Wozu brauchen wir Erinnerung?

"Das lag bei mir begraben. Ich kann die Gründe auch nicht genau nennen, es hat mich immer beschäftigt, es war immer präsent. Und ich war der Meinung, dass das, was ich tat, als Schriftsteller, als Bürger dieses Landes - was all das Gegenteil von dem bedeutete, was mich während meiner jüngeren Jahre in der Nazizeit geprägt hat - dass das ausreicht. Ich war mir auch keiner Schuld bewusst. Ich bin zur Waffen-SS gezogen worden, war an keinem Verbrechen beteiligt, hatte aber immer das Bedürfnis, eines Tages darüber in einem größeren Zusammenhang zu berichten …"
Seit Günter Grass’ spätem Bekenntnis, als 17-Jähriger in der Waffen-SS gewesen zu sein, ebbt die Welle der Reaktionen nicht ab.
Einer der gefragten Experten in diesen Tagen ist der Erinnerungsforscher Harald Welzer. Ihn erstaunt die öffentliche Aufregung, für ihn steht der "Fall Grass" stellvertretend für eine Generation: "Das Symptomatische an dem Fall ist für mich, dass bei aller überkorrekten politischen Oberfläche eben doch eine Verquickung mit dem Nationalsozialismus da ist, auch bei jemandem wie Günter Grass." Über den Wissenschaftsbetrieb hinaus bekannt wurde Welzer, der auch Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Gedächtnisforschung am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen ist, mit dem Buch "Opa war kein Nazi". Darin beschreibt er, wie in Familien die Geschichte des Holocaust weitergegeben wird. Das Ergebnis: Wir neigen dazu, unsere Vergangenheit zu schönen, besonders, wenn damit die Familiengeschichte belastet werden könnte: So werden Nazi-Großeltern in den Augen ihrer Enkel zu verkappten Widerstandkämpfern, antisemitische Handlungen werden in Familienerzählungen zu Hilfeleistungen umgedeutet, die eigenen Verwandten nicht als Täter, sondern als Opfer wahrgenommen. Ginge es nach dem Familiengedächtnis, so Harald Welzers Analyse, die Deutschen wären ein Volk von Protestlern.

Der Schriftsteller Thomas Brussig sieht den "Fall Grass" ganz anders:
"Für mich war Grass immer sehr medientauglich, sehr berechenbar. Durch diese Geschichte hat er etwas Brüchiges bekommen, was ein Künstler auch braucht. Ich finde, dass Grass ein wirklich deutscher Schriftsteller mit einer echt deutschen Vergangenheit ist. Er ist den Nazis gefolgt, wie viele, er hat sich dafür geschämt. Und der Grass nach 45 hat nichts mit dem von davor zu tun. Jahrzehnte mit diesem Bewusstsein zu leben, das hat auch etwas Zerrissenes."

Brussig, 1965 in Berlin geboren, aufgewachsen im Prenzlauer Berg, wurde mit der Verfilmung seines Romans "Helden wie wir" und dem Film "Sonnenallee", zu dem er das Drehbuch geschrieben hatte, schlagartig bekannt. Sein Buch "Wie es leuchtet" wurde von der Kritik als "der deutsche Wenderoman" gefeiert.
Der Autor sieht wenig Parallelen zwischen der Vergangenheitsdiskussion über die Nazizeit und die Versuche, die DDR-Vergangenheit zu verarbeiten.

"Die Nazizeit stellt uns ganz andere Fragen, mit ihrer Monstrosität, als die DDR, allein, weil die DDR keinen Völkermord begangen hat und keinen Angriffskrieg geführt hat. Das Schlimme an ihr war, dass sie so lang gedauert hat. Über die DDR kann man Scherzchen machen, man kann Nostalgie-Partys feiern. Das geht mit der Nazizeit nicht."

"Wozu brauchen wir Erinnerung?", darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9:07 Uhr bis 11 Uhr gemeinsam mit dem Erinnerungsforscher Harald Welzer und dem Autor Thomas Brussig, in der Sendung "Radiofeuilleton – Im Gespräch".
Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800/22542254 oder per Email unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet unter:
Thomas Brussig

Literaturhinweis:
Bücher von Prof. Dr. Harald Welzer
"Opa war kein Nazi", mit Sabine Moller und Karoline Tschugnall, Verlag S. Fischer, 2002
"Das kommunikative Gedächtnis – Eine Theorie der Erinnerung", Verlag C.H.Beck, 2005.