Wochenrückblick

Messies, Frau M. und das Gro-Ko-Dil

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CDU-Chefin Angela Merkel unterschreibt den Koalitionsvertrag. © dpa / picture alliance / Maurizio Gambarini
Von Arno Orzessek |
In den Feuilletons dieser Woche steckt sehr viel Kritik: am Kapitalismus, an Zürcher Neubauten, an NSA und SPD, am schwarz-roten Vertrag auch. Der bekommt aber eher milden Spott.
Artgerecht betrübt vergeht der meteorologische November… Und folgt man den Feuilletons der vergangenen Woche, ist auch der Gesamtzustand der Welt novemberlich. Zwar nannte Papst Franziskus sein apostolisches Schreiben "Evangelii Gaudium", also: "Freude des Evangeliums", seine Gegenwartsdiagnose aber fiel freudlos aus:
"Diese Wirtschaft tötet", zitierte die FRANKFURTER RUNDSCHAU Franziskus' pointierte Kapitalismuskritik.
Dass diese Wirtschaft mittels der Bauprojekte geldmächtiger Finanziers auch die Innenstädte verödet, zeigte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG am Beispiel von Zürichs neuem Stadtviertel Europaallee. Laura Weissmüller beschrieb, wie es dort abends aussieht:
"Das Viertel ist fast surreal leer. Kein Mensch läuft über die breiten Treppen, keiner in den schmalen Gassen zwischen den streng rechtwinkligen Gebäuden. Niemand stört die herrschaftliche Geometrie."
Traurig resümierte die SZ: "Für das, was man einmal unter öffentlichem Raum verstanden hat, sah es noch nie so düster aus."
Und Gleiches gilt natürlich auch für das, was einmal Privatsphäre hieß. In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG diagnostizierte Eduard Kaeser, dass die amerikanische Schnüffel-Gang NSA unter schwerer Desorganisationsproblematik, vulgo: unter dem Messie-Syndrom leidet:
"Genau das ist das Symptom für den Messie: Er sammelt wahllos alles, weil er es vielleicht irgendwann noch brauchen kann."
Die Sammel-Krankheit der NSA manipuliert laut TAGESZEITUNG allerdings die Psyche der Ausgespähten. TAZ-Autor Ilja Trojanow erläuterte die Ergebnisse einer Umfrage der Schriftsteller-Vereinigung PEN in den USA. Heraus kam, so Trojanow…
"dass 16 Prozent der Befragten bestimmte Themen inzwischen bewusst vermeiden, nicht nur im persönlichen Gespräch und in E-Mails, sondern auch in ihren Texten. Mit anderen Worten: Fast ein Sechstel aller Autoren in den USA übt schon eine Art der Selbstzensur aus."
Trojanows Conclusio: "Repression muss keineswegs stets brutal und aggressiv daherkommen. Im Gegenteil: Die effizienteste Repression ist jene, die dem Einzelnen das Duckmäusertum so schmackhaft macht, dass er sich selbst auf untertänige Diät setzt."
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG berieten sich Telekom-Chef René Obermann und Frank Rieger vom Chaos Computer Club über die Vorzüge des sogenannten "Schengen-Routings". Dabei würden die hiesigen Datenströme an den Computern der amerikanischen Spionagekartelle vorbeigelenkt. Folgt man Frank Rieger, müsste dann auch der Bundesnachrichtendienst BND zurückstecken:
"Ein interessanter Aspekt des Schengen-Routings wäre, dass dem BND die fadenscheinige Begründung genommen würde, allen Internetverkehr auch im Inland per se dem Ausland zuzurechnen. Mit diesem Winkelzug wurde legitimiert, fast den vollständigen Datenverkehr in Deutschland auszuspähen und mit NSA und anderen Diensten zu teilen. Würde auf technischer Ebene zweifelsfrei sichergestellt, dass deutsche Bits in Deutschland bleiben, wäre deutscher Internetverkehr für den BND nicht mehr legal zugreifbar."
Nicht, dass China ein freieres Land wäre als das unsrige. Der Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei wird dort übel drangsaliert. Allerdings, so die Tageszeitung DIE WELT, springt Ai Weiwei mit den Verfolgungsbehörden seinerseits bisweilen wenig zimperlich um:
"Im Pekinger Chaoyang-Park […] konnte er mit einem Freund einen der penetranten 'Beobachter' überwältigen. Sie nahmen ihm den Fotochip aus der Kamera weg und veröffentlichen Dutzende von Fotos, die er von Ai, Freunden und Familie heimlich aufnahm. Ai drehte einen Videoclip über die Aktion und vertonte ihn mit einer selbst gesungenen Ballade. Die Behörden griffen nicht ein. Sie müssten sich sonst zu ihren 'Zivilen' bekennen",
erklärte der WELT-Autor Johnny Erling.
Doch zurück nach Deutschland, das demnächst vom Gro-Ko-dil – so der zoologische Name der verabredeten Großen Koalition – heimgesucht werden könnte. Der Schriftsteller Ingo Schulze, Mitinitiator des Aufrufs "Wider die große Koalition", fände das schlimm. Schulze legte seine Kritik an den koalitionswilligen Sozialdemokraten einer Frau M. in den Mund:
"Die wissen doch selbst nicht mehr, was sie wollen. Sie haben kein politisches Selbstbewusstsein mehr, genauso marktkonform wie Merkel, immer nur Wachstum, Wachstum. Unsere Gesellschaft hat kein Wachstumsproblem, sondern ein Gerechtigkeitsproblem. Und diese Angst, als vaterlandslose Gesellen zu gelten! 24 Jahre nach dem Mauerfall getrauen sie sich nicht, auch nur mit der Linken zu reden. […] Und für solche Waschlappen noch einen Finger rühren?"
wetterte in der TAZ Frau M. als Medium des Schriftstellers Ingo Schulze.
FAZ-Autor Nils Minkmar gehörte unterdessen zu den ersten Lesern des fertigen Koalitionsvertrags:
"Wer sich den Vertrag durchliest, wird vor lauter Detailregelungen […] zunächst gar nicht bemerken, was fehlt, nämlich irgendein konservativer Kern. […] Die habituelle Hysterie der Sozialdemokraten […] hat die Aufmerksamkeit ganz von der Kanzlerin und vor allem von ihrer Partei abgelenkt. Es ist gerade angesichts des wohlig-warmen Vertrags gar nicht klar, wozu sie eigentlich eine weitere Amtszeit als Kanzlerin anstrebt. Im wesentlichen will sie tun, was die Leute gern möchten. Gäbe es hier große Fanclubs der Serie 'Flipper', würde sie einen Absatz für mehr Meeressäuger im Fernsehen in den Vertrag schreiben lassen",
spottete Nils Minkmar.
Zum Schluss noch etwas anderes. In der Wochenzeitung DIE ZEIT konstruierte Alice Schwarzer schon mit der Überschrift "Prostitution Pädophilie" eine Analogie zwischen beiden Körper-Praktiken… Und kam dann ins Plaudern: "Es ist mir in den vergangenen Monaten aufgefallen, dass Männer sich viel öfter kritisch über Prostitution äußern als Frauen. Frauen scheinen Angst zu haben, als prüde oder Spaßbremse zu gelten. Vor allem wenn sie jünger sind und Männern gefallen wollen."
Wir sagen zu dieser billigen Agitation nur: Ach, Alice! Allen Hörern aber wünschen wir mit einer SZ-Überschrift: "Lust auf sich selbst".