Wohnungslose Familien

Inzwischen kann es jeden treffen

29:58 Minuten
Eine Mutter mit zwei Kindern läuft durch einen herbstlichen Wald.
Ein eigenes Zimmer, überhaupt ein Zimmer - davon können Kinder aus wohnungslosen Familien nur träumen. © picture alliance/Keystone/Conradin Fre
Von Dorothea Brummerloh · 23.12.2019
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Schon zwei Monate Mietrückstand reichen aus - und die Wohnung ist weg. Eine neue finden, ist angesichts explodierender Mieten in den Städten schwer. Und so landen mittlerweile auch viele Familien in der Wohnungslosigkeit. Darunter leiden vor allem die Kinder.
Zu Besuch bei Pia und Hella Schmidt*. Die Haustür des grauen, vierstöckigen Gebäudes öffnet sich automatisch. An der Pforte vorbei geht es die gebohnerte Holztreppe hinauf. In das Zimmer, das sie vor einigen Monaten bezogen haben, notgedrungen.
"Das Erste, was wir gemacht haben - wir haben gar nicht miteinander geredet - jeder hat sein Bett genommen und erst einmal zusammengemacht. Das waren die ersten fünf Sekunden, was da passiert ist. Und dann haben wir geweint", erzählen Pia und Hella.
Der Raum ist mit den zwei Betten fast ausgefüllt. Es ist gerade noch Platz für einen schmalen Tisch an der Wand und zwei Holzstühle, zu dem grünen Metallspind neben der Eingangstür muss man sich durchquetschen. Die linke Schrankseite ist für die Mutter, die rechte für die Tochter. Was nicht hineinpasst, liegt auf Stapeln und Häufchen im Zimmer verteilt herum. Die Wände sind schmucklos: kein Regal, kein Bild oder Poster an der Wand.
"Wir dürfen nichts ranmachen, weil dann müssten wir ja Löcher bohren und das dürfen wir nicht", sagen die beiden. "Bilder, Pinnadeln – oh Gott! Dürfen wir nicht. Zimmerkontrollen halt. Deswegen ist alle zwei Wochen Zimmerkontrolle. Morgen ist wieder, Wasserkocher, Kaffeemaschine, ob wir andere elektrische Geräte haben, ob Schimmel ist, fragen sie, dann schreiben sie sich alles kurz auf und dann sind sie auch schon wieder weg."

Plötzlich passte der Schlüssel nicht mehr ins Schloss

Auf 18 Quadratmetern leben die 17-jährige Pia und ihre Mutter Hella. 18 Quadratmeter - das entspricht ungefähr der Größe von vier Tischtennisplatten oder eines halben Boxrings. Mehr ist es nicht und doch ist es für die beiden erst einmal viel:
"Es ist halt, wir haben ein Zimmer - besser als auf der Straße zu leben", sagt Hella Schmidt. Sie findet kaum Worte für das, was ihnen passiert ist. Pia springt ein und erinnert sich an einen Tag im Mai dieses Jahres. Ihre Mutter hatte sie von der Schule abgeholt, sie wollten nach Hause. Dort angekommen, fiel ihnen auf: An den Fenstern ihrer Wohnung fehlen die Gardinen!
"Das war eine ganz komische Situation und wir dachten uns schon so, okay, hier stimmt irgendetwas nicht, die Gardinen waren ab", erinnert sich die Tochter. "Dann wollten wir die Tür aufschließen. Und dann habe ich aber gemerkt, dass der Schlüssel nicht reinpasste. Und wir dann erst einmal in Panik ausgebrochen, Mama ist mir dann fast im Arm zusammengebrochen."
Sie ahnten, warum sie nicht in ihre Wohnung kamen, erzählt Pia.
"Aber ich bin dann trotzdem zur Polizei gegangen und dann habe ich nachgefragt, warum wir nicht in unserer Wohnung reinkommen. Dann hat er einen Namen eingetippt in den Computer und gesagt, ach, ja, da war eine Zwangsräumung. Ja."
"Da haben sie das Schloss ausgetauscht", ergänzt Hella. "Mein Vermieter hat dann gar nicht mehr aufgemacht. Nichts. Wir hatten dann nur das, was wir anhatten."

Nach drei Nächten im Hotel stehen sie auf der Straße

Pia sagt: "Ich war sehr verheult und wusste nicht, was wir machen sollen. Da habe ich gefragt, was machen wir jetzt? Und der so, ja, Entschuldigung, dazu kann ich Ihnen jetzt auch nicht mehr sagen, was im Computer steht. Also, wir sind dann gegangen und wussten auch nicht mehr weiter. Wir haben uns dann quasi in die Bahn gesetzt, weil es war an dem Tag auch sehr regnerisch. Wir waren komplett durchgenässt."
"Ich war froh, dass ich sie hatte", sagt Hella. "Weil, ich bin völlig neben ihr zusammengebrochen. Ich hab sie gehabt, ich hätte bestimmt irgendwelche Lösungen gefunden, aber ich habe ein Kind, und ich wusste nicht, was ich machen sollte."
Hella Schmidt kratzt ihr bisschen Geld zusammen, sodass sie erst einmal für drei Tage in einem billigen Hotel unterkommen. Dann stehen sie wieder auf der Straße. Über einen Bekannten bekommen sie Kontakt zur Obdachlosenhilfe. Denn das sind sie jetzt: obdachlos.
Ein Zettel an einem Baum in Hamburg verspricht eine Belohnung von 1000 Euro für die erfolgreiche Vermittlung einer Wohnung an eine alleinerziehende Mutter. 
Belohnung für Wohnungsvermittlung© picture alliance /dpa / Markus Scholz
Genaue Zahlen, verlässliche Statistiken gibt es nicht. Die Politik streitet seit langem darüber, ob die Obdach- und Wohnungslosen gezählt werden sollen. Die Gegenargumente: zu teuer, zu schwierig. Andere Länder zeigen aber, dass es möglich ist. Im Laufe des Jahres 2018 waren nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zirka 678.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung. Acht Prozent davon sind Kinder und Jugendliche.
"Das kann jeden treffen", sagt Gerd Geil, Sozialarbeiter bei "RE_StaRT", einem Hilfsangebot für wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen in Niedersachsen.
"So ein klassisches Beispiel ist Trennung. Wenn ich mich heute von meiner Partnerin trenne oder sie sich von mir trennt und ich nicht die Möglichkeit habe, im Freundes- oder Bekannten- oder Verwandtenkreis kurzfristig unterzukommen oder ein Hotelzimmer zu nehmen, dann bin ich obdachlos. Kann ich irgendwo unterschlüpfen, bin ich wohnungslos."

Wohnungslosigkeit trifft auch die Mitte der Gesellschaft

Das typische Bild des Berbers – männlich, arbeitslos, mit Alkohol- oder Drogenproblemen – beschreibt die Situation nicht ausreichend. Die Wohnungslosigkeit sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sagt Gerd Geil.
"Wir haben ja Räumungsklagen erlebt, wo alleinerziehende Mütter mit Kindern vor die Tür gesetzt wurden. Wo ein schwer krebskranker Mann, der hat jetzt gerade wieder eine Chemotherapie begonnen und der Mann wird höchstens noch ein Jahr leben. Der wird aus seiner Wohnung geklagt. Wir haben eine 87-jährige Dame gehabt, die wurde aus ihrer Wohnung geräumt und niemand von uns darf sich dem romantischen Gedanken hingeben: Wir leben in einem Sozialstaat, der rundum Sicherheit verschafft. Das gilt für niemanden."
"Es gibt nicht diesen einen Grund, wie man in eine solche Situation kommt", bestätigt Lea Sewiolo. Die Sozialarbeiterin kümmert sich bei Re-Start um junge Frauen, Schwangere und Mütter mit Kleinkindern. Schwer vorstellbar, dass jemand diese auf die Straße setzt.
"Ja, ja, das ist das Bild, dass die Gesellschaft hat, weil man sich das einfach nicht vorstellen kann, dass ein Sozialstaat wie Deutschland so etwas zulassen würde."

Manche unterschätzen die Gefahr einer Kündigung

Scheidung, Krankheit, Jobverlust, geringe Einkommen im Niedriglohnsektor oder Kürzungen des Jobcenters, wenn man zum Beispiel die Mitwirkungspflicht missachtet zu viel auf Raten gekauft, sich dann verzettelt zwischen Pflichten und Rechnungen – all das kann dazu führen, dass das Geld knapp wird, dass man schlussendlich die Miete schuldig bleibt.
"Und die Prioritäten, die manchmal die Menschen schon auch setzen, sind: Ich bediene erst einmal die anderen Schulden und dann kommt die Miete. Aber es reicht ja nicht für die Miete. Das heißt, die Prioritäten werden falsch gesetzt mit dem Gedanken dahinter, mein Vermieter kündigt mir doch gar nicht. Ich bin doch junge Mutter, junger Vater. Das kann mir nicht passieren. Oder ich habe seit fünf Jahren einen Mietvertrag dort. Mein Vermieter kennt mich und das wird er schon verstehen", sagt Sewiolo.
"Aber man muss ja auch manchmal daran denken, dass Mietschulden nicht nur Wohnungsgesellschaften betreffen, die das Geld haben und ein Auge zudrücken. Vermieter, die Eigentum vermieten – das ist manchmal auch eine Existenzgrundlage."
Eigenbedarfsklagen, Ruhestörung, unsachgemäßer Umgang mit Eigentum – all das sind Gründe, um ein Mietverhältnis zu beenden. Meistens sind es jedoch Mietschulden, die zur Kündigung des Mietvertrages führen. Ist man mit mehr als zwei Monatsmieten im Rückstand, können Vermieter ohne Abmahnung fristlos kündigen. So steht es im Gesetz. Das gilt für alle Mieter, egal ob mit oder ohne Kind. Dann steht man auf der Straße, so wie Hella und Pia Schmidt. Sie sind in Absprache mit ihrem Vermieter ohne Mietvertrag in die Wohnung gezogen. Dieser sollte nachgereicht werden. Leider kam er nie. Die Schmidts lebten sozusagen illegal in der Wohnung. Ihre Räumung war rechtens. Hinzu kam, dass sie auf Grund des fehlenden Mietvertrages kein Wohngeld beantragen konnten.

Kein Vorrang für Familien mit Kindern

Warum und weshalb jemand in eine Notsituation kommt, spielt für Gerd Geil erst einmal keine Rolle:
"Fakt war: Frau Schmidt und ihre Tochter waren obdachlos. Und es ist ein bisschen wie Feuerwehr bei uns: Erst gucken, wo schlafen sie heute? Wo kommen sie unter? Und aus dieser sicheren Situation heraus, kann man mit Aufarbeitung anfangen."
Hella Schmidt und ihre Tochter bekamen einen Platz in der Frauennotunterkunft. Und begannen mit der Suche nach einer Wohnung.
"Ich habe in der Zwischenzeit gefühlte 2000 Wohnungen angeschaut und es waren immer mindestens 15 bis 20 Leute auch da und haben sich die Wohnung angeschaut", berichtet Hella Schmidt. "Erst hatte ich immer gute Hoffnung und dann waren wieder ein Haufen Leute da und dann kam eine Absage."
Lea Sewiolo meint: "Man denkt, gerade Frauen mit Kindern oder Eltern mit Kindern auch beim Wohnungsamt werden bevorzugt. Nein, das ist nicht so, da geht es nach Antragstellung, nach Datum, gibt es Wohnraum oder nicht. Das wird nicht bevorzugt, auf keinen Fall."

"Wir können nichts für Sie tun"

Ihr Kollege Gerd Geil bestätigt das: "Ein Beispiel: Junge Frau, schwanger oder vielleicht gerade entbunden, sagt, ich weiß nicht, wohin. Und jetzt geht diese junge Frau zur Abteilung Unterbringung und sagt, ich weiß nicht, wo ich hin soll. Ich bin im achten Monat schwanger. Und dann tauchen Sätze auf – das ist nicht erfunden – wie: Wir haben jetzt gerade nichts. Wir können nichts für Sie tun. Und das stimmt nicht."
Gerd Geil redet sich richtig in Rage. Rechtlich gesehen hat jede Kommune eine Unterbringungspflicht für Betroffene. Niemand muss auf der Straße leben. Man könnte zum Beispiel beim Jobcenter oder beim Sozialamt eine Übernahme für Pensionskosten von maximal 20 Euro beantragen, erklärt der Sozialarbeiter. Vor allem dann, wenn eine besondere Härte vorliegt, wie zum Beispiel bei einer jungen Mutter mit Baby oder bei Menschen mit psychischen Erkrankungen, wo die Unterbringung in ein Obdach unzumutbar sei.
"Und für meine Rechtsauffassung, für meine Auffassung, was sozialer Frieden in diesem Land bedeutet, erwarte ich von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen einer Behörde, speziell die in der Abteilung Unterbringung arbeiten, dass sie von sich aus auf die Idee kommen", betont Geil.

Es fehlen 1,9 Millionen bezahlbare Wohnungen

Hilflosigkeit, Resignation, falsche Entscheidungen, unangemessenes Verhalten, finanzielle oder soziale Notlagen – all das kann zum Verlust der Wohnung führen.
In die Obdachlosigkeit stürzen Betroffene allerdings erst durch die katastrophale Situation auf dem Wohnungsmarkt. Einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung zufolge fehlen in deutschen Großstädten rund 1,9 Millionen bezahlbare Wohnungen. Wo der bezahlbare Wohnraum knapp ist, konkurrieren die sozial Schwachen um die wenigen Angebote: Alleinerziehende, Rentner, Studenten und Auszubildende mit Arbeitssuchenden und Familien mit Kindern.
Sozialarbeiter wie Lea Sewiolo betreuen auch Menschen, die verdeckt obdachlos sind. Sie ziehen von einem Sofa zum nächsten, schlagen sich die Nacht in der S- und U-Bahn um die Ohren, sitzen tagsüber auf Parkbänken oder in Wartehallen. Eigentlich, so Lea Sewiolo, sind diese Menschen für die Gesellschaft unsichtbar. Und es betrifft überwiegend Frauen:
"Ich habe eine Frau gehabt, die lebt seit über drei Jahren bei einer Bekannten. Die hat keine Chance, in den Wohnraum zu kommen. Die hat ihr Baby bekommen ohne Meldeadresse. Wenn man keine Meldeadresse hat, bekommt man keine Geburtsurkunde. Wenn man keine Geburtsurkunde bekommt, bekommt man keine Steuer-ID. Das heißt, dieses Kind gibt es offiziell gar nicht."

Problem "verdeckte Obdachlosigkeit"

Eine soziale Sackgasse. Ohne Steuer-ID kann man kein Kindergeld, kein Elterngeld beantragen. Wenn man vom Jobcenter Leistungen bekommen möchte, muss man Kindergeld, Elterngeld und Unterhaltsvorschuss beantragen. Wenn man das nicht macht oder wie in diesem Fall nicht machen kann, wird die Summe trotzdem angerechnet, d.h. man bekommt weniger Geld. Ohne diese Unterstützung hat die junge Frau allerdings auch nicht ausreichend Geld für die Miete.
Verdeckt Obdachlose sind auch deshalb unsichtbar, weil man es ihnen nicht ansieht.
"Wie viel Energie das überhaupt braucht, wenn man im Stadtwald irgendwo zwischen den Bäumen und Sträuchern nächtigt und sich dann eine öffentliche Toilette sucht, wo es ein kleines Kaltwasserwaschbecken gibt, wo man sich jeden Morgen bei Wind und Wetter und bei jeder Witterung wäscht", sagt Gerd Geil.
Auch Pia achtet trotz aller Beschränkungen und Widrigkeiten auf ihr Äußeres.
"Ich gehe zum Beispiel regelmäßig duschen", betont sie. "Ich achte sehr auf mein Aussehen. Auch wenn ich jetzt nicht die teuersten Klamotten habe, lege ich trotzdem sehr viel Wert drauf, dass es ordentlich aussieht und das ist immer frisch gewaschen ist und dass ich auch gut rieche.

Frauen suchen erst sehr spät Hilfe

Psychologische Beratungsstelle für wohnungslose Frauen in Berlin. Hier wird man kostenlos und anonym beraten.
"Ein typisches Verhaltensmuster bei Frauen ist, dass Frauen sehr lange schauen, welche eigenen Ressourcen haben sie. Und häufig geht es einher mit einem großen Schamgefühl, als obdachlos wahrgenommen zu werden, als wohnungslos wahrgenommen zu werden, plus der Angst, dass die Wohnungslosigkeit eine Aussage ist über ihre Erziehungsfähigkeit oder über ihr Zusammenleben mit dem Kind", erklärt Britta Köppen. "Das heißt, es entsteht eine Angst, wenn sie sich in öffentlichen Institutionen als wohnungslos erkennbar zeigen oder sich auch bei der sozialen Wohnhilfe melden, dass dann das Jugendamt mit eingeschaltet wird oder dass überprüft wird, ob vielleicht ein Kinderschutzfall vorliegt."
Diese Ängste führen dann dazu, dass die Frauen sich sehr spät Hilfe suchen:
"Wenn die Mütter merken, dass wir eine Schweigepflicht haben, dass wir transparent arbeiten und auch parteilich sind, dann öffnen sie sich und dann kriegen wir schon noch ein gutes Bild oder ein Gefühl, wie sie ihre Kinder wahrnehmen."
Sozialarbeiter und Psychologinnen wie Britta Köppen bauen Vertrauen auf.
"Wir tasten uns heran: Was ist möglich? Wie geht es den Kindern? Wie ist die Interaktion zwischen Mutter und Kind und in der Familie? Können die gut loslassen und das Kind mal woanders hingeben. Manchmal spielt auch die Schule eine Rolle: Wir hatten auch schon Situationen, wo wir dann mit dem Hort oder mit der Klassenlehrerin Kontakt hatten."

In der Schule soll niemand wissen, dass Pia wohnungslos ist

Die 17-jährige Pia sagt: "Ich habe mich sehr geschämt in die Schule zu gehen, weil ich immer dasselbe anhatte und dann ist eben auch öfters mal die Schule ausgefallen, von mir aus, weil ich gesagt habe, ich möchte so nicht zur Schule gehen."
Nicht nur deswegen war Pias Schulabschluss zeitweise in Gefahr. Denn bei der Zwangsräumung waren neben Möbeln und Bekleidung auch ihre Schulbücher und Hefte unter den Hammer gekommen. Noch ein Grund mehr, die Schule zu schwänzen. Und das kurz vorm Abschluss. Zum Glück gab es Gerd Geil, sagt die 17-Jährige.
"Der hat dann in der Schule angerufen und hat die Situation erklärt. Und es war dann auch okay, dass ich ab und zu mal nicht ganz da so war."
"Mir war sofort wichtig, dafür zu sorgen, dass die Situation nicht auch noch in der Schule in der Form bekannt wird, dass sie dann da steht und 20 Schüler um sie herum sagen: Wie? Du bist obdachlos? Das hängt einem Menschen einfach nach. Wir sind in der Mitte der Gesellschaft nicht immer die Nettesten, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen. Sodass ich Kontakt zu dem Klassenlehrer aufgenommen habe. Der Lehrer ist ganz großartig mit der Situation umgegangen."

Eltern stellen ihre Ansprüche hintan

Psychologin Köppen betont: Wohnungslosigkeit ist nicht automatisch ein Kinderschutzfall. Das wäre auch skandalös. Denn wenn sie vor Ort ist, die Frauen und Kinder in den Unterkünften besucht, "dann erlebe ich oft ganz herzliche und rührende Bemühungen der Eltern, so gut es geht eine Situation herzustellen, wo Familienleben möglich ist, wo Intimität auch möglich ist, wo Rückzug möglich ist. Das sind dann die kleinsten Räume, die ausgestaltet werden. Das ist ein sehr starkes Zurücknehmen auch mancher Eltern, die wirklich all ihre Ansprüchen hinten anstellen und schauen, dass es dem Kind, den Kindern gut geht. Das sind Mütter, die sich um Förderung kümmern, die wirklich versuchen, alles aufrechtzuerhalten und denen das sehr bewusst ist, was sie auch gerade für eine Verantwortung haben."
Hella Schmidt zum Beispiel hat immer wieder etwas Geld zur Seite gelegt, um für ihre Tochter ein Handy zu kaufen. Die 17-Jährige sollte trotz alledem ein normaler Teenager sein. Pia hat sich riesig gefreut: "Dass ich quasi einfach nur mal so normal sein kann, einfach mal so im Internet rumsurfen kann, auch Bilder posten kann. Einfach dieses Gefühl der Normalheit."
Ein junge Teenagerin sitzt auf dem Boden mit Smartphone in der Hand.  
© imagebroker/Jan Tepass
Auf dem regulären Wohnungsmarkt haben Menschen wie Pia und Hella Schmidt keine Chance. Sie hätten Anspruch auf geförderten Wohnraum. Doch die Zahl der Sozialwohnungen hat sich in den vergangenen 15 Jahren fast halbiert. Die Mietpreisbindung, gewährt im Gegenzug für günstige Kredite vom Staat, verfällt nach 15 bis 30 Jahren. Danach ist es egal, was der Vermieter macht. Oft wird das Haus verkauft. Nicht selten wirft der neue Vermieter Altmieter und jene, die in Mietrückstand geraten raus. Dann kann er teurer vermieten. Familien mit geringem Einkommen finden aber kaum eine neue Sozialwohnung, weil versäumt wurde, rechtzeitig nachzubauen. 80.000 zusätzliche Wohnungen jährlich würden nach Ansicht des Mieterbundes den Bedarf decken, doch der Neubau kommt in den meisten Bundesländern nur schleppend voran. So wurden in Sachsen-Anhalt ganze 20 Sozialwohnungen im vergangenen Jahr gefördert.
Viel zu wenig angesichts der rasanten Mietsteigerungen in vielen Städten. Hinzu kommt, dass der Bund, die Kommunen, die Länder ihre eigenen Wohnungen an private Investoren verkauft haben. Das sind die Fakten. Für die schwangere Maria Möller* mit ihren zwei Kindern bedeutete das:
"Ich hatte zwei Monate Mietrückstand. Die Stadt hat das zwar übernommen. Aber der Vermieter wollte, dass wir ausziehen. Und da sind wir zu meiner Mutter gezogen in Köln. Waren da zwei Monate lang. Hat nicht so funktioniert. Dann hat sie uns auf die Straße gesetzt. Erst einmal waren wir in einer Notunterkunft in Porz, wo wir halt abends reingehen können ab 19 Uhr und morgens früh raus. Und dann sind wir zum Wohnungsamt."

Jeder konnte jederzeit ins Zimmer kommen

Die Stadt Köln weist mit der so genannten "Ordnungsbehördlichen Unterbringung" Familien wie die Möllers, aber auch Alleinerziehende zum Beispiel dem Sozialdienst Katholischer Männer zu, der eigene Wohnungen angemietet hat, um Obdachlosigkeit abzuwenden. Solche Einrichtungen sind extrem wichtig. Denn man kann Minderjährige nicht in der Bahnhofsmission oder im Obdachlosenasyl in einem Mehr-Bett-Zimmer neben alkoholkranken Männern unterbringen. Das stand auch bei den Möllers im Vordergrund. Maria Möller war erst einmal dankbar. Aber einfach ist es nicht, so zu leben:
"Wir hatten zwei Räume, wo wir schlafen können, und eine Gemeinschaftsküche. Man konnte nicht abschließen mit dem Schlüssel. Also konnte quasi jeder reinkommen. Es war schrecklich. Es war wirklich schrecklich. Ich dachte eigentlich, es sei vorübergehend. Aber es hat doch lange Zeit gebraucht, drei Jahre ist eine lange Zeit. Mit den Kindern war echt schlimm. Der Jüngste ist 2015 geboren, also, dieses 'Eigene Wohnung'-Gefühl kannte er gar nicht."
Friedrich, ihr Ältester war damals neuneinhalb Jahre alt. Heute ist er 13 und weiß, was es heißt, drei Jahre in einer solchen Einrichtung zu leben:
"Ich habe mich sehr unwohl gefühlt und wollte auch eigentlich nicht da sein. Ich mochte das einfach nicht dort. Das war einfach alles offen. Ich konnte nichts abschließen. Ich musste Zimmer mit meinen Brüdern teilen. Da war das jetzt richtig eng und ich hatte keine Privatsphäre. Ich hatte kein Rückzugsgebiet. Ich hatte einen Tisch und Stuhl, hab meine Hausaufgaben gemacht unter Stress. Wir hatten einen Säugling. Es war ziemlich laut. Und generell, das ganze Gebäude war ziemlich energisch, war ziemlich laut."

Immerzu Scham, Stress, Angst

Friedrich hatte Angst, dass die Klassenkameraden ihn auslachen, mit dem Finger auf ihn zeigen, ihn ausgrenzen. Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit stigmatisiert. Der Junge hat alles mit sich allein ausgemacht:
"Also, mit Freunden habe ich gar nicht darüber gesprochen, ich habe den Lehrern nix davon erzählt. Das war mir auch zu unangenehm. Und dann hatte ich ziemlich keine Lust auf die Schule, weil es ging mir nicht gut. Ich wollte eigentlich nicht dahin und mir noch mehr Stress machen. Die Klassenkameraden wussten auch nicht. Das war dieses Gefühl von Scham, so."
Schon Erwachsene wirft der Verlust der Wohnung aus der Bahn. Wie kann ein Kind so etwas verkraften? Schlecht, sagt Anniko Reusche vom Sozialprojekt "Viadukt":
"Das sind auch ganz viele Konflikte: Das ist eng. Da leben dann auch Paare mit Kindern. Es ist viel Unruhe. Nicht nur in der eigenen Familie, sondern da ist auch ganz viel Unruhe von außen und die Kinder haben ja überhaupt keinen Raum, sich zurückzuziehen."
Und müssen wie Friedrich Möller früh Verantwortung tragen:
"Ich war der Älteste. Ich habe auch Aufgaben übernommen", sagt der Junge. "Wenn meine Mutter mich um etwas gebeten hatte, aufzupassen oder so, habe ich es ohne Widerrede gemacht. Ich wollte ja auf jeden Fall helfen. Ich habe meine Mutter verstanden, was sie durchmacht, und habe sie auch traurig gesehen. Sie hat angefangen zu weinen und dann habe ich begriffen, dass ich einfach nicht wie die anderen bin, sondern mehr helfen muss, das ist einfach so."

Kein Kind hat das verdient

Da mache es auch keinen Unterschied, ob das Kind sieben, acht, neun Jahre alt sei oder 16, 17, sagt Gerd Geil: "Und wenn ein Kind drei Jahre alt ist, dann realisiert es diesen gesellschaftlichen, diesen soziopolitischen Zusammenhang nicht. Aber es wird in so einem System sozialisiert. Das ist auch nicht schön und niemand hat das verdient."
"Eine wahnsinnige psychische Belastung ist das", sagt Lea Sewiolo. "Ich hatte vor allen Frauen mit kleineren Kindern. Da sieht man die Kleine über drei Jahre immer wieder in Abständen und die hat so wahnsinnig traurige Augen. Das macht etwas mit der Seele, das hinterlässt etwas."
Das Kölner Projekt "Viadukt" unterstützt Menschen, die wieder ein eigenes Zuhause wollen. Das Besondere: Hier arbeiten Sozialarbeiter und Wohnungsmakler Hand in Hand, erklärt Anniko Reusche. Ihre Aufgabe als Sozialarbeiterin ist es, das Erstgespräch mit den Wohnungslosen zu führen:
"Da prüfe ich, inwieweit unsere Klienten in der Lage sind, einen eigenen Haushalt zu führen und ob einfache Behördengänge wieder möglich sind. Das sind alles Sachen, die müssen bei uns auch schon wieder funktionieren, bevor man eine Wohnung haben kann."

Ethnische Minderheiten und Kinderreiche im Nachteil

Die zukünftigen Mieter, die von "Viadukt"-Mitarbeitern geschickt werden, genießen einen gewissen Vertrauensvorschuss, und das soll auch so bleiben. Die beiden Immobilienmakler des Projektes suchen auf dem Markt nach Wohnungen. Das ist auch in Köln nicht einfach. Aber, sagt Anniko Reusche:
"Die gehen dem Vermieter so lange hinterher, bis der Vermieter dann irgendwann sagt, okay, sie kriegen die Wohnung. Und da haben sich jetzt stabile Beziehungen auch aufgebaut. Wir arbeiten auch mit Wohnungsbaugesellschaften zusammen und mit Privatvermietern. Und es gibt mittlerweile einen unglaublich großen Vertrauensvorschuss. Wir bekommen die Wohnung mittlerweile angeboten, bevor die ins Internet kommen, zu Immoscout oder anderen Portalen. Das ist ein sehr schnelles Geschäft. Manchmal haben wir einen Tag Zeit und dann schaue ich halt, was passt. Das ist die Aufgabe von mir halt. Einfach zu gucken, welche Familie könnte gut in welchem Stadtteil leben? Da muss ich auch gucken, sind Schulkinder da? Kann man Schulkindern den Wechsel in eine andere Schule zumuten?"
Gibt es ein Wohnungsangebot, muss das Mietangebot, das die Viadukt-Mitarbeiter vom Vermieter erbitten, bei Leistungsbeziehern vom Jobcenter geprüft werden. In manchen Städten schon ein K.o.-Kriterium, weil die Behörde prüft und prüft und prüft und dann das Angebot auf dem heiß umkämpften Markt nicht mehr steht. In Köln arbeite man super zusammen, sagt Anniko Reusche. Sie spricht mit den Vermietern auch wegen negativer Schufa-Einträge, versichert, dass man gemeinsam mit den Mietern für regelmäßige Miete sorgen wird und sie auch mit der Schuldnerberatung zusammenarbeiten. Trotz aller Bemühungen kann es passieren, dass die Vermieter nicht an ihre Klienten vermieten:
"Es ist beschämend, aber es immer noch so, dass tatsächlich auch die Hautfarbe eine Rolle spielt und dann Familien mit vielen Kindern."

Endlich ein eigenes Zimmer

Die fünfköpfige Familie Möller wäre auch gern in die 80-Quadratmeter-Wohnung gezogen, die den Viadukt-Maklern angeboten wurde. Doch der Vermieter fand, das sei eine Überbelegung. So hieß es weiter warten. Nach drei Jahren war es für Friedrich, seine inzwischen drei Brüder und die Mutter dann soweit:
"Meine Mutter hat mich angerufen und meinte, wir haben eine Wohnung gefunden. Ich habe mich gefreut. Ich hatte mein eigenes Zimmer. Wir hatten großes Wohnzimmer und alles konnte man abschließen. Diese Privatsphäre, und dieses Gefühl, so ein Junge zu sein, der sein eigenes Zimmer hat – das war echt schön. Ich konnte meine Sachen da verstauen. Hausaufgaben konnte ich machen – ganz ruhig. Meine Brüder hatten ihr eignes Zimmer. Ich habe ziemlich schnell Freunde gefunden, das war ein echt cooles Gefühl, einen Freund bei mir zu Hause zu haben, mit dem man zu Hause so chillen kann und so ja ein ganz normaler Junge. Endlich."
Es gehe ihnen jetzt viel, viel besser, sagt Maria Möller:
"Ich habe es auch an meinen Kindern gesehen – die haben zugenommen. Das heißt nicht, dass sie abgenommen hatten, weil die nichts zu essen hatten. Aber die waren einfach nicht glücklich. Und mein Jüngster hat jetzt ein Zuhause. Er kannte das nicht, eine eigene Wohnung zu haben. Und dieses Gefühl tut mir als Mutter sehr gut."

Ist Deutschlands Wohnungspolitik falsch?

Hilfen wie "RE_StaRT" oder "Viadukt" gibt es unter anderen Namen und anderer Trägerschaft in vielen Städten. Was es nicht gibt, sind ausreichend bezahlbare Wohnungen. Und sie sind leider auch nicht in Sicht. Die Wohnungsnot gefährdet den sozialen Frieden.
Andere Länder scheinen das zu wissen. In Österreichs Hauptstadt Wien zum Beispiel leben 62 Prozent der Einwohner in einer Wohnung mit gedeckelten Mieten. Dafür steckt die Stadt 600 Millionen Euro im Jahr in die Wohnbauförderung. Außerdem hat Wien im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Großstädten den eigenen Wohnungsbestand nicht verscherbelt. Man vertraut also nicht allein auf den Markt.
In Deutschland setzt das zuständige Bauministerium auf Selbstregulation des Marktes, 5 Milliarden Förderung bis 2021 und Baukindergeld. Für die Wohnraumförderung hatte der Bund den Ländern im vergangenen Jahr zirka 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dem Bericht des Bundesbauministeriums zufolge floss es in die Förderung von etwa 12.000 Eigenheimen, in die Modernisierung von knapp 18.000 Wohnungen mit Mietpreisbindung sowie in den Neubau von etwa 27.000 Sozialwohnungen.
"Im Grunde gucken wir alle weg", sagt Gerd Geil. "Wir regen uns auf, dass Benzin ein bisschen teurer wird oder dieses teurer wird und jenes. In diesem Land gibt es sehr viel Geld, was falsch eingesetzt wird und wir gehen auch falsch mit den Leuten um: superreiche Menschen, Millionäre – natürlich können die mehr an Steuern zahlen… Ich meine uns, die Mittelschicht. Wir gucken zu viel weg. Wir können uns auch nicht mehr damit herausreden, dass wir im Winter für die Obdachlosenhilfe Kuchen backen, Socken kaufen oder so etwas. Das ist wie der Ablassschein im Mittelalter. Der führt zu nichts. Wir müssen dafür sorgen, dass wir ein System schaffen, dass Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit weniger wird. Andere Länder schaffen das. Sie sind bereit, innovative Wege zu gehen. Nur wir in Deutschland schaffen das irgendwie nicht. Wir sind da ein wenig bornierter als andere in Europa."

Mitwirkende:
Autorin: Dorothea Brummerloh
Sprecherin: Inka Löwendorf
Regie: Frank Merfort
Toningenieur: Andreas Krause
Redaktion: Constanze Lehmann
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2019

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