Wo Frauen das Sagen haben

16.03.2009
Der argentinische Journalist Ricardo Coler hat ein Buch über ein noch existierendes Matriarchat im Süden Chinas geschrieben. Bei den Mosuo verfügen die Frauen über Besitz und Geld und treffen alle Entscheidungen. Männer haben keine Verpflichtungen, besonders ihren Kindern gegenüber nicht, und leben bei ihren Müttern.
Im Süden Chinas, nahe der tibetischen Grenze, leben rund um einen riesigen Gebirgssee die Mosuo. Es ist eine Gemeinschaft von rund 35.000 Menschen, in der die Frauen das Sagen haben. Bis heute. Hier hielt sich der argentinische Arzt, Fotograf und Journalist Ricardo Coler drei Monate lang auf und beschrieb seine Erfahrungen in einem Buch.

Vorher schon hat er verschiedene Matriarchate besucht, in Indien, in Papua-Neuguinea und im Norden Australiens und darüber berichtet. Aber das der Mosuo sei das reinste, oder wie er sagt, "das letzte wirkliche Matriarchat". Die Frauen treiben Landwirtschaft, sie fischen, einige fahren Auto. Sie sind es, die über Besitz und Geld verfügen, sie entscheiden alles. Aber die Geschlechter haben nicht nur einfach die Rollen getauscht. Neben der Hausarbeit erledigen Frauen auch schwere Arbeiten. Männer arbeiten weniger, sie haben keine Verpflichtungen, besonders ihren Kindern gegenüber nicht, und sie leben dauerhaft bei ihren Müttern.

Die Ehe kennen die Mosuo nicht. Die Frauen suchen aus, mit wem sie die Nacht verbringen. In der nächsten kann es, ohne dass dies ein Problem wäre, ein anderer sein. Eifersucht und Schmerz, wenn die Liebe vorbei ist, kennen sie zwar auch. Aber er dauert angeblich nicht lange. Als Familie bezeichnen die Mosuo nur direkte Blutsverwandte, deren Oberhaupt die Matriarchin ist. Bei ihr leben ihre Kinder, ihre Mutter und ihre Geschwister, sowohl Schwestern als auch Brüder. Auch die Kinder der Schwestern gehören dazu und die Enkel.

Ehemänner, Väter und Großväter gibt es in diesen Familien nicht. Es ist nicht einmal bekannt, von wem man väterlicherseits abstammt. Vorteil dieser Familienstruktur ist, dass keine Frau bei einem Mann wegen der Kinder bleibt oder wegen des Geldes oder aus Furcht vor Prestigeverlust – und Gewalt in all ihren Ausprägungen auf Ablehnung stößt. Nachdem man sie unter Mao in Ehen zu zwingen versuchte, gelten die Mosuo im heutigen China als schützenswerte ethnische Minderheit. Sie genießen sogar das Privileg, bis zu drei Kinder zu bekommen.
Coler ist kein Wissenschaftler, er betreibt keine ethnologische Feldstudie. Er folgt vielmehr dem Augenschein. Seine unmittelbaren Eindrücke schildert er farbig und pointenfroh in der Form der erzählerischen Reportage. Dabei versucht er durchaus, sich den Personen analytisch-psychologisch anzunähern, immer von der Frage geleitet, was passiert, "wenn nicht Männer die Hauptnutznießer einer Gesellschaft sind" und wie sich dabei die Beziehungen zwischen den Geschlechtern verändern.

Mit staunender Neugier und Sinn für skurrile Details schildert der 1956 in Buenos Aires geborene Coler den Alltag und die Lebensphilosophie einer wundersamen Stammes. Er preist die Leistungen dieser Kultur, der es offenbar gelingt, Harmonie und friedliches Auskommen miteinander an die Spitze der nachbarlichen Tugenden zu stellen. Gegen Idealisierung sucht er sich zwar nach Kräften zu schützen, indem er immer wieder seinen "patriarchalisch verengten Blick" zum Thema macht.

Doch abgesehen davon, dass man das sogenannte "Frauenparadies" durchaus von zwei Seiten sehen kann – die Bequemlichkeit, die die Mosuo-Männer genießen sind zumindest ambivalent – werden wichtige Aspekte des idyllischen Zusammenlebens ausgeblendet. So erfahren wir nichts über Kriminalität, über etwaige Geschlechtskrankheiten oder die Gefahr des Sextourismus, der einem solch promisken Paradies gefährlich werden könnte. Dennoch ist das Buch ein anregender Beitrag zu unserer Endlos-Diskussion darüber, wie man ein Leben lang alles unter einen Hut bringt, indem man es mit einem einzigen Menschen teilt: Verliebtheit, Sex, gemeinsamen Haushalt, Kinder, Freunde und verschiedene Interessen. Ein interessanter Lesestoff, wenn auch nichts für radikale Gemüter.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Ricardo Coler: Das Paradies ist weiblich - Eine faszinierende Reise ins Matriarchat
Aus dem argentinischen Spanisch von Sabine Giersberg
Kiepenheuer Verlag bei Aufbau, Berlin 2009
164 Seiten, 17,95 EUR