Wozu brauchen wir (noch) Gewerkschaften?

Ist die Kuh vom Eis oder gönnen sich die Kontrahenten nur eine Pause? Nach dem härtesten Arbeitskampf in der Geschichte der Bahn, scheint ein unbefristeter Streik aktuell vom Tisch zu sein, zumindest bis zum kommenden Montag. Bis dahin will die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) das neue Angebot der Bahn prüfen. Doch egal wie dieser Konflikt ausgeht, Ruhe wird an der Bahnfront nicht einkehren: Die größere Bahngewerkschaft Transnet wirft nun ihrerseits erneut den Fehdehandschuh hin und droht mit Streik, um ihre bereits vor Monaten gestellte Forderungen nach einer neuen Entgeltstruktur für alle Bahnmitarbeiter durchzusetzen.
Ist also nach dem Streik wiederum nur vor dem Streik?

Der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel von der Universität Bremen warnt vor der Zersplitterung der Bahngewerkschaften. "Ich habe mit Manfred Schell geredet und gesagt: Lass` es sein. Ich bin deshalb dagegen, weil sie in den Betrieben unterschiedliche Interessenvertretungen kriegen. Das ist wie in England, die ´britische Krankheit`: Da haben sich mehrere Gewerkschaften untereinander bekämpft, und dann kam Maggie und hat sie abgeschafft! Und diese Gefahr sehe ich hier auch. Nicht in der IG Metall, die hat ein sehr leistungsdifferenziertes Entgeltsystem. Das haben sie bei der Bahn verpennt, und das fällt uns jetzt auf die Füße. Ich bin der Meinung: Einheit ist wichtig, aber Einheit mit Vielfalt!"

Der Direktor des Instituts für Arbeit und Wirtschaft hat selbst in den 90er Jahren als Schlichter in einem Tarifstreit in der Metall- und Elektroindustrie in Sachsen vermittelt und verfolgt die Entwicklung der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten nicht ohne Kritik. Dass ihnen die Mitglieder weglaufen, hält er auch für ein hausgemachtes Problem: "Das ist zum einen eine Folge des Neoliberalismus. Die Leute denken einfach: ´Die brauche ich nicht mehr, sie sind überflüssig. Die Leute kämpfen lieber nur für ihre eigenen Interessen. Zweitens kostet das auch Geld, sie müssen monatlich Beiträge bezahlen. Es ist aber auch das eigene Verschulden der Gewerkschaften: Wenn ich mir den unwürdigen Machtkampf zwischen Jürgen Peters und Bertold Huber bei der IG Metall anschaue oder die Verwicklungen von VW-Betriebsratschef Klaus Volkert – das ist schlecht ohne Wenn und Aber."

Die Gewerkschaften müssten ihren Schmusekurs beenden: "Dann sitzen Gewerkschafter in Aufsichtsräten… Die müssen zur Distanz verpflichtet werden! Ich hab einmal mit einem sehr guten Gewerkschafter geredet, der hat das Motto: ´Wenn mir ein Aufsichtsratsvorsitzender auf die Schulter klopft, dann ist was falsch gelaufen`."

Gerade in der globalisierten Arbeitswelt sollten sich die Gewerkschaften auf ihr Kerngeschäft besinnen: "Wir brauchen sie ganz schlicht als Interessenvertretungen für abhängig Beschäftigte. Die sind individuell auf sich gestellt und können nicht gegen die Macht der Unternehmer antreten. Wir brauchen sie als Gegenkraft, auch, um den Strukturwandel zu bewältigen. Wenn ich sehe, was wir in Deutschland zum Beispiel für einen Strukturwandel im Stahlbereich durchgemacht haben. Den haben wir nur mithilfe der Gewerkschaften hingekriegt. Dann die betriebliche Mitbestimmung und Interessenvertretung. Und das Herzstück sind und bleiben die Tarifverhandlungen. Wenn Gewerkschaften nur eine Art Volksfürsorge für Mitglieder sind, dann haben sie ihren Auftrag verfehlt! Sie sind unsere Antwort, die Globalisierung beherrschbar zu machen."

"Reformbremser oder wichtige Interessenvertreter - Wozu brauchen wir (noch) Gewerkschaften?"

Darüber diskutiert Dieter Kassel heute gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Rudolf Hickel. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen über Prof. Dr. Rudolf Hickel im Internet unter:
www.iaw.uni-bremen.de/rhickel/