Wollust

Von Susanne Mack · 30.01.2010
Die Befreiung der Lust von jeder moralischen Verdächtigung, jene "sexuelle Revolution", welche die 68er-Generation eingeläutet hat, muss als eine kulturelle Errungenschaft betrachtet werden, sagt der Psychologe Heiko Ernst. Aber sie ist leider nicht ohne Nebenwirkungen geblieben.
"Das Vorspiel ist außerordentlich wichtig für die Steigerung des Geschlechtsverlangens. Und wiederum besonders für die Frau, deren Erregungskurve sanfter ansteigt als die des Mannes."

Ein Originalton aus dem Film "Das Wunder der Liebe" von Oswald Kolle. Ein Aufklärungs-Streifen, der im Frühjahr 1968 in die Kinos kam.

"Don't be blinded by love – but make love." Lass' Dich nicht blind machen von der Liebe, aber genieße sie, und zwar körperlich und nicht zu knapp.

Die 68er-Generation hatte sich auf die Fahnen geschrieben, was der Kulturkritiker Friedrich Nietzsche schon rund 100 Jahre vorher in seinen Büchern reklamierte:

"Wollust ist für freie Menschen unschuldig und frei, das Gartenglück der Erde!"

"Seit dem Kinsey-Report wissen wir ja, dass es unglaubliche Verklemmungen und Hemmungen und auch Unwissen gab, noch vor wenigen Jahrzehnten, was sexuelle Dinge betrifft. Und dass die Lust sich im Verborgenen ausleben musste. Mit großen Schuldgefühlen oft verbunden, auch mit viel Leid eigentlich."

Der Psychologe Heiko Ernst. – Diese so weit verbreiteten Schuldgefühle, alle Unwissenheit und alles Leid in Sachen Sex, welche Alfred Kinseys Report in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts zur Sprache brachte, geht nicht zuletzt auf das Konto einer machtvollen christlichen Kirche, die – über mehr als 1500 Jahre hinweg – die Lust am Sex schlechthin zu einer Todsünde erklärte. - Friedrich Nietzsche:

"Sie haben dem Eros Gift zu trinken gegeben! Daran ist er nicht gestorben, aber zum Laster entartet."

Wie kommt es, dass Eros, die sinnliche Liebe – von den Griechen als göttlich verehrt und als schöner, geflügelter Knabe in Stein gehauen und auf Vasen gemalt – dass diese sinnliche Liebe von den christlichen Kirchen derart verteufelt worden ist?

Hier hat sich einer der Kirchenväter besonders hervorgetan: Aurelius Augustinus, 354 geboren, Bischof von Hippo. Als junger Mann war Augustinus der sinnlichen Liebe freudig zugetan, das wissen wir durch seine Autobiografie, die "Confessiones". In seinem 32. Lebensjahr allerdings hat sich Augustinus dann selbst als "großer Sünder" erkannt. Ihm war nämlich ein Text in die Hände gefallen, der unter Christen die Runde machte: der Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom. Dort heißt es:

"Lasset uns ehrbar wandeln! Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Wollust und Unzucht, nicht in Hader und Neid. Sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus und verfallt nicht des Leibes Begierden."

Wenn Paulus hier von "Unzucht" spricht, deren Versuchung man widerstehen solle, so hatte er vermutlich die römische Tempelprostitution im Auge. - Eine Praxis, die ein Christ nur verurteilen kann, bemerkt auch Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika:

"Die Prostituierten im Tempel, die den Göttlichkeitsrausch schenken müssen, werden nämlich nicht als Menschen und Personen behandelt, sondern dienen nur als Objekte, um den 'göttlichen Wahnsinn'’ herbeizuführen: Tatsächlich sind sie nicht Göttinnen, sondern missbrauchte Menschen."

Was Paulus in einigen Fällen problematisch erscheint, die Lust am Sexuellen, wird von Augustinus generell als teuflisch betrachtet. Unter anderem in seinen "Confessiones" wurzelt die Wollust-Feindlichkeit der christlichen Kirchen.

Die Befreiung der Lust von jeder moralischen Verdächtigung, jene "sexuelle Revolution", welche die 68er-Generation eingeläutet hat, muss als eine kulturelle Errungenschaft betrachtet werden, sagt Heiko Ernst. Aber sie ist leider nicht ohne Nebenwirkungen geblieben:

"Sie hat auch eine Schattenseite. Nämlich diese Überfütterung, dieses Verbilligen sozusagen des Sexus. Der Versuch, es permanent zu steigern, auch durch Varianten, durch Perversionen, die inzwischen akzeptiert sind, wobei der Perversionsbegriff umstritten ist, muss man dazu sagen. Heute gilt vieles als normal, Sado-Maso ist nix Verwerfliches mehr."

Let’s talk about sex, because anything goes. Gesetzlich verboten ist weniges, fast alles ist möglich. In einer liberalen Gesellschaft kann jeder nach seiner sexuellen Façon glücklich werden, vorausgesetzt, er beschneidet dabei nicht die Rechte anderer Leute. – Die Freiheit, "Wollust als Gartenglück der Erde" in vollen Zügen zu genießen, von der ein Nietzsche nur träumen konnte: heute kein Problem.

"Wir haben eigentlich das Problem eher inzwischen der Übersättigung, auch des leisen Ekels inzwischen bei vielen Menschen schon, die Sexualisierung des Alltags, auch der Medien, ist sehr weit fortgeschritten."

Sex ist heute beinah Gesellschaftsspiel und "Alle-Bäumchen-wechseln-sich" das Motto der modernen Kuppelbörsen im Internet. Aber - bei der virtuell eingefädelten Jagd um den nächsten, neuen Sex-Partner – geht es da wirklich um Sex? Oder ist Sex nur die Siegestrophäe, die Belohnung für den erfolgreichen Jäger?

"Der Erfolg ist der Ausgeh-Anzug der Wollust … "

… schreibt Pater Hermann-Joseph Zoche in seinem Buch über die sieben Todsünden unserer Zeit. Zoche:

"Erfolg wirkt ja heute immer so salonfähig. Also, Menschen, die Erfolg haben, Menschen, die nach Erfolg streben, Menschen die ihren Erfolg auch zeigen nach außen, dass wird immer anerkannt."

Und nicht nur der Erfolg im Geschäftsleben wird bewundert, sondern eben auch der im Geschlechtsleben.

"Viele Menschen sagen dann so gegenüber ihren Eltern oder ihrer Umwelt: 'Ich will meine Erfahrungen selber machen!' Und dann muss man sagen: 'Ja, gut!' Aber zunächst einmal hat ein Mensch nur Erlebnisse. Die wirklich spannende Frage ist ja die, wie wird aus dem, was ein Mensch erlebt hat, nun wirklich eine Erfahrung? Und hier haben wir ja oft das Problem, dass Menschen gar nicht in der Lage sind, Erlebnisse so zu reflektieren, dass daraus positive Erfahrungen werden."

Ernst: "Die Sexualisierung hat eine ziemlich trübe Entwicklung genommen. Diese Liberalisierung hat eben nicht zu freieren und klügeren und weniger komplexbeladenen Menschen geführt. - Denken Sie nur an die Viagra-Pille: Wer immer kann, der muss auch immer können! Also, wenn's Viagra gibt, gibt's keine Ausrede mehr. Also, man will natürlich auch da alles mitnehmen, man muss aber jetzt den Sex planen. Das ist schon fast komisch, diese Geschichten um Viagra, dass man dann einen genauen Zeitplan einhalten muss.- Das heißt, wir haben die Ökonomisierung des Sexus vorangetrieben, und das Ganze hat eine komische, aber auch eine traurige Seite gekriegt."

"Der trunkene, zuchtlose Eros ist nicht Aufstieg, 'Ekstase' zum Göttlichen hin, sondern Absturz des Menschen. - So wird sichtbar, dass Eros der Reinigung bedarf, um dem Menschen nicht den Genuss eines Augenblicks, sondern einen gewissen Vorgeschmack der Höhe der Existenz zu schenken: jener Seligkeit, auf die unser ganzes Sein wartet. Nur durch (…) Prozesse der Reinigung und Reifung wird Eros ganz er selbst: Liebe - im Vollsinn des Wortes."

Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika "Deus Caritas est".

"Eros", wie ihn die antiken Philosophen verstanden haben, ist geradezu das Gegenteil von wahl- und gesichtslosem Sex: Ein liebevoller Mensch entscheidet, ob und wann er seinem Geschlechtstrieb nachgibt oder ihm die Zügel anlegt. Denn jemanden zu lieben, kann durchaus auch bedeuten, ihm den Sex zu verweigern. So wie Sokrates, der Philosoph es tut in Platons berühmten Dialog "Symposion", "Das Gastmahl". Der alte, weise Sokrates lässt sich nämlich nicht beeindrucken von den heftigen Annährungsversuchen seines schönen Schülers namens Alkibiades:

"Denn das Auge des Geistes fängt erst an scharf zu sehen, wenn die Schärfe des Leiblichen nachzulassen beginnt. Aber davon bist Du, mein Freund, noch weit entfernt!"

Mit diesen Worten schützt Sokrates zwei Güter auf einmal: Alkibiades' Jugend und die eigene Souveränität.

Ernst: "Eros ist natürlich die Anerkennung des Anderen im Sex. Die Liebe, die mit verbunden ist im Sexus."

Was seit den griechischen Philosophen den Namen "Erotik" verdient, degradiert keinen Menschen zum bloßen Lustobjekt, sondern entwickelt sich wie ein gutes Gespräch, das beide Seiten beglückt. – Der englische Philosoph Thomas Hobbes, ein Mann des 17. Jahrhunderts, hat das Wesen echter Erotik auf den Begriff gebracht:

"'Lust' ist ein doppelter Appetit: Verwöhnen - und verwöhnt werden. Jenes Vergnügen, das Menschen beim Lustbereiten empfinden, ist eigentlich ein Vergnügen des Geistes: das Vergnügen, etwas von der Kunst zu verstehen, dem anderen Lust zu verschaffen."