Wochenkommentar zu TTIP

Politische Platzangst

Bürger lesen am 02.05.2016 in Berlin am Brandenburger Tor in einem gläsernen Leseraum in den von Greenpeace veröffentlichten TTIP-Dokumenten.
Bürger lesen am Brandenburger Tor in den von Greenpeace veröffentlichten TTIP-Dokumenten. © picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
Von Arnd Pollmann · 08.05.2016
Unsere Regierungen zeigen Symptome zwanghafter Angst, meint Arnd Pollmann. Die Intransparenz bei den TTIP-Verhandlungen sei symptomatisch für die Abschottung vor dem Volk. Pollmann konstatiert eine Art politische Agoraphobie.
Die Aktion "TTIP-Leaks" hat die bislang geheimen Verhandlungspapiere endlich dorthin gebracht, wo sie hingehören: in die Öffentlichkeit, ins Parlament, unter demokratische Kontrolle und damit heraus aus den Hinterzimmern der Geheimdiplomatie.
Die Aktion war ein symbolischer Akt der Aufklärung: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Auch Kant hätte empfohlen, vorab erst einmal selbst in den Text hineinzuschauen.
Und so karikiert der gläserne Container vor dem Reichstag den berüchtigten "TTIP-Leseraum", der erst im Januar, nach langen Protesten, im Wirtschaftsministerium eingerichtet wurde. Zugänglich nur für Abgeordnete und unter strengen Auflagen: Das Handy muss abgegeben werden, Abschriften sind untersagt, niemand darf mit irgendjemandem über das, was dort zu lesen ist, sprechen. Eine Farce. Mitglieder der Legislative werden exekutiv zum Schweigen gebracht. Wenn das keine Sabotage der Gewaltenteilung ist ...

Politik und Wirtschaft unter einer Decke

Die Intransparenz im Fall TTIP ist symptomatisch: Wir leben in einer Welt, in der die Politik nicht selten mit großen Wirtschaftsunternehmen unter einer Decke steckt, und zwar zu Ungunsten vieler Verbraucherinnen. Im Deutschen Bundestag gehen doppelt so viele Lobbyisten wie Abgeordnete ein und aus. Und auch in internationalen Verhandlungen ist der Druck der Lobby so enorm wie destruktiv. Da verwundert es nicht, dass die Verhandlungsführer der USA dem Deutschen Bundestag verboten haben, den besagten Leseraum direkt im Parlamentsgebäude einzurichten.
Ist diese Umgehung des Parlaments nur ein weiteres Anzeichen für die schleichende Kapitulation der Politik vor der Komplexität der Weltwirtschaft? Oder ist die besagte Geheimniskrämerei vielmehr Sinnbild einer grassierenden Panik, die man "politische Platzangst" nennen könnte?

Die Politik fürchtet das Volk

Die Psychologie spricht von "Platzangst" oder von "Agoraphobie", wenn eine Person große Plätze oder Menschengedränge meidet, weil sie befürchtet, im Notfall nicht rechtzeitig fliehen zu können. In der Politik nimmt diese Angst vor der Agora die Form einer Furcht vor dem demos, dem Volk, an.
Auf der Agora, dem Marktplatz der Ideen und der öffentlichen Willensbildung, wurde die griechische Demokratie erfunden. Wer schon einmal durch Athen spaziert ist, wie einst Kleisthenes, Perikles oder Aristoteles, wird im Rückblick auf einen städtebaulichen Umstand aufmerksam, der auch philosophisch interessant ist: Die dortige Agora hatte keine Lobby, keinen Vorraum, in dem man hätte "antichambrieren" können. Die griechische Demokratie war eine Politik im Freien. Lobby-Politik hingegen braucht ein Dach über dem Kopf. Nur dann kann sie hinter verschlossenen Türen stattfinden.

Zwanghafte Angst und Hysterie

Unsere Regierungen zeigen Symptome zwanghafter Angst: Das Volk könnte ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Man traut dem Volk nicht. Mindestens so groß wie die Politikverdrossenheit des Volkes ist die Volksverdrossenheit der Regierenden. Und geradezu unverschämt an der derzeitigen Diskussion ist das Folgende: Die regierungsamtliche Platzangst wird psychisch – ganz so wie Freud es beschrieben hat – "abgewehrt", indem die Politik umgekehrt dem Volk eine hysterische Angst vor TTIP andichtet.
Wie aber soll man nicht hysterisch werden angesichts eines weltpolitisch folgenschweren Vorgangs, über den sich alle Beteiligten in neurotisches Schweigen hüllen? Der Inhalt der TTIP-Vereinbarungen mag grausig genug sein. Die politische Form jedoch, mit der uns dieser Inhalt paternalistisch vorenthalten wird, treibt demokratisch gesinnte Menschen in den Wahnsinn.
Mit aufgeklärter Demokratie, so wie sie den alten Griechen oder auch Rousseau vorschwebte, hat das alles nichts mehr zu tun. Oder um es mit Kant zu sagen: Die große Koalition der Demokratieunwilligen wünscht sich offenbar ein Volk, das in "fremdverschuldeter Unmündigkeit" verbleibt. Daher gilt bis auf Weiteres: TTIP ist eines der wenigen Themen, über die wir uns aufregen dürfen, obwohl wir nichts davon verstehen. Und zwar so lange, bis sich auch unsere Regierenden wieder daran erinnern, wer laut Verfassung der eigentliche Souverän ist.
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