Wuchtige Wortmusik
25.03.2011
Sprachgewaltig entwirft der isländische Dichter Sjón in "Das Gleißen der Nacht" eine verrückte Welt aus Heilserwartung und Hexenwahn. Mit seinem Roman bastelt er fleißig mit an einem rückwärts gewandten Island-Mythos.
Sjón, eigentlich Sigurjón Birgir Sigurðsson, geboren 1962 in Reykjavík. Ein literarisches Multitalent, er mischt Genres und Stile. Mit fünfzehn publizierte er den ersten Lyrikband. Er gründete eine dem Surrealismus verschriebene Dichtergruppe; hier lernte er die Sängerin Björk kennen. Als Songtexter für Björk in Lars von Triers Film "Dancer in the Dark" (2000) wurde er für einen Oscar nominiert. Auf Deutsch erschien zuletzt (2007) "Schattenfuchs"; der Kurzroman wurde kontrovers besprochen. Ein Kritiker sprach von einem mythologisierenden Griff in die "Mottenkiste des isländischen Erbes".
Der Dichter Sigurjón Birgir Sigurðsson, genannt Sjón, entwirft ein Bild von seinem Land in einer fernen Zeit: Island im frühen 17. Jahrhundert, das ist eine im Meer verlorene Insel, besiedelt von einem engstirnigen Völkchen. Zwar gilt die lutherische Lehre, doch die Leute glauben an die Macht von Heiligen, sie fürchten Zauberwesen, Ungeheuer.
Ein Gelehrter lebt in dieser Gemeinschaft, der Protagonist aus Sjóns Roman: Jónas Pálmason, dem alten Glauben zugetan, und dennoch ein faustischer Typ, ein Aufklärer weit vor der Aufklärung. Als Kind hieß er bereits der "kleine Doktor", sein Leben lang treibt ihn Erkenntnisdrang. Doch das Inselvolk duldet keinen Forscher, schon Lesen oder Schreiben gilt als Teufelswerk.
Jónas wird verklagt, verstoßen und verbannt, fortan haust er elend auf einer Felseninsel. Die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens wohnt Jónas bei seinem Sohn, einem Pfarrer, und arbeitet an einem verwirrend vielschichtigen Werk. Er schreibt über Pflanzen und über Wale, über Märchen und über die Edda sowie – in Versen – über den eigenen Weg.
Sjón symbolisiert dieses Werk des Jónas Pálmason mit kursiv gesetzten Einschüben, lexikalischen Einträgen über Islands belebte und unbelebte Wirklichkeit. Durch diese Einträge schauen Autor und Leser mit dem Blick eines Menschen der frühen Neuzeit auf die Welt. Verrückt scheint diese Welt aus Heilserwartung und Hexenwahn; für Jónas war sie Normalität.
Den Gelehrten aus Sjóns Buch hat es gegeben. In der Realität hieß er Jón Guðmundsson, er lebte an der Wende zum 17. Jahrhundert und hinterließ die im Roman erwähnten Arbeiten. "Diese Materialien", schreibt Sjón, "habe ich mit jener Verantwortungslosigkeit und Sorglosigkeit behandelt, die das Spiel des Dichters von der Arbeit des Wissenschaftlers unterscheiden."
Der Autor, geboren 1962 in Reykjavík, ist ein Multitalent. Begonnen hat er mit surrealistischer Lyrik; als Songtexter für Björk in Lars von Triers Film "Dancer in the Dark" (2000) wurde er für einen Oscar nominiert. Die Vorliebe für die Poesie spürt man auch in dem Roman. Die Story, heißt das, ist nur eine Ebene im Buch, manchmal verliert sie sich im Textgeflecht, man muss ihr nachspüren: Lineares Erzählen wechselt mit lyrischer Prosa, die Sprache selbst wird zum Protagonisten. Zu Teilen besteht das Werk aus Wortmusik, aus Hall und Klang; in manchen Passagen hat fast jedes Hauptwort expressive Wucht.
Mit dieser Sprachgewalt werkelt Sjón – gemeinsam mit anderen Erzählern – an einem neuen Island-Mythos, einer rückwärts gewandten Utopie, gedacht als Gegengift zur Globalisierung. Nur fort aus dieser Gegenwart mit Bankencrash und Krise! In einem Interview sprach der Dichter kürzlich von Gier und Kälte der Gesellschaft. Dieselbe Kälte liest er in das 17. Jahrhundert hinein. Er setzt ihr das Weltbild seines Helden entgegen. Archaisch und anarchisch wirkt dieses Bild, vor allem aber erfrischend ursprünglich. Die Mythenschöpfer haben mit ihrer Marketingkampagne schon Erfolg: "Sagenhaftes Island", so heißt das Motto der Frankfurter Buchmesse im Herbst. Es könnte von Sjón stammen.
Besprochen von Uwe Stolzmann
Sjón: Das Gleißen der Nacht
Roman
Aus dem Isländischen von Betty Wahl
S. Fischer Verlag, Berlin 2011
256 Seiten, 18,95 Euro.
Der Dichter Sigurjón Birgir Sigurðsson, genannt Sjón, entwirft ein Bild von seinem Land in einer fernen Zeit: Island im frühen 17. Jahrhundert, das ist eine im Meer verlorene Insel, besiedelt von einem engstirnigen Völkchen. Zwar gilt die lutherische Lehre, doch die Leute glauben an die Macht von Heiligen, sie fürchten Zauberwesen, Ungeheuer.
Ein Gelehrter lebt in dieser Gemeinschaft, der Protagonist aus Sjóns Roman: Jónas Pálmason, dem alten Glauben zugetan, und dennoch ein faustischer Typ, ein Aufklärer weit vor der Aufklärung. Als Kind hieß er bereits der "kleine Doktor", sein Leben lang treibt ihn Erkenntnisdrang. Doch das Inselvolk duldet keinen Forscher, schon Lesen oder Schreiben gilt als Teufelswerk.
Jónas wird verklagt, verstoßen und verbannt, fortan haust er elend auf einer Felseninsel. Die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens wohnt Jónas bei seinem Sohn, einem Pfarrer, und arbeitet an einem verwirrend vielschichtigen Werk. Er schreibt über Pflanzen und über Wale, über Märchen und über die Edda sowie – in Versen – über den eigenen Weg.
Sjón symbolisiert dieses Werk des Jónas Pálmason mit kursiv gesetzten Einschüben, lexikalischen Einträgen über Islands belebte und unbelebte Wirklichkeit. Durch diese Einträge schauen Autor und Leser mit dem Blick eines Menschen der frühen Neuzeit auf die Welt. Verrückt scheint diese Welt aus Heilserwartung und Hexenwahn; für Jónas war sie Normalität.
Den Gelehrten aus Sjóns Buch hat es gegeben. In der Realität hieß er Jón Guðmundsson, er lebte an der Wende zum 17. Jahrhundert und hinterließ die im Roman erwähnten Arbeiten. "Diese Materialien", schreibt Sjón, "habe ich mit jener Verantwortungslosigkeit und Sorglosigkeit behandelt, die das Spiel des Dichters von der Arbeit des Wissenschaftlers unterscheiden."
Der Autor, geboren 1962 in Reykjavík, ist ein Multitalent. Begonnen hat er mit surrealistischer Lyrik; als Songtexter für Björk in Lars von Triers Film "Dancer in the Dark" (2000) wurde er für einen Oscar nominiert. Die Vorliebe für die Poesie spürt man auch in dem Roman. Die Story, heißt das, ist nur eine Ebene im Buch, manchmal verliert sie sich im Textgeflecht, man muss ihr nachspüren: Lineares Erzählen wechselt mit lyrischer Prosa, die Sprache selbst wird zum Protagonisten. Zu Teilen besteht das Werk aus Wortmusik, aus Hall und Klang; in manchen Passagen hat fast jedes Hauptwort expressive Wucht.
Mit dieser Sprachgewalt werkelt Sjón – gemeinsam mit anderen Erzählern – an einem neuen Island-Mythos, einer rückwärts gewandten Utopie, gedacht als Gegengift zur Globalisierung. Nur fort aus dieser Gegenwart mit Bankencrash und Krise! In einem Interview sprach der Dichter kürzlich von Gier und Kälte der Gesellschaft. Dieselbe Kälte liest er in das 17. Jahrhundert hinein. Er setzt ihr das Weltbild seines Helden entgegen. Archaisch und anarchisch wirkt dieses Bild, vor allem aber erfrischend ursprünglich. Die Mythenschöpfer haben mit ihrer Marketingkampagne schon Erfolg: "Sagenhaftes Island", so heißt das Motto der Frankfurter Buchmesse im Herbst. Es könnte von Sjón stammen.
Besprochen von Uwe Stolzmann
Sjón: Das Gleißen der Nacht
Roman
Aus dem Isländischen von Betty Wahl
S. Fischer Verlag, Berlin 2011
256 Seiten, 18,95 Euro.