Wohnen

Zimmer für 185 Euro

Ein Einzelzimmer im Wohnheim.
Die Zimmer in dem Münchner Ledigenheim sind Einzelzimmer, die sich jeder individuell einrichten kann. © Andi Hörmann, Deutschlandradio Kultur
Von Andi Hörmann · 02.01.2014
In München steht das letzte noch betriebene Ledigenheim in ganz Europa. Vor 100 Jahren gegründet, leben hier 400 Arbeiter, Angestellte, Auszubildende, Arbeitslose aus 47 Nationen. Als gemeinnütziges Haus ist das Ledigenheim ein Auffangbecken für all diejenigen, die für eine reguläre Miete in München nicht genug Geld verdienen
Fast lautlos schieben sich die Bewohner durch die eichenhölzerne Drehtür. In die Eingangshalle scheint Tageslicht über ein achteckiges Oberlicht mit quadratischen Glaskacheln. Auf den Tischen stehen Einwegaschenbecher aus Aluminium. Ein älterer Mann in Strickjacke blättert in einer kroatischen Zeitung. In der Pförtnerloge hängt Dieter Philip auf einen vergilbten Drehständer aus Holz nummerierte Zimmerschlüssel:
"Für den ein oder anderen kaufe ich auch ein, wenn er krank ist. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich den kenne. Weil: So lasse ich die Leute gar nicht an mich ran. Ich bin selber so ein - wie soll ich sagen - Einzelgänger."

"Grüß Gott, Ledigenheim, Philip...
"…"
"Ja, ich verbinde."
"…"
"Frau Bethcke, ihr Bruder ist dran."
Claudia Bethcke ist seit drei Jahren die sogenannte Objektverwalterin im Ledigenheim München. Im Büro hinter der Pförtnerloge sitzt sie in ärmelloser Steppweste am Schreibtisch ‑ eine Frau auf dem Chefsessel in einem Männerwohnheim.
Vor genau 100 Jahren wird das Ledigenheim als gemeinnütziger Verein gegründet: eine Reaktion auf den extremen Wohnungsmangel für Arbeitskräfte mit geringem Verdienst in Zeiten der Industrialisierung. Noch heute gilt die Vereinssatzung von damals. Im Haus hat nur jemand Anspruch auf ein Zimmer, der auch ´sozial schwach` ist. Claudia Bethcke prüft die Bewerber ganz individuell.
"'Sozial schwach' ist natürlich ein dehnbarer Begriff. Es war vor ein paar Monaten 'mal ein Mann hier, der hat mir seine Gehaltszettel gezeigt und da stand ganz unten: 'Netto 3000'. Den habe ich freundlich angelächelt und gesagt, er möchte sich doch auf dem privaten Wohnungsmarkt eine Wohnung suchen. Es gibt genauso aber auch die Situation, dass ein Mann kommt und ein Nettogehalt hat, wo man auch sagt: Mensch, das ist ja eigentlich ganz in Ordnung. Der kann mir aber nachweisen, dass er Ehegattenunterhalt zahlen muss nach der Scheidung, dass er Kindesunterhalt zahlen muss, also er kann mir nachweisen: Ihm bleiben 1200 Euro im Monat. Dieser Mann ist im Sinne unserer Satzung 'sozial schwach', weil man in München mit 1200 Euro praktisch keine Wohnung bekommen kann. Das ist unmöglich."
Durch die Drehtür schiebt sich ein Mann: Ende 40, gestrickte Seemannsmütze, schwarze Lederjacke und Sicherheitsschuhe. Erwin Schneider kommt nach einer Zwölfstundenschicht von seinem Hauptjob: Objektsicherheit. Frühmorgens hat er schon drei Stunden in seinem Nebenjob als Hausmeister bei einem Discountsupermarkt gearbeitet. Post gibt es für ihn keine an der Pforte. Er nimmt Zimmerschlüssel 328.
"Ich arbeite fast rund um die Uhr. Tag wie Nacht und Sonn- und Feiertage."
Im Fahrstuhl lehnt sich Erwin Schneider gegen die Spiegelwand. Er hat sich, bevor er ins Ledigenheim gezogen ist, mit einer eigenen Sicherheitsfirma schwer verschuldet. Die nächsten zehn Jahre wird er mit gut der Hälfte seines Einkommens noch Kredite abzahlen. Zum Leben bleiben ihm knapp 800 Euro im Monat.
3. Stock: Grauer Linoleumboden, schmale Gänge, Rauchmelder an den Decken.
"Das ist so die kleine Oase. Bett. Links ist ein Waschbecken. Da ein Tisch. Wenn man Platzangst hat, sollte man sich ein größeres Zimmer geben lassen."
Ganz so einfach dürfte das nicht sein ‑ die sieben Quadratmeter kleinen Zimmer sind zwar winzig, aber sehr begehrt. Für 185 Euro haben die Bewohner anders als in Wohnheimen mit Mehrbettzimmern ihr eigenes Reich mit Schlüssel und Zimmernummer ‑ Möbel und tägliche Reinigung inklusive.
Dreiviertel der 387 Männer, die derzeit im Ledigenheim wohnen, stammen aus dem Ausland. 47 Nationen leben hier unter einem Dach. Und das, sagt Erwin Schneider, klappt erstaunlich gut. Die Männer teilen sich eine Waschküche im Keller und eine Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss: zehn Kochnischen mit Gasherd und schuheschachtelgroße Kühlschränke wie Schließfächer.
Ledig muss im Ledigenheim niemand sein, erzählt Dieter Philip in der Pförtnerloge. Viele sind verheiratet und unterstützten mit ihrem Arbeitslohn in München die Familie im Heimatland. Frauenbesuch auf den Zimmern ist jedoch nicht gestattet ‑ der Pförtner hat ein Auge darauf:
Dieter Philipp: "Ja, das ist schon vorgekommen, dass sie versucht haben, jemanden reinzuschmuggeln. Aber das sind die lieben Freunde und Nachbarn, die sofort hergehen und die verpetzen. Das ist wohl der Futterneid, oder so. Was ich nicht darf, das darf der auch nicht. Dann muss ich hochgehen und sagen: Komm, du weißt Bescheid, wenn du das Zimmer hier behalten willst, dann schick sie weiter."
Hört einer der Männer dann immer noch nicht, klopft gern auch mal die Chefin persönlich.
Claudia Bethcke: "Ich denke, dass es sogar ein Vorteil ist, eine Frau zu sein, weil den Männern doch das ein oder andere peinlich ist bei einer Frau. Wenn ich da klopfe und sage: Entschuldigen sie die Störung, ich bitte sie jetzt inständigst, nicht mehr in dieses Waschbecken zu pinkeln, dann war das dem Bewohner in diesem Fall wirklich unangenehm. Er hat sich entschuldigt und zumindest pinkelt er seitdem nicht mehr in das Waschbecken."
Erwin Schneider kennt all die Geschichten. Hat aber kaum Zeit und Muße sie großartig zu kommentieren. Er ist nach seiner Zwölfstundenschicht einfach zu müde. Und hat im Ledigenheim gelernt, vieles um ihn herum einfach auszublenden.
"Hier in dieser Gegend ist dort eine Kirche, dort eine Kirche... Also sind drei Kirchen. Und die bimmeln zu jeder vollen Stunde immer schön laut. Das bekommt man schon gar nicht mehr mit. Wenn man das nicht mehr mitbekommt, dann bekommt man auch dieses drumherum hier nicht mehr mit. Das ist wirklich so. Man schaltet dann quasi ab."