Wunderbare Übertreibungskunst

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 25.08.2006
Weltberühmt wurde Mark Twain nicht etwa mit den Büchern von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, sondern mit seinen Reiseberichten über Europa. Diese Reportagen im Wechselspiel zwischen Ernst und Ironie trägt der Schauspieler Rufus Beck jetzt in einem Hörbuch vor. Der Jongleur mit vielen Stimmen hat Twains Texte voller Mehrdeutigkeiten erstaunlich souverän bewältigt.
"Ich wollte mit einer Klettergesellschaft auf dem Gipfel des Montblanc stehen, nur um sagen zu können, dass ich oben gewesen sei.... Aber zunächst erkundigte ich mich, ob irgendeine Gefahr bestehe. Nein, sagte (der Fernrohrwärter), nicht mit dem Fernrohr, er habe schon zahlreiche Gesellschaften zum Gipfel gebracht, und nicht ein einziger sei dabei umgekommen."

Die Satire beherrscht Mark Twain meisterhaft. Wenn er seine Landsleute dabei beobachtet, wie sie in mäßigem Trab Europa durcheilen, stets auf der Suche nach dem exklusiven Erlebnis, um zu Hause damit aufwarten zu können, ist ihm keine Feder spitz genug.

Ob bei den Dreitausendern in der Schweiz, denen man am liebsten in respektvollen Abstand, nämlich von unten, begegnet oder vor den Bildern der Uffizien, die allerlei Fragen aufwerfen, Mark Twain nimmt die Reiselust umso genüsslicher aufs Korn, je mehr er sich von allem, was er sieht, beeindrucken und ergreifen lässt.

Ein schönes Wechselspiel zwischen Ernst und Ironie, Anschauung und Reflexion, das Rufus Beck, ein Jongleur mit vielen Stimmen, erstaunlich souverän bewältigt. Er geht jeder Lehrhaftigkeit gekonnt aus dem Weg, nur selten überkommt ihn ein ironischer Ton, der bekanntlich der Feind allen Witzes ist. Mit Lakonie geht er die Passagen an, die mehr meinen als gesagt wird, Twains boshaften Humor gegenüber jeder Art von Doppelmoral.

"Man tritt ein, und dort darf man an einer Wand ohne sichtbehindernde Falten oder Feigenblätter das obszönste Bild betrachten, das die Welt besitzt, Tizians Venus, nicht etwa weil sie nackt ist und ausgestreckt auf einem Bett liegt, nein, es handelt sich um die Haltung des einen Armes und der einen Hand. Wagte ich es, diese Haltung zu beschreiben, würde sich ein schönes Geschrei erheben, aber da liegt sie, diese Venus, und jeder, der will, kann sich an ihr weiden, und sie hat en Recht, dort zu liegen, denn die Malerei hat ihre Privilegien."

So anregend ihm Natur- und Kunstschönes auf seiner Reise auch erschienen, das Essen in Europa trifft nicht auf seine Begeisterung. Mark Twain empfiehlt seinen amerikanischen Freunden, vor Antritt der Reise amerikanische Speisekarten auswendig zu lernen, als Trost gegen das entmutigende Angebot europäischer Hotelküchen. Hier zieht Rufus Beck alle Register. Er liest die Liste mit den heimatlichen Gerichten so ehrfürchtig und atemlos, als trüge er ein Gebet vor, nach und nach steigert er sich in einen Zustand der hellsten Verzückung wie ein Gurujünger beim Sprechen seines Mantras.

"Radieschen, Bratäpfel mit Sahne, gebackene Austern, gedünstete Austern, Frösche, ... Steak,..... Maisbrei, gekochte Zwiebeln, weiße Rüben, Kürbis, Spargel, Butterbohnen, Süßkartoffeln, grüner Salat, grüne Bohnen, Kartoffelbrei, pikante Soße, Kartoffeln im Schlafrock, neue Kartoffeln ohne Schale, Frühkartoffeln in der Asche geröstet, heiß serviert... Pfirsichtorte, Kürbispastete, Stachelbeeren, die nicht ausgeteilt werden, als seien sie Edelsteine, sondern auf etwas freigebigere Weise, Eiswasser , nicht in dem wirkungslosen Becher zubereitet, sondern in einem ehrlichen tüchtigen Kühlschrank."

Mark Twain, der schon zu Lebzeiten sehr populär war, gilt nicht nur als großer Satiriker, er ist mit seiner wunderbaren Übertreibungskunst ein Vorbild für viele, die nach ihm kamen.

"Ausländern schmeckt unser Essen wahrscheinlich eben so wenig wie uns ihres....Ich könnte meinen Speisezettel bis zur Erschöpfung immer weiter verbessern, und doch würde der Schotte immer noch sagen: Wo ist der im Schafsmagen geschmorte Fleischpudding, und der Fidschi-Insulaner wird seufzen und fragen: Wo ist mein Missionar?"

Nicht seine Figuren Tom Sawyer und Huckleberry Finn machten zunächst Twain weltberühmt, es waren seine Reiseberichte über Europa. Darin amüsierte immer schon sein Aufsatz über "die schreckliche deutsche Sprache", die er übrigens hervorragend sprach und schrieb. Gewohnt scharfzüngig hangelt er sich dort durch die Fußangeln des deutschen Idioms, zusammengesetzte Wörter, Parenthesen, das Warten auf das Verb am Ende des Satzes und die Erfahrung, dass jede Regel mehr Ausnahmen als Beispiele kennt.

""Wenn wir in unserer eigenen aufgeklärten Sprache von unserem good friend oder unseren good friends sprechen, bleiben wir in dieser einen Form und es gibt deswegen keinen Ärger. Im Deutschen jedoch ist das anders. Wenn einem Deutschen ein Adjektiv in die Finger fällt, dekliniert und dekliniert und dekliniert er es, bis aller gesunde Menschenverstand herausdekliniert ist... Er sagt zum Beispiel, mein guter Freund, meiner guten Freundes, meines guten Freundes, meinen guten Freunden."

Und so weiter und so fort: Zum Trost für jeden Ausländer, der Deutsch lernt, kommt er, und es seufzt zutiefst aus dem Lautsprecher, zu dem lapidaren Schluss.

"Vielleicht ist es leichter, in Deutschland ohne Freunde auszukommen, als sich all diese Mühe mit ihnen zu machen."

Mark Twain: Bummel durch Europa. Schweiz, Italien; Die schreckliche deutsche Sprache.
Gelesen von Rufus Beck
Aus dem Amerikanischen von Gustav Adolf Himmel
Hörverlag 2006
2 CDs, 166 Minuten, 19,95 Euro