Wortrausch in Indien

Bücher, heißt es in "Kream Korner", besäßen die Macht, "uns aus unserer eigenen Trivialität fortzutragen" und "unseren Kopf mit den wundervollsten, je erdachten Erscheinungen zu füllen". Wenn es dafür noch eines Beweises bedurft hätte, würde man ihn in Anna Katharina Fröhlichs zweitem Roman zweifellos finden.
Schon nach wenigen Seiten fühlt man sich von duftenden Stoffen umhüllt, meint man, die heiße, curryschwangere Luft Indiens zu atmen, den Gesang fremder Vögel und das Brausen unbekannter Städte zu hören. Wie im Rausch berichtet die Erzählerin von ihrer Liebe zum großen Subkontinent, einer Liebe, die sich in ihrer Neigung zur Familie Bill manifestiert.

Die Bills leben im nordindischen Lucknow, sind unermesslich reich und unermesslich träge. Und obwohl sie sich nicht für Geld interessiert, fühlt sich die namenlose Ich-Erzählerin, magnetisch von den Bills angezogen. Sie ist die Nichte eines verstorbenen Lords und lebt eigentlich mit ihrer Tante in Südfrankreich, kommt aber jedes Jahr auf Besuch nach Lucknow, ins Haus der Bills, einen Stadtpalast, "aus dessen schattigen hohen Seitenräumen eine muffige Kühle wehte".

Der Verfall ist den Bills äußerlich zwar noch nicht anzumerken, doch kann man sich keine dekadentere Familie vorstellen. Dick und rund ruhen sie in ihrem Reichtum, arbeiten nicht, ja tun überhaupt nichts außer zu essen, zu schlafen, an Gesellschaften teilzunehmen und jeden Tag in extra angelegter Sportmontur eine Runde durch den eigenen Garten zu drehen.

Die Erzählerin aber meint, in ihnen den Inbegriff Indiens entdeckt zu haben. Mit den Bills möchte sie verschmelzen, möchte durch Kuss und Heirat Teil werden ihrer Welt. In "Konkubinenlaune" versucht sie den ältesten Sohn der Familie ins Bett zu bekommen, ein Versuch, der nicht zuletzt am trägen Desinteresse des Opfers scheitert. Wie die wortgewaltige, "wortrauschende" Erzählerin immer wieder anrennt gegen die stumme Geruhsam- und Rauschlosigkeit der Bills, ist von großer Komik. Wie überhaupt "Kream Korner" vom Witz und weltklugen Einfällen nur so strotzt.

Dabei ist die Frage egal, ob es sich bei den Bills nicht eigentlich um einen Haufen degenerierter Idioten handelt. Anna Katharina Fröhlich wie ihre fröhlich-ironische, zuweilen lustvoll jammernde Protagonistin interessieren sich allein für die Oberfläche der Dinge; diese wissen die kunstvoll zu beschreiben. Dabei geht es ihnen nicht um Enthüllung, um das Sein hinter dem Schein. Sie sind zufrieden mit der äußeren Schönheit der Welt. Und warum auch nicht? "Ich sitze der Eleganz halber so elegant da", heißt es einmal.

Die "narkotisierende Monotonie" der Bills liegt ihnen freilich im Grunde ebenso fern wie der Ehrgeiz, mit dem sich der Rest der Welt selber quält. Nachdem die Heiratsversuche fehlgeschlagen sind, macht sich die Erzählerin mit ihrer Tante eben auf zu neuen Ufern. Manche mögen darum das Gefühl haben, "Kream Korner" würde gegen Ende hin ein wenig versanden. Dabei ähnelt der Roman eher einem bezaubernden Ornament. Und gerade indischen Ornamenten ist ein Abschluss bekanntlich eher fremd.

Besprochen von Tobias Lehmkuhl

Anna Katharina Fröhlich: Kream Korner
Berlin Verlag 2010!
172 Seiten, 19,90 Euro