Wunderwelt der Neurologie

14.07.2008
Für die Zusammenhänge zwischen Musik und Intelligenz interessiert sich in letzter Zeit sowohl die Bildungspolitik als auch die Hirnforschung. Im vergangenen Jahr schlug der Neurophysiologe Gerhard Neuweiler die Annahme einer "motorischen Intelligenz" vor. Nun präsentierte Oliver Sacks in "Der einarmige Pianist" verschiedene Geschichten aus der Wunderwelt der Neurologie.
Für die Zusammenhänge zwischen Musik und Intelligenz interessiert sich in letzter Zeit sowohl die Bildungspolitik als auch die Hirnforschung: An der Frage, ob Mozart schlauer macht, arbeiten ganze Expertengruppen. Erst im letzten Jahr schlug der Neurophysiologe Gerhard Neuweiler die Annahme einer "motorischen Intelligenz" vor, die den Menschen als homo pianisticus vom Menschenaffen unterscheidet. Jetzt legt Oliver Sacks, der wahrscheinlich weltberühmteste Lieferant von Geschichten aus der Wunderwelt der Neurologie, eine Fallsammlung zum Thema "Musik und Hirn" vor: "Der einarmige Pianist".

Reichlich geschichtengesättigt ist dieser Report aus der musikalisch-neurologischen Praxis. Oliver Sacks kommt aus einem musischen Elternhaus, ist offenbar ein guter Klavierspieler und Musikhörer. Für die Rätsel um Mensch, Musik und Gehirn interessiert er sich schon so lange, dass im Laufe der Jahre eine kaum überschaubare Sammlung von Fundstücken zusammengekommen ist. Sacks ist der Meister des Fallbeispiels, und wenn man seiner neuen Kollektion des Schönen und Schrecklichen, des Wundersamen und Betrüblichen aus den Tiefen des Oberstübchens etwas vorwerfen könnte, dann höchstens die Überfülle des Materials, das hier weitgehend für sich sprechen muss. Vom Ohrwurm (den Sacks plausibel zum "Hirnwurm" umtauft) zu Amusie und Hochbegabung, zu Aphasie und Alzheimer, zu Synästhesie und Musiker-Dystonien, von den Hörnerven zur Hirnmusik geht es in neunundzwanzig Kapiteln die Temporallappen und Basalganglien auf und ab, dass es einem mitunter schwindlig werden kann.

"’Oh, Scheiße, ich bin tot’", sagt, gleich in der ersten Abteilung, "Plötzliche Musikophilie", ein Mann namens Tony Cicoria zu sich selbst, als er beim Telefonieren an einem Münzfernsprecher vom Blitz getroffen wird. Tony ist nicht tot, aber er kann später von einer klassischen Nahtoderfahrung berichten. Ein paar Tage, nachdem er seine Arbeit als Chirurg wieder aufgenommen hat, geschieht etwas Merkwürdiges: es überkommt ihn ein unwiderstehliches Verlangen nach Chopin.
"Im dritten Monat nach dem Blitzschlag", schreibt Dr. Sacks, "war Cicoria – der einst so unbeschwerte, freundliche Familienmensch, dem Musik fast gleichgültig gewesen war – von Musik beseelt, ja besessen, und hatte kaum noch Zeit für irgendetwas anderes. Er begann zu glauben, er sei aus besonderem Grund ‚gerettet’ worden." - Klavierspielen, Komponieren und Konzertbesuche sind seitdem Dr. Cicorias Lebensinhalt; inzwischen ist er geschieden - ob seine plötzliche Musikophilie der Grund war, erfahren wir nicht. Zweifellos jedenfalls ist die Verbindung zwischen dem Blitzeinschlag und dem Beginn der Musikalität.

Überraschende Ausbrüche von musikalischer Befähigung und Begeisterung sind auch nach Schlaganfällen beobachtet worden. Wir können nur ahnen, was da zwischen Kortex und Temporallappen vor sich geht, sicher ist nur, dass bei der Reorganisation des Gehirns nach heftigen Attacken auch Musik freigesetzt werden kann. Das muss nichts Schönes sein. Dass im Kopf Musik spielt, die man lieber nicht hören möchte, hat jeder schon erlebt. Für manche sind das jahrelange Qualen. In anderen Fällen lösen die falschen Töne krampfartige Zustände oder epileptische Anfälle aus. Einer kann keine tiefen Blechblasinstrumente ertragen, ein anderer keine Meyerbeer- oder Wagnermusik; der Mann, von dem Sacks berichtet, war, Ironie des Schicksals, Musikkritiker.

Eine kleine Hirnmusik: Sacks berichtet ausführlich von musikalischen Imaginationen aller Art: Wer Partituren lesen kann, "hört" die Musik. Pianisten können "im Geiste" üben, und manchmal effektiver als am Klavier. Wer ein Stück oft gehört hat, kann sich die Musik im Kopf vorstellen. Das kennt man. Sacks aber berichtet von mehreren Fällen, in denen Menschen sicher waren, sie hätten diese Kopfmusik tatsächlich vor Ohren gehabt, und als sie den Plattenspieler abstellen wollten, da war er gar nicht eingeschaltet gewesen.

Hat "Musikalität" neurologische Voraussetzungen? – Eine gute Frage, die der Autor allerdings irgendwie aus den Augen verliert. Es gibt einfach zu viele gute Geschichten zu erzählen, wie die vom einarmigen Pianisten, dem unglücklichen Paul Wittgenstein, der seinen rechten Arm im Ersten Weltkrieg verloren hatte und sich dann bei den Größen seiner Zeit Konzerte für die linke Hand schreiben ließ:

Unser Gehirn, lernt man, ist ein manchmal widerspenstiges, meistens wunderbares Instrument. Sacks führt, wenn auch nicht auf geraden Wegen, in ein faszinierendes Gebiet: Es muss in unseren Köpfen so etwas wie eine hochdifferenzierte musikalische Parallelwelt geben. Nicht nur, wer Klavier oder Geige übt, verändert seine "kortikalen Kartierungen" im Hirn - je fleißiger, desto nachhaltiger. Schon die Aufmerksamkeit, die sich auf einen Laut richtet, hat einen nachweisbaren Effekt. Das Potenzial unseres Denkinstruments scheint unerschöpflich. In einem Pflegeheim sitzt ein Mann mit stark vermindeter Intelligenz, aber er weiß zweitausend Opern auswendig. Che Guevara dagegen soll vollkommen amusisch gewesen sein und tanzte Mambo, wenn die Kapelle Tango spielte. Bei manchem großen Rhythmiker dagegen scheint das Tourette-Syndrom, das Auftreten von Ticks, eine Rolle zu spielen.

Das alles ist erstaunlich. So sehr, dass man, den Kopf voller Sacks-Geschichten, auf die Idee kommen könnte, Musik sei überhaupt eine interessante psychische Krankheit. Aber das ist natürlich Unsinn.

Oliver Sack: Der einarmige Pianist. Über Musik und Gehirn.
Aus dem Englischen von Hainer Kober, Rowohlt Verlag / Reinbek 2008,
398 Seiten, 19,90 Euro