Wo Lawrence von Arabien am Brunnen saß

Von Beatrice Ürlings · 05.08.2010
Tal des Mondes wird die Wüstenlandschaft des Wadi Rum im südlichen Jordanien genannt - wegen des roten Sandes, der Krater und der bizarren Felsformationen. Bekannt wurde das Gebiet durch den Film "Lawrence von Arabien".
Am liebsten hockt er einfach nur da, barfuß im Schneidersitz, und spielt traditionelle Beduinenmusik auf seiner Flöte. Die Strahlen der aufgehenden Sonne verfangen sich in vereinzelten Granittürmen zwischen den schier endlosen Dünen. Es ist ein Licht wie in einer Kathedrale. Es ist das alltägliche Naturschauspiel von Wadi Rum. Wadi bedeutet "Tal", Rum bedeutet "Sand". Vor 1,5 Millionen Jahren erstreckte sich hier ein gigantisches Binnenmeer.
Heute ist Wasser Mangelware. Das Morgenland nimmt, das Morgenland gibt, sinnt Rebhe Hasnat und schweigt dann eine Weile. So machen das die Beduinen, um den Spannungsbogen zu erhöhen. Das Erzählen von Geschichten hat große Tradition bei den Wüstenbewohnern. Der Wezirentochter Scheherazade rettet ihre Redekunst in 1001 Nacht sogar das Leben. Rebhe lehnt sich vor und sagt:

"Die Wüste ist für mich ist wie eine Mutter. Wenn du keine Decke hast, dann deckt der Sand dich zu. Die Sonne wärmt dich. Die Berge sind deine engsten Vertrauten. Wir alle brauchen jemanden zum Reden, aber mit den Freunden ist das so eine Sache: Nur die wenigsten sind zuverlässig. Wenn mich etwas beschäftigt, wovon ich keinem erzählen kann, dann komme ich hierher und spreche mit den Bergen und mit dem Sand. Sie hören mir zu und sie wahren meine Geheimnisse besser als die Menschen. In der Wüste findest du dich selber, besser als an jedem anderen Ort."

Rebhe Hasnat trägt ein kunstvoll drapiertes, wadenlanges Gewand, das von einem leuchtend roten Bandelier zusammengehalten wird. Seine grünen Augen funkeln wie Smaragde. Das Haar unter der Kufiya, wie die traditionellen Kopftücher der Beduinen genannt werden, ist schwarz wie die Nacht.

Rebhe ist nach dem nomadischen Vorbild seiner Ahnen aufgewachsen. Von seinem Großvater, der eine Kamel-Karawane betrieb, hat der heute 37-Jährige gelernt, sich in der Wüste zurechtzufinden. Als der Großvater starb, verkuppelten die Eltern ihren Sohn mit einer Kusine aus der Hauptstadt Amman. Eine Frau, schön wie die jordanische Königin Rania, die von ihrem Volk wie ein Popstar verehrt wird. Rebhe hält den Blick starr auf den Berg Jebel gerichtet - der mit 1832 Metern höchsten Erhebung in der Wüste von Wadi Rum:

"Sie war und ist die große Liebe meines Lebens. Für sie bin ich sesshaft geworden und in die Stadt gezogen. Aber das ging nicht lange gut, denn ich konnte die Wüste nicht vergessen. Als wir uns trennten, habe ich nur meinen Fallschirm mitgenommen, denn die Felsen hier eignen sich wunderbar für diesen Sport. Eines Abends hat mich Prinz Ali, der Bruder von König Abdullah, dabei gesehen. Seither vertraut er mir allerlei Staatsgäste für Wüstentouren an und er hat mich auch überredet, ein Camp für Schulkinder zu leiten: Ich bringe den Kleinen bei, wie man Feuer macht, Zelte baut, sich nach den Sternen orientiert. Es geht darum, ihnen zu zeigen, dass sie nicht darauf warten, dass andere ihnen weiterhelfen, man muss imstande sein, sich selber zu helfen."

Rebhe hat Prinz Ali vieles zu verdanken. Der Beduine braucht sich heute nur noch mit Kamelen fortzubewegen, wenn er Lust dazu hat. Zielsicher steuert er seinen funkelnagelneuen Jeep durch die Wüste. Die Fahrt geht vorbei an monolithischen Felsformationen, die selbst für erfahrene Bergsteiger eine große Herausforderung darstellen. Die Felsbrücke von Burdah hat eine Höhe von 35 Metern und gilt als einer der höchsten natürlichen Bögen der Welt. In den Schluchten darunter finden sich bis zu 4.000 Jahre alte Felszeichnungen. In Wadi Rum finden sich Hinterlassenschaften von vielen Völkern - manche sind längst ausgestorben, andere leben in Beduinen wie Rehbe weiter:

"Meine Familie ist vor 200 Jahren aus Saudi-Arabien in den Süden Jordaniens übergesiedelt: Die Grenze liegt nur 89 Kilometer von hier entfernt. Das hört sich nicht nach viel an, aber die Distanzen sind trügerisch hier. Ich habe Leute gesehen, die mit riesigen Geländewagen hier anfuhren, aber schon nach zehn Metern im Sand feststeckten. Du darfst die Wüste nicht mit dir spielen lassen, du musst mit der Wüste spielen. Wenn du das kannst, dann gibt es keinen besseren Ort auf Erden! Eine Stunde von hier entfernt gibt es eine riesige Oase mit Bananen und Früchten und allem, was du dir vorstellen kannst. Manche sagen: In der Wüste gibt es kein Leben, aber das stimmt nicht, du musst nur wissen, wo du es findest!"

Endstation Palm Camp, es ist Mittag, das Thermometer zeigt 44 Grad im Schatten an, schwitzende Beduinenjungen führen störrische Kamele zur Tränke. Neben Schuldkindern empfängt Rhebe im Palm Camp auch Touristen aus aller Welt. Viele kommen wegen des Monumentalklassikers "Lawrence von Arabien". Der mit sieben Oscars ausgezeichnete Film erzählt die Geschichte des britischen Offiziers Thomas Edward Lawrence, der während des Ersten Weltkriegs in Wadi Rum stationiert war. Lawrence verbündete sich mit Prinz Faisal und führte die Araber zum Sieg gegen die Türken. Seine Heldentaten bestimmen unser Leben bis heute, sie sind zugleich Teil der Vergangenheit und Gegenwart, erzählt Rebhe:

"Wir Beduinen haben nie vergessen, was Lawrence für uns getan hat. Brunnen, Berge, Häuser werden nach ihm benannt und mindestens jedes zehnte Kind hier heißt wie er. Dieser Mann hat uns verstanden wie kaum ein anderer Europäer. Er kleidete sich nicht nur wie ein Scheich, er hatte auch als Person das Zeug dazu. Wir wählen unsere Stammesoberhäupter nur bedingt nach ihrem Familiengeschlecht aus. Wenn unser Scheich stirbt und er hat einen guten Sohn, dann tritt der die Nachfolge an. Aber wenn der Sohn kein guter Mensch ist, dann kommen wir alle zusammen und wählen jemanden anderen aus."

Rebhe schiebt eine DVD in seinen von Dieselgeneratoren gespeisten Computer. Es ist eine große Szene der Filmgeschichte: Lawrence von Arabien, der mit ansehen muss, wie sein Freund erschossen wird, weil er Wasser von der Quelle eines anderen Beduinen trinkt.

Rhebe schüttelt verärgert mit dem Kopf. Er ist stolz auf sein Land, das nur wenig größer ist als Bayern und als Wundertüte der arabischen Welt gilt. Und wie viele sieht auch er in Jordanien, das mit Israel Frieden geschlossen, das Vorbild für einen besseren Nahen Osten: Stabil, sicher und dabei liberaler und toleranter als seine Nachbarn Syrien, Irak oder Saudi Arabien. "Eine ruhige Oase in einer lauten Nachbarschaft": So hat der verstorbene König Hussein seine konstitutionelle Monarchie einmal genannt. Das gefällt Rebhe:

"König Hussein hat vor seinem Tod veranlasst, dass die Hollywood-Version von 'Lawrence von Arabien' nicht mehr im jordanischen Fernsehen gezeigt wird, weil so viele Sachen darin nicht stimmen. Diese Szene am Brunnen zum Beispiel: Keinem Beduinen käme es je in den Sinn, einem Fremden Wasser zu verwehren! Das Wasser ist für jeden da. Wir Wüstenbewohner haben keine Besitzansprüche und wir sind ein friedliches, tolerantes Volk. Wir leben nach den drei Geboten unsere Vorfahren, die besagen: Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht lügen, du sollst nicht töten. Alles andere musst du mit dir und deinem Gott ausmachen. Ich bin zum Beispiel Muslim, aber ich trinke trotzdem manchmal Alkohol, weil ich das in Ordnung finde."

Unweit vom Palm Camp liegt der Ortskern von Wadi Rum. Mehrere hundert Beduinen leben dort, teils in Zelten, teils in Betonhäusern. Es gibt einige Geschäfte und eine Station der Wüstenpolizei, sowie je eine Jungen- und eine Mädchenschule. Rebhe selber hat die Schule nur sechs Jahre besucht. Seine beiden Söhne, die bei der Mutter in Amman leben, gehen auf eine Privatschule. Der Beduine sieht darin keinen Widerspruch. Er philosophiert, dass ein Volk erst durch Vielfalt Größe erhält. Und dass der Begriff "Familie" für seinesgleichen weit über die eigenen Kinder und Enkel hinausgeht:

"Meine Familie umfasst an die 14.000 Menschen. Die Aufgabe des Scheichs ist es, sie alle zusammenzuhalten, er ist wie ein König und zugleich Vater für uns. Alle sechs Monate lädt er uns zu sich ein, damit wir über unsere Probleme reden können. Anschließend gehen wir alle in dunkles Nebenzimmer, wo ein Kasten aufgestellt ist für Spenden. Du gibst, was du willst und keiner sieht, wie viel du gibst. Manchmal findet der Scheich 20.000, manchmal 50.000 jordanische Dinar. Mit diesem Geld hilft er den Bedürftigen oder denen, die einen Schicksalsschlag erlitten haben. Egal, ob sie nun einen Kühlschrank brauchen oder Geld, um ein kleines Restaurant zu eröffnen: Sie bekommen es und müssen erst zurückzahlen, wenn sie es wieder können, egal wie lange das dauert."

Abendessen unter freiem Sterne-Himmel im Palm Camp. Rebhes Helfer machen es spannend. Sie haben sich in einen Kreis gestellt und lassen immer wieder Sand durch ihre Hände rinnen. Es wird viel diskutiert und noch mehr gestikuliert, und es dauert fast eine Viertelstunde, ehe alle einig sind, dass die Temperatur stimmt. Die Ausgrabung kann beginnen. Wenig später wird ein riesiger Kessel aus dem Boden gehievt, in dem sich "Zareb" befindet: Der traditionell mit Hühnchen oder mit Lamm versetzte Beduinen-Eintopf gart alleine durch die Hitze, die sich während des Tages im Sand angestaut hat.

Gut Ding will Weile haben. Ehe aufgetischt wird, bittet Rebhe um Aufmerksamkeit. Er will sicherstellen, dass auch die Gäste von auswärts sich an die Spielregeln halten. Die Beduinen benutzen nur ihre rechte Hand zum Essen - die linke gilt, wie bei den meisten islamischen Völkern, als unrein, weil sie zum Waschen und Putzen benutzt wird. In Wadi Rum ist das Leben immer noch eingefangen in den archaischen Kreislauf der Tageszeiten und Traditionen. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein. Aber die Zeit steht nicht still. Kurzes Schulterzucken, dann sagt Rebhe:

"Das Leben hat sich auch hier verändert, aber nicht zum Guten. Ich höre so viele Menschen, die immer trauriger werden, Menschen, denen das Leben immer schwerer fällt. Aber das Problem sind sie selber, denn Leben ist immer noch dasselbe: Die Sonne und der Mond haben immer noch denselben Lauf, es sind die Menschen, die sich ändern. Sie verfolgen die falschen Ideale: Geld, Karriere - all das sind so kurzfristige Illusionen. Wenn ich jemanden höre, der mir sagt, was er in zehn Jahren machen will, dann kann ich darüber nur lachen. Du kannst das Leben nicht planen, das ist in Gottes Hand. Er entscheidet, ob du morgens wach wirst oder nicht. Das größte Geschenk ist, wenn du gesund bist und wenn es deiner Familie gut geht."

Eine Beduinen-Generation auf Identitätssuche: Hin und her gerissen zwischen den alten Gewissheiten und der unbekannten Moderne. Aber nicht alle Neuerungen stoßen auf Ablehnung im Palm Camp. Ganz im Gegenteil. Nach dem Essen versammeln sich die Beduinen um ein großes Lagerfeuer und schalten ihre Ghettoblaster an. Alle Jahre wieder bebt Wadi Rum in den Klängen von Technomusik. Das Konzert namens "Distant Heat" hat Jordanien einen Platz in der internationalen Musikszene gesichert. 1.200 Besucher im letzten Jahr bewiesen, dass sich der weite Weg in die heiße Wüste für diese coole Veranstaltung lohnt.

Auch Rebhe tanzt eine Weile mit seinen Gästen. Dann schnallt er sich seinen Halfter mit dem Dolch um die Hüfte und geht hinaus in die Dünen, wo er die Nacht verbringen wird. Er erzählt von seinen Begegnung mit Touristen, die ihn mitunter vorwurfsvoll fragen, ob er keine Angst hat, seine Seele zu verlieren. Rebhes Antwort ist stets dieselbe: "Ich kann sein wie ihr, aber ihr könnt nicht so sein wie ich." Als der Beduine sich verabschiedet, klingelt sein Handy. Der Klingelton sagt mehr als tausend Worte: Schnaufende Kamele sind darauf zu hören.