Würdelos im Spätkapitalismus

30.09.2013
Soziale Ungerechtigkeit halten viele heute für gottgegeben. Genau dagegen lehnt sich Ilija Trojanow in seiner Streitschrift "Der überflüssige Mensch" auf. Sein Aufruf zu mehr Empathie ist faktenreich begründet und liefert gut recherchierte Beispiele beängstigender Entwicklungen.
Vor wenigen Tagen hat eine große deutsche Buchhandelskette bekannt gegeben, dass sie in einer ihrer Filialen angestellte Mitarbeiterinnen zum kommenden Jahr entlassen und durch sogenannte "Dienstleister" ersetzen wird - ein gängiges Phänomen in einem profitorientierten Wirtschaftsunternehmen.

"Weltweit machen Kernbelegschaften nur noch 20 Prozent aller Arbeitskräfte aus", weiß auch Ilija Trojanow. Zu Beginn dieses Jahres hielt der Autor und Übersetzer in Graz eine Vorlesung. Der Titel, unter dem sie nun in Buchform vorliegt: "Der überflüssige Mensch".

Trojanow gehört zu den Autoren der jüngeren Generation wie Juli Zeh oder Ingo Schulze, die empört immer wieder auch politisch Stellung beziehen. Und so wundert es nicht, dass sein Essay zur verschwindenden Würde des Menschen im Spätkapitalismus eine wütende Streitschrift geworden ist.

Trojanows Thesen sind nicht neu: "Das Sein ist ersetzt worden durch das Konsumieren", heißt es da. Die Gesetze des Marktes schränkten demokratische Freiheitsrechte ein, ökonomisch Mächtige steuerten gesellschaftliche Prozesse so, dass ihre Interessen geschützt, die aller anderen jedoch missachtet würden. Ob europäisches Prekariat, Langzeitarbeitslose in Deutschland oder Kleinbauern in Indien – unter ökonomischen Gesichtspunkten würde ein hohe Anzahl von Menschen schlichtweg überflüssig. "Die Überflüssigen sind Flaschen ohne Pfand, sie werden weggeworfen."

Allegorie von den Überflüssigen im Raumschiff Erde
Um das zu illustrieren greift Trojanow auf die Geschichte des französischen Schiffes La Méduse zurück, das 1816 vor Afrika auf eine Sandbank auflief. Aus Mangel an Rettungsbooten wurden zahlreiche Passagiere auf ein seeuntüchtiges Floß gezwungen. Mit Nahrungsmitteln nur unzureichend ausgestattet, wurden sie ihrem Schicksal überlassen. Die Schwächsten der Schwachen warf man erst über Bord. Dann, nachdem die kargen Vorräte aufgebraucht waren, wurden sie von den Stärkeren gegessen.

Trojanow dient diese historische Begebenheit als Allegorie – wenn auch nicht ganz stimmig: Die "Überflüssigen" werden hier als "Nahrungsmittel" gebraucht, sind also nicht überflüssig, sondern existentiell für das Fortbestehen der Schicksalsgemeinschaft. Aber abgesehen davon: Trojanow wirft die Frage auf, wer heute im "Raumschiff Erde", einem System wachsender Bevölkerung und rasant fortschreitender Automatisierung, verzichtbar und überflüssig ist.

Die Kritik des Autors bezieht sich darauf, dass diese Frage "niemals im Sinne der Gemeinschaft reflektiert, sondern von der Evidenz der Machtverhältnisse beantwortet wird." Dazu führt er etliche konkrete Beispiele an. Sie sind nachvollziehbar – und überraschend. Wer weiß schon, dass CNN-Gründer Ted Turner und Computer-Pionier Bill Gates über Nahrungsmittelkontrollen einen Rückgang des weltweiten Bevölkerungswachstums in Milliardenhöhe ins Auge fassen? Verhungern sollen die anderen, dabei wären aber gerade die schwerreichen Einwohner des Westens unter ökologischen Gesichtspunkten verzichtbar: 2005, so Trojanow, konsumierte das reichste Prozent der US-Amerikaner genauso viel wie die 60 Millionen Ärmsten des Landes.

"Der überflüssige Mensch" ist ein Aufruf zu mehr Empathie. Zum genaueren Hinschauen und Nachdenken, ein Traktat gegen die Atomisierung der Gesellschaft; gegen die Akzeptanz sozialer Ungerechtigkeit und für gemeinsames Handeln – ohne Gebrauchsanweisung zu sein. Er ist notwendigerweise einseitig und soll denjenigen beunruhigen, der angesichts wachsender Not in privilegierter Privatheit verharrt.

Besprochen von Carsten Hueck

Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch
Residenz Verlag, St. Pölten-Salzburg-Wien 2013,
90 Seiten, 16,90 Euro