166 Seiten, 19,00 Euro.