Worte verbinden sich zu Geröll

26.04.2013
Vor wenigen Jahren erhielt die Lyrikerin Barbara Köhler den Literaturpreis der schweizerischen Ortschaft Leuk. Die Auszeichnung war an einen Aufenthalt in dem deutschsprachigen Kanton geknüpft. Über diese Zeit in den Bergen hat sie ein sinnliches und kluges Buch geschrieben.
Die Lyrikerin, Übersetzerin und Multimediakünstlerin Barbara Köhler ist für ihr Schaffen bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Erst 2009 erhielt sie den "Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung", womit die "sinnliche Bewegung der Sprache" in ihren Gertrude Stein Übersetzungen gewürdigt wurde. Der 2001 von der Stiftung Schloss Leuk ins Leben gerufene "Spycher: Literaturpreis Leuk", den Köhler 2007 entgegennahm, ist allerdings an besondere Konditionen gebunden.

Die Gemeinde der Ortschaft Leuk im deutschsprachigen Teil des Schweizer Kantons Wallis stellt fünf Jahre lang eine Wohnung zur Verfügung. Für Köhler, die in Duisburg lebt – "gemittelte 33 Meter über dem Meer" –, und niemals zuvor wirklich in den Bergen war, stellte der Preis eine echte Herausforderung dar. Sie bedankt sich am Ende dieser gestundeten Zeit mit einem kostbaren Büchlein, das ihre sprachkritische wie menschliche Annäherung an den Berg Gorwetsch in 36 Variationen enthält.

Die Art, wie sich Köhler den Landschafts- und Sprachräumen schreibend hingibt, ist sinnlich und klug. Im behutsamen Buchstabenschritt nähert sie sich dem Gorwetsch. Während der "Grad-mal-Zweitausender" per pedes aus verschiedenen Perspektiven eingenommen wird, entwickelt das Sprachmaterial im Kopf der Wandernden ein Eigenleben. Die Worte scheinen sich zu einem Geröll zu verbinden, das seine Nahrung aus dem Atem der Geh- und Sprechbewegungen bezieht: la berge, die Berge, die Herberge, l’auberge, das Tal, het dal, la Vallée, le val... Susten, la Souste, die Suste – la sosta.

In jeweils neunzeiligen Text-Passagen geht Köhler mit analytischem Feingefühl der geheimnisvollen Korrespondenz zwischen Gehen, Sehen, Sprechen nach. Ihr Blick sensibilisiert für das nicht Sichtbare. Indem sie betrachtet, wird etwas in Betracht gezogen, das so, aber auch anders von der Schreibenden betrachtet werden kann. Immer wieder verschmilzt die konkrete Landschaft mit der poetischen Topografie.

Wie bei La Raspille, einem Flüsschen, das auf der Sprachgrenze verläuft und Köhler wie eine "rauschende, fließende, fallende Grenze zwischen Französisch und Walliserdeutsch" erscheint. An den Böschungen der Raspille entdeckt sie seltsam klingende Flurnamen – "Les Verbes", "Les Sans", Les Tsans" -, so als hätten sich dort in Jahrhunderten die Sprachen "wie Wasser gemischt".

Übrigens liefert Köhler nicht 36, sondern 37 Ansichten vom Berg Gorwetsch. Der listige Fehltritt kann als Referenz an den japanischen Künstler Hokusai verstanden werden, dessen "36 Ansichten des Berges Fuji" (1830) ebenfalls variierten.
Vielleicht bedeutet es angesichts der atemberaubend schönen Landschaft aber auch ein Sprach-Stolpern, ein aus dem Tritt kommen, was als Gewinn zu verzeichnen ist.

Besprochen von Carola Wiemers

Barbara Köhler: 36 Ansichten des Berges Gorwetsch
Betrachtungen, mit Fotografien der Autorin, ein Band der Edition Spycher, Hrsg. von Thomas Hettche

Dörlemann Verlag AG, Zürich 2013
96 Seiten, 16, 90 Euro