Wolfram Eilenberger über sein Buch "Zeit der Zauberer"

"Die Wirkung dieser Denker hat etwas von einem Zauber"

Wolfram Eilenberger
Der Philosoph Wolfram Eilenberger kritisiert seine eigene Zunft als wenig innovativ. © Deutschlandradio / Manfred Hilling
Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Simone Miller · 11.03.2018
Die moderne Philosophie hat ihren letzten großen Innovationsschub in den 1920er-Jahren erlebt und zwar durch das Wirken der großen Denker Ernst Cassirer, Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin und Martin Heidegger, meint der Philosoph Wolfram Eilenberger. Doch dieser Zauber sei auch ambivalent.
Ernst Cassirer, Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin und Martin Heidegger: "Die großen Schulen der Philosophie, die heute das akademische und auch populäre Philosophieren dominieren: der Existenzialismus, die Hermeneutik, die Dekonstruktion, die analytische Philosophie, die kritische Theorie – die sind alle auf diese vier Gründergestalten rückführbar", sagte der ehemalige Chefredakteur des Philosophie Magazins, Wolfram Eilenberger, im Deutschlandfunk Kultur.
Walter Benjamin
Walter Benjamin (1892–1940)© dpa / picture alliance / Heinzelmann

Das Charisma der Denker

Die Strahlkraft dieses philosophischen Quartetts der 1920er-Jahre führt Eilenberger vor allem darauf zurück, dass alle ihr Denken selbst verkörpert hätten: "Sie kreieren eine Denkpersona", sagte er. "Die charismatische Wirkung dieser Denker, die damals schon zu Lebzeiten Kultgestalten waren, die hat auch etwas von einem Zauber." Dieses Zaubern habe etwas Ambivalentes, denn es sei einerseits etwas, das einen fasziniere, andererseits aber auch etwas, das einen verführen könne. "Und der Name Martin Heidegger steht für die Verführungskraft solch eines zaubernden Denkens."
Obwohl sich die Werke Cassirers, Wittgensteins, Benjamins und Heideggers inhaltlich und methodisch stark voneinander unterscheiden, sieht Eilenberger eine zentrale Gemeinsamkeit darin, "dass sie die Sprache und das Sprechen als die Grundlage der menschlichen Lebensform deuten und dass sie darüber nachdenken, was die Bedingungen der Möglichkeit sind, uns miteinander über eine Welt auszutauschen, die unmittelbar als sinnvoll erscheint." Das sei das Energiezentrum dieser vier Philosophen.

Gemeinsame Perspektive

Eilenberger macht in den vier Gedankengebäuden außerdem eine starke Kritik an Descartes aus und interpretiert die Überwindung des klassischen Dualismus' als geteilten anti-modernen Impuls. Sie alle seien der Auffassung, dass "die cartesische Philosophie einen Einschnitt bewirkt hat, der rückgängig gemacht und revolutioniert werden muss", sagte er. "Das ist die Trennung von Subjekt und Objekt, von Leib und Geist, das ist die Idee, dass rechnen und denken in irgendeiner Weise das gleiche ist und dass die Wahrheit sich in einer Form findet, die mit Zeichen und unmittelbaren Zeichensystemen zu tun hat".
Deshalb teilten diese vier 20er-Jahre-Philosophen weiterhin die Perspektive, "dass das, was wichtig ist im Leben, sich nicht sagen lässt, sondern sich zeigen muss". Wittgenstein, Cassirer, Benjamin und Heidegger stünden deshalb geradezu exemplarisch für gelebtes Denken, ist sich der Autor sicher.
Eilenberger verknüpft diese Interpretation mit einer scharfen Kritik an der Gegenwartsphilosophie: "Wenn das Buch eines zeigt, dann dass Leben und Philosophieren, die Gestaltung des eigenen Lebens und die Durchdringung dieses Lebens mit Gedanken nicht getrennte Bereiche sind und das ist etwas, was wir in der heutigen akademischen Philosophie kaum noch sehen." Sein Buch sei deshalb auch ein Buch darüber, was es heiße, das eigene Leben durch Gedanken führen zu lassen.
Martin Heidegger
Martin Heidegger (1889-1976)© imago / United Archives International

Die 1920er-Jahre verstehen

Für lehrreich hält Eilenberger die Auseinandersetzung mit den 1920er-Jahren auch, weil sie eine Dekade des fundamentalen Umbruchs auf den Gebieten der technologischen, medialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen gewesen sei, und damit mit unserer heutigen Situation strukturell verwandt: "Das heißt, wenn man versucht, die 20er-Jahre zu verstehen, dann kommt man sehr weit, die eigene jetzige Situation in unserer Zivilisation zu verstehen, und das betrifft insbesondere die Frage nach Populismus und Demokratie, völkischer Verengung oder kosmopolitischer Öffnung, denn das ist genau das Spannungsfeld, das Cassirer und Heidegger in der 'Davoser Disputation' besprechen – es geht um zwei fundamentale Ideen davon, in welche Richtung sich unsere Zivilisation bewegen soll."

Wolfram Eilenberger, geboren 1972, war langjähriger Chefredakteur des "Philosophie Magazins", ist "Zeit"-Kolumnist, moderiert die "Sternstunden der Philosophie" im Schweizer Fernsehen und ist Programmleiter der "phil.cologne". Er hat mehrere Sachbücher geschrieben und ist seit November 2017 Programmleiter des Berliner "Nicolai-Verlags".

Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer
Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929
Klett-Cotta Verlag 2018
431 Seiten, 25 Euro

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