„Wo es kritisch wird, schickt man häufig den Zentralrat vor“

Salomon Korn im Gespräch mit Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler |
Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, hat der deutschen Politik und den Medien vorgeworfen, den Zentralrat und „sogenannte Funktionsjuden“ für unbequeme Moralthemen zu instrumentalisieren.
Deutschlandradio Kultur: Hat der Zentralrat mittlerweile noch den richtigen Namen?

Salomon Korn: Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat den richtigen Namen, weil es der historischen Situation angemessen ist, dass er sich nicht umbenannt hat. Die Zuwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion hat die Frage, die es ja schon vor zehn und 20 Jahren gab, ob der Zentralrat der Juden in Deutschland sich nicht umbenennen sollte in „Zentralrat der Deutschen Juden“, obsolet gemacht, weil es sicherlich noch ein, zwei Generationen dauern wird, bis diese Frage tatsächlich beantwortet werden kann.

Deutschlandradio Kultur: Aber interessanterweise wird diese Frage wieder gestellt in den letzten Wochen und Monaten – von Rafael Seligmann, auch Charlotte Knobloch. Warum in dieser Zeit dennoch die Diskussion, wenngleich Sie sagen, wir haben eigentlich im Moment ein anderes Problem?

Salomon Korn: Ich glaube, das hängt mit der Biografie derjenigen zusammen, die diese Frage aufwerfen. Charlotte Knobloch und Rafael Seligmann sind von ihrer Abstammung her deutsche Juden, wie man so schön sagt, und sind dem deutschen Kulturbereich wesentlich stärker verbunden als die Juden, die nach dem Krieg aus dem Osten Europas hierher gekommen sind und die heute noch im Wesentlichen die Geschicke der Gemeinden bestimmen. Das Bedürfnis, offensichtlich sich mehr und mehr zu Deutschland zu bekennen, ist bei den Juden, deren Eltern, Großeltern und Vorfahren hier groß geworden sind und hier gelebt haben, natürlich über ihre Biografie wesentlich größer und stärker als bei den anderen. Aber die anderen, die eben nicht aus dem deutschen Kulturbereich stammen, bilden die Mehrheit. Und die werden am Ende entscheiden, wann diese Umbenennung erfolgt, wobei das eine reine Etikettierung und eine völlig oberflächliche Angelegenheit ist. Denn es ist viel wichtiger zu wissen, wie man sich innerlich fühlt.
Ich will Ihnen mal ein Beispiel geben, ein ganz banales: Also, in dieser Woche wurde Theo Zwanziger mit dem Leo-Baeck-Preis ausgezeichnet. Das hat mich an ein Bild erinnert, das ich schon mal früher gebraucht habe, wenn es darum geht zu zeigen, wie sich die Juden in Deutschland allmählich in diese Gesellschaft generieren – von Generation zu Generation. Die Generation, die unmittelbar hierher kam ‚45 und danach und auch hier in Deutschland geblieben ist – es sind ja nicht so viele gewesen, ich glaube, 15.000 zunächst –, die hatten zu Deutschland mehr als nur ein ambivalentes Verhältnis. Sie hatten ein ablehnendes Verhältnis, einfach aus der Biografie heraus, weil ihre Eltern und ihre Familienangehörigen ermordet waren – von Deutschen. Für sie war diese Erde mit Blut getränkt und ist es wohl auch bis ans Lebensende. Daher wollen viele von ihnen auch nicht in deutscher Erde begraben werden, sondern haben sich ihr Grab in Israel gekauft.
Diese Generation hat – jetzt komme ich sozusagen auf Theo Zwanziger zurück –, während die deutsche Nationalmannschaft spielte in den 50er- und 60er-Jahren, immer darauf gehofft, dass die deutsche Nationalmannschaft verliert, immer. Das hat sich mit der nächsten Generation geändert. Die nächste Generation war ambivalent gegenüber der deutschen Nationalmannschaft. Und es war ihr, ich weiß nicht, ob es ihr gleich war oder nicht oder ob sie heimlich doch dafür waren, dass die deutsche Nationalmannschaft gewinnt. Nach außen hin haben sie es nicht gezeigt, aber die ansässige Mannschaft, die ansässige Bundesligamannschaft – ob Bayern München oder Frankfurt oder Hertha BSC – zu der hat man gehalten in der zweiten Generation. Die musste gewinnen. Ob die deutsche Nationalmannschaft gewann oder nicht, das war dieser zweiten Generation nicht so wichtig. Jetzt, in der dritten Generation, stelle ich fest, es ist dieser dritten Generation sehr wichtig, dass sowohl die ansässige Bundesligamannschaft als auch die deutsche Nationalmannschaft gewinnt.
Und an diesem simplen Beispiel können Sie erkennen, wie sich das Verhältnis der Generationen zu Deutschland allmählich verschiebt. Und ich habe immer gesagt: Bevor es zu so etwas wie einer Normalität kommt, müssen mindestens drei bis vier Generationen vergehen. Das hat mehrere Gründe, aber es ist so. Auch wenn wir ungeduldig sind, unter dieser Spanne wird es nicht gehen. Denn nach allem, was 1933 bis ‚45 in Deutschland geschehen ist, leben wir in einer anormalen Normalität oder in einer normalen Anormalität. Und das ist sozusagen die Normalität, in der wir leben. Und wir müssen sie in ihrer Widersprüchlichkeit, in ihrer Antinomie einfach akzeptieren und wissen, das ist ein fließender Prozess. Der lässt sich nicht dadurch verändern oder revidieren oder verbessern, dass man jetzt ein Etikett einfach umbenennt. Sondern wir müssen sehen, wir haben es mit einer prozessualen Situation, einer besonderen historischen Situation zu tun. Und die ändert sich, wie das eben mit historischen Dingen der Fall ist.

Deutschlandradio Kultur: Aber mit klarer Richtung einer gegenseitigen Annäherung. Auch die Fußballmannschaft hat mittlerweile Spieler, die heißen Gomez, Klose ...

Salomon Korn: Keine Frage. Es ist eine gegenseitige Annäherung. Ich habe das gerade jetzt eben erlebt bei dem Spiel – ich war übrigens mal Fußballschiedsrichter – Eintracht gegen Bayern. Das war dieses Spiel, das die Bayern vier zu null gewonnen haben. Da waren im Stadion, ich habe es gesehen, ich kannte sie, die Italiener, Juden, Deutsche, Menschen aus aller Herren Länder. Und die fühlten sich bei diesem Spiel alle wie Frankfurter. Das heißt also, es ist ein fortschreitender Prozess der immer mehr zu einer Entwicklung, an gemeinsame Werte, an gemeinsame Vorstellungen, an gemeinsame Ereignisse führt. Und das ist etwas ganz Natürliches.

Deutschlandradio Kultur: Wird denn auch Ihr eigener Blick auf die deutschen Juden – die haben ja einen historischen Beiklang – fairer? Die deutschen Juden waren jene, die bis ins Dritte Reich hinein gesagt haben, wir haben hier Bürgerrechte und die Nationalsozialisten, selbst die Nationalsozialisten hätten dieses zu respektieren. War das naiv oder war das couragiert? Ist da Ihre Haltung heute anders als früher?

Salomon Korn: Ich habe früher auf diese deutschen Juden ein bisschen mit Verachtung herabgesehen. Ich habe das Gefühl gehabt, dass sie im Laufe von ungefähr 100 bis 150 Jahren, also vom Beginn der Emanzipation, das beginnt ja 1812 mit dem Preußischen Emanzipationsgesetz, obwohl es bereits unter Napoleon in Westfalen 1807 schon die erste Gleichstellung gab, aber ungefähr in dieser Zeit beginnt es und zieht sich dann ja bis 1933 beziehungsweise bis Juden aus Deutschland vertrieben wurden. In diesem Prozess gab es mehrere Strömungen. Es gab die Strömung der Akkulturation. Das heißt, die Juden, die sich der deutschen Kultur angenähert haben, dabei ihr Judentum behalten haben. Dann gab es jene, die sich total von ihrem Judentum abgelöst haben. Und da gab es andere, die mehr in Richtung einer nationalen Idee – am Ende zum Zionismus – tendiert haben. Und es gab auch eine Bewegung, die wollte einfach das Judentum den anderen Religionen, also Katholizismus, Protestantismus, gleichstellen. Also, diese Bewegungen gab es alle.
Aber es war so, dass es in vielen Fällen zu einer aus meiner Sicht, aus meiner früheren Sicht, zu einer Anbiederung der deutschen Juden an die deutsche Kultur kam und an das deutsche Kulturleben, bis hin zur Verleugnung, zur Verleugnung ihrer jüdischen Wurzeln. Das ging ja zum Teil so weit, dass – als Juden am Anfang des 20. Jahrhunderts und dann in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts aus Polen kamen, auch schon Mitte des 19. Jahrhunderts – diese von den ansässigen deutschen Juden verachtet wurden. Und die ansässigen deutschen Juden glaubten, das sind die Juden, die ihre Emanzipation, die ihre mühsam erkämpfte Emanzipation unterlaufen. Damit sind sie einem eigenen Vorurteil aufgesessen. Sie haben sozusagen die Vorurteilsstruktur der deutschen Gesellschaft diesen Menschen gegenüber übernommen. Das waren jetzt nicht alle, aber doch ein erheblicher Teil.
Und das hat bei mir, der ich ja auch, da meine Familie aus dem Osten Europas kommt, dazu geführt, dass ich diese Juden verachtet habe, weil ich mir gesagt habe, die haben sich den Deutschen angebiedert, um es einfach auszudrücken. Und diese Anbiederung hat sie auch blind gemacht für gesellschaftliche Entwicklungen. Das ist natürlich jetzt pauschal gesagt, weil es natürlich auch eine Minderheit gab, die sich dem entzogen hat, die davor gewarnt hat. Trotzdem.
Inzwischen hab ich natürlich meine Sicht etwas revidiert, weil, es ist einfach, im Rückblick über jemanden zu richten. Es ist schwierig, in der gleichen Situation zu sein und sich zu fragen, wie hätte ich mich damals verhalten. Das ist ja eine Frage, die auch viele Deutsche beschäftigt, was das Dritte Reich anbelangt. Ich sehe schon, dass auch die deutsche Kultur für viele Juden auch attraktiv war, dass es auch Gemeinsamkeiten gab zwischen Judentum und deutscher Kultur. Gerade was also das Lesen, die Schrift, die Literatur, auch die abstrakten Künste anbelangt, da gab es Überschneidungen. Und dass das attraktiv war, das verstehen ich heute und einiges andere auch.
Und heute sage ich mir auch, was ich ursprünglich nicht wusste oder geglaubt habe oder anders sah, dass das Verhalten der deutschen Juden auch nicht zwangsläufig in die nationalsozialistische Judenvernichtung geführt hat, also nicht aufgrund ihrer Verleugnung sozusagen das Inferno geschehen ist, sondern dass es vermutlich auch ohne das geschehen wäre und dass es eben auch in Ansätzen eben andere Entwicklungen gab und dass die Geschichte auch anders hätte verlaufen können, weil ich immer noch der Meinung bin, Geschichte ist nach vorne offen. Und es gab auch bessere Möglichkeiten, die eben nicht zum Zuge gekommen sind. Und das, was ich heute versuche eben aus dieser Zeit zu lernen, das sind eben doch die besseren Entwicklungsmöglichkeiten, das, was man sozusagen als gemeinsames Kulturgut betrachten kann.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie sind doch sehr scharf in dem Punkt, indem Sie sagen: Eine deutsch-jüdische Kultur, die gibt es nicht. Juden und Nichtjuden haben sich im Grunde nichts zu sagen. – Würde ich so interpretieren.

Salomon Korn: Ich habe nicht gesagt, dass es eine deutsch-jüdische Kultur nicht gibt. Ich habe nur gesagt, dass diese so genannte deutsch-jüdische Kultur, wie immer man sie definiert, Sie werden sie in keinem Lexikon, in keinem Wörterbuch finden, dass die vor allem sehr einseitig aus dem jüdischen Anteil gespeist wurde, und zwar auf Kosten eines Judentums in seiner Substanz. Es ist eine Übergangszeit gewesen, in der sozusagen diese deutsch-jüdische Kultur wie ein Funkenflug aus einer Reibung zweier unterschiedlicher Kulturen entstanden ist und das Judentum eigentlich sehr viel Substanz gelassen hat. Das ist eine Feststellung. Das ist keine Wertung. Daraus sind wichtige kulturelle Produkte entstanden. Ich brauche sie nicht aufzuzählen. Die deutschen Schriftsteller, die deutschen Wissenschaftler, die jüdischer Herkunft waren, die Deutschen jüdischer Herkunft, die Künstler wurden, Nobelpreisträger und ähnliches, das muss ich nicht alles aufzählen.
Es kann sein, dass dies eine einzigartige Situation war, die eben nicht wiederholbar ist. Trotzdem hat das Judentum in seiner Substanz darunter gelitten. Und je weniger Substanz die jüdische Kultur hat, desto weniger kann es zu einer deutsch-jüdischen Kultur kommen. Sie können nur einen Beitrag leisten, wenn Sie selbst etwas haben. Wenn sich etwas verwässert und anfängt aufzulösen, dann endet dieser Beitrag.

Deutschlandradio Kultur: Dann gehen wir doch mal ins 21. Jahrhundert, in die Jetztzeit. Sie sprachen vorher auch von Annäherung zwischen jüdischer Kultur und dieser deutschen Kultur – das schöne Beispiel mit dem Fußball haben Sie genannt. Welcher Austausch findet heute statt, der sich substanziell auch unterscheidet von dem, was wir vielleicht im letzten Jahrhundert hatten? Gibt es Annäherung oder gibt es nur Toleranz auf beiden Seiten?

Salomon Korn: Das ist pauschal schwierig zu beantworten. Es gibt sicherlich beides. Der Austausch ist heute wesentlich entkrampfter. Ich kann nicht mehr erkennen, dass es so ganz große Reibungen gäbe. Ich weiß auch nicht, wie weit es dann in der Zukunft eine deutsch-jüdische Kultur geben wird. Wenn es eine geben wird, dann sicherlich nicht diejenige, die wir vor dem Krieg hatten, sondern es muss eine erneuerte sein. Dazu ist es aber notwendig wiederum, dass auf der jüdischen Seite sozusagen die Kultur, die jüdische Kultur auch gestärkt wird. Das ist heute möglich. Das wird auch gefördert von staatlicher Seite, von städtischer Seite, vom Land. Das spüre ich immer wieder. Da gibt es ein gewisses Interesse, ich weiß nicht, ob manches Mal aus Nostalgie oder aus Gründen eines Wiedergutmachungsverlangens. Das weiß ich jetzt nicht. Wir sind in einem sehr fragilen Prozess, denn Sie dürfen nicht vergessen: Wenn Sie die zugewanderten Juden aus der ehemaligen Sowjetunion abziehen, bleiben Ihnen wahrscheinlich nur 15.000 – bis 20.000 Juden, die nach 1945 hier geblieben sind, und davon auch nur ein kleiner Teil ehemaliger deutscher Juden. Wir sind sozusagen erst dabei, hier eine jüdische Kultur neu aufzubauen. Das machen wir in ganz kleinen Schritten. Kein Mensch weiß, welchen Erfolg es haben wird.

Deutschlandradio Kultur: Aber ist es nicht so, Sie haben es ja selbst angedeutet, es fehlt am Input? Was hören wir denn an jüdischen Argumenten in unserem gesellschaftlichen Leben? Beispielsweise: Wissen wir etwas von einer jüdischen Position zur Humangenetik? Wir würden annehmen vielleicht, die sind irgendwie katholisch oder lutheranisch, also irgendwie religiös. Wissen wir das typisch Jüdische in dieser Argumentation?

Salomon Korn: Das typisch Jüdische in dieser Argumentation, das gibt es wahrscheinlich nicht. Es gibt von religiöser Seite, von Rabbinern, Auslegungen aus der Thora, aus dem Talmud zu diesem Problem. Und wie das natürlich bei Juden ist, zwei Juden drei Meinungen. In der Tendenz gibt es sicherlich eine. Und Juden sind ein pragmatisches Volk, auch was diese Dinge anbelangt. Ich bin sicher, ohne jetzt die Details zu kennen, dass es hier durchaus substanzielle Beiträge von jüdischer Seite gibt aus der religiösen Sicht. Aber die spielen in unserer Debatte keine große Rolle, weil das religiöse Judentum in Deutschland nicht allzu stark ausgeprägt ist. Vergessen Sie nicht, es sind rund 120.000 Mitglieder in den jüdischen Gemeinden vorhanden. Wenn Sie davon die Zuwanderer abziehen, dann bleiben Sie vielleicht bei 20.000. Und diese 20.000 bilden im Verhältnis zu 82 Millionen Einwohnern Deutschlands eine marginale Zahl, faktisch vernachlässigbar. Da ist zurzeit also nichts Substanzielles zu erwarten. Aber es gibt durchaus dazu Standpunkte, die sich aus der Bibel, also aus der hebräischen Bibel und aus dem Talmud ableiten lassen.

Deutschlandradio Kultur: Wir können Ihnen auch ein anderes Beispiel nennen: 20 Jahre haben die jüdischen Gemeinden große Erfahrung mit Integration von russischen Einwandern, Migranten gemacht. Jetzt gibt es die Diskussion, von Thilo Sarrazin angestoßen, der sagt: Integration von Türken in Berlin äußerst schwierig und wie man es machen sollte. Sie kriegen eine Reaktion des Zentralrates der Juden in Deutschland, aber Sie gehen nicht in die inhaltliche Diskussion. Oder haben wir das nicht mitbekommen, dass Sie sagen, wir haben da eine Menge zu sagen, nicht nur, „wehret den Anfängen“ und das ist alles rassistisch, sondern: Wir machen seit 20 Jahren Integrationsarbeit, die könnt ihr vielleicht auch zumindest zur Kenntnis nehmen und vielleicht übertragen in eure Arbeit. Warum nicht?

Salomon Korn: Na, da sprechen Sie einen wunden Punkt an. Es gibt in der Tat diese Erfahrung, die historischen Erfahrungen, die Juden gemacht haben, gerade in Deutschland. Ich nenne nur ein aktuelles Beispiel, weil es meine Profession ist, nämlich die Moscheedebatte. Da haben wir einiges dazu zu liefern, weil wir genau wissen, wie es im 19. Jahrhundert mit den neoislamischen Synagogen aussah, wenngleich die gesellschaftliche Situation damals und heute nicht dieselbe ist, aber es gibt gewisse Konfliktstrukturen, die wir sozusagen aus der Tradition heraus kennen, die uns bekannt sind und die wir einbringen können. Es geschieht eher, sagen wir, auf der leisen Ebene und des Akademischen.

Deutschlandradio Kultur: Aber das Problem ist doch – und das ist ja auch der Vorwurf –, dass der Zentralrat „Schnellschüsse produziere“. Und eigentlich Ihre Aufforderung wäre ja, argumentativ zu wirken. Man soll also nach dem Schnellschuss dann noch mal nachhaken und was liefern.

Salomon Korn: Der Schnellschuss, der kommt ab und zu, weil es von der anderen Seite Schnellschüsse gibt und man meint, mit Schnellschüssen wieder antworten zu müssen, wobei das auch nicht „der“ Zentralrat ist. Es sind einzelne Vertreter des Zentralrats. Aber es gibt auch interne Diskussionen, solche Dinge vielleicht etwas anders zu handhaben. Ich denke mir, dass es in Zukunft vielleicht nicht mehr ganz so sein wird, wie es in den letzten Tagen und Wochen gewesen ist. Denn auch wir haben aus diesen Dingen, die nicht immer angemessen waren, gelernt.

Deutschlandradio Kultur: Der Eindruck, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland das Frühwarnsystem ist für extremistische Tendenzen, die stattfinden, ist das nach wie vor die zentrale Aufgabe, die Sie auch sehen, also warnende Instanz? Oder glaubt die Mehrheit, genau da wollen wir sie drauf reduzieren? Sie sollen einfach dann warnen und dann ist gut.

Salomon Korn: Ja, beides. Der Zentralrat und auch die Präsidenten, die bisherigen Präsidenten, Präsidentinnen des Zentralrats haben ein gewisses Problem, dass ihnen so etwas, wie die moralische Instanz zugeschrieben wird, und zwar zugeschrieben von einem Großteil der Bevölkerung und auch von Politikern, die dieses unbequeme Thema delegieren wollen. Das ist eine partielle Selbstentmündigung in moralischen und ethischen Fragen, weil dort, wo es kritisch wird im Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, da schickt man dann häufig den Zentralrat vor. Man hat früher Herrn Bubis vorgeschickt oder später Herrn Spiegel, heute den Zentralrat, und macht sich selbst eigentlich nicht Gedanken, die dann fällig wären.
Der Zentralrat beklagt sich auch häufiger darüber, warum man zu ihm kommt, warum man nicht zu dem zuständigen Minister oder Bürgermeister oder Ministerpräsidenten geht, sondern immer zum Zentralrat. Das scheint wie ein Reflex zu sein, dass, wenn es kritisch wird-, dass es, wenn es zum Verhältnis deutsche Juden kommt – ich will da mal diesen unkorrekten Ausdruck jetzt gebrauchen –, dass dann der Zentralrat zuständig ist. Das geht sogar noch einen Schritt weiter.
Wenn es zu Themen kommt, die die Juden oder den Zentralrat oder Israel betreffen, dann schickt man auch Juden vor möglichst, weil man gewisse Dinge sich nicht getraut zu sagen. Und dann nimmt man sich also einige Vertreter heraus, die das sagen, was man sich nicht getraut. Das sind die sogenannten Funktionsjuden. Es gibt aktive und passive Funktionsjuden. Es gibt solche, die zu Funktionsjuden von den Medien gemacht werden. Und es gibt solche, die sich als Funktionsjuden anbieten. Aber es sind immer die, die vorne an der Front der Medien den Zentralrat kritisieren oder aber Israel kritisieren. Ob zu Recht oder Unrecht, will ich dahingestellt sein lassen. Häufig ist ja auch viel an dem dran, was gesagt wird, manches Mal überzogen. Aber es geht mir gar nicht um diese Funktionsjuden, denn das ist ja nur ein Symptom, ein Symptom für diese Gesellschaft und Medien, die sich nicht getraut, gewisse Dinge selbst in die Hand zu nehmen, immer noch delegiert und damit sich eben moralisch zum Teil selbst entmündigt. Das ist das Phänomen, das mich interessiert.
Dass der Zentralrat dabei Fehler macht oder nicht immer korrekt antwortet oder auch mal übers Ziel hinausschießt, das glaube ich gerne, hängt aber auch mit der Häufigkeit zusammen, in der er gefragt wird. Und wir wünschten uns mindestens – das ist mein Wunsch –, dass – bevor der Zentralrat gefragt wird – eben andere gefragt werden, die eigentlich zuständig sind. Wenn das alles nicht hilft, dann muss eben der Zentralrat reagieren. Ich gebe zu, wir sind tatsächlich manchmal wie die Gänse auf dem Kapitol. Wir schnattern, wenn wir glauben, dass was los ist. Und manchmal schnattern wir vielleicht einmal zu viel. Das kann sein, dass das auch dann zu einer Inflationierung führt. Das will ich alles nicht bezweifeln, aber es ist ein Prozess auf Gegenseitigkeit. Das ist nicht nur der Zentralrat. Das ist auch die Mehrheitsgesellschaft und wie sie den Zentralrat sieht und wie sie ihn funktionalisiert.

Deutschlandradio Kultur: Es ist unendlich lange her, dass ein Mann wie Pinchas Lapide vor deutschen Juristen geredet hat über das jüdische Gesetzesverständnis. Und natürlich hat er den Preußen eins mitgegeben dabei. Was sind denn nun dann die Themen, von denen Sie sagen würden, das sind Themen, die eigentlich in diesem Dialog auf Augenhöhe zwischen Christen und Juden oder aber zwischen Deutschen unterschiedlicher Weltanschauung stattfinden sollten?

Salomon Korn: Es ist schon, wie Sie genannt haben, Integration und auch die Erfahrung, die Juden mit der Eingliederung in diese Gesellschaft gemacht haben. Das war das eine. Das andere sind religiöse Fragen, die im Dialog miteinander zu klären sind. Diesen religiösen Dialog sehe ich nicht so sehr im Vordergrund. Denn der Zentralrat, der das sehr begrüßt, ist ja keine religiöse Institution, sondern eine politische. Das ist der große Unterschied. Wir vertreten alle, alle Richtungen. Und deswegen ist die Aufgabe des Zentralrats, in erster Linie auf der politischen Ebene zu handeln und letztlich auch eine Einrichtung zu sein, die auch fürs Ganze zuständig ist, nicht nur für die Belange der Juden in Deutschland.
Ignaz Bubis hat uns gelehrt, dass der Zentralrat nur dann glaubwürdig bleiben kann, wenn er sich nicht nur für die Belange seiner Klienten einsetzt, sondern eben sich als demokratische Einrichtung dieser Gesellschaft versteht und auch dann eingreift aus seiner Erfahrung, aus einer Sensibilität heraus, vielleicht auch Übersensibilität, die eingesetzt werden muss, wenn es um Unrecht allgemein geht. Der Zentralrat macht noch nicht mal ein tausendstel Prozent der Bevölkerung in Deutschland aus, aber wir vertreten nicht nur 120.000 Mitglieder. Wir vertreten sechs Millionen. Wir vertreten sechs Millionen! Und weil wir sechs Millionen vertreten, werden wir auch immer noch gesehen, als würden wir sechs Millionen vertreten. Das heißt umgekehrt: Weil man das so sieht, haben wir uns offensichtlich auch in diesen Kreislauf begeben. Und vielleicht wird es auch mal an der Zeit sein, sich ein bisschen davon zu lösen.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, Sie vertreten sechs Millionen. Und gleichzeitig verändert sich die Zusammensetzung der jüdischen Gemeinden. Neun von zehn Mitgliedern kommen mittlerweile aus der ehemaligen Sowjetunion. Wie weit verändert das auch das Selbstverständnis im Innenleben sowohl der Alteingesessenen als auch derer, die Sie versuchen zu integrieren?

Salomon Korn: Ich kann Ihnen nicht sagen, wo es hin läuft. Ich sage, ich bin Architekt und kein Prophet. Also, Vorhersagen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.
Ich sehe Folgendes. Ich sehe aus meiner Erfahrung heraus: Als die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion kamen, spielte die Religion nicht mehr die Rolle, wie vorher, sondern es waren kulturelle Dinge, die in den Vordergrund traten. Diese Menschen bringen ja auch Kulturgüter mit, einen Kulturschatz, wenn man so will. Und der kommt sowohl den jüdischen Gemeinden, als auch der Gesamtgesellschaft zugute. Es sind häufig Menschen mit hoher Intelligenz, mit künstlerischen Fähigkeiten, wissenschaftlich ausgebildet. Und es wird vermutlich in Zukunft so sein, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, die jüdischen Gemeinden sich eher über eine Kultur definieren werden, als über die Religion, wobei die natürlich eine Rolle spielt und auch eine Rolle spielen muss, denn schließlich sind die Religion und die Tradition die Wurzeln des Judentums. Aber die Zunahme der Bedeutung der Kultur anstelle ausschließlich der Religion hat den Vorzug, dass das eine Ebene ist, auf der man wesentlich einfacher mit aufgeschlossenen Christen, mit aufgeschlossenen Muslimen, mit allen, die aufgeschlossen sind und die wissen, dass Kultur letztlich nichts anderes ist als säkularer Abkömmling von Religion, zumindest in großen Teilen, dass das auch die gemeinsame Ebene sein kann, auf der man sich verständigt.

Deutschlandradio Kultur: Ob man sich in seiner Heimat oder auch in seiner Wahlheimat wohl fühlt, hängt ja auch sehr viel vom Atmosphärischen ab. Wie sehr prägt Sie denn noch der Polizeischutz, unter dem Sie stehen?

Salomon Korn: Ich möchte über den Polizeischutz jetzt nicht sprechen, also, zumindest nicht über die Gefährdungsstufen einzelner Mitglieder. Es ist aber in der Tat so, die jüdischen Gemeinden in Deutschland haben Polizeischutz vor bestimmten Einrichtungen – seien es Synagogen, Kindergärten, Schulen. Es ist erstaunlich, wie sehr die Gewohnheit eine Rolle spielt. Die Kinder, die in den Kindergarten und die Schulen gehen, nehmen das gar nicht mehr wahr. Es ist Teil des Alltags geworden. Sie kennen es gar nicht anders. Weil, in dem Augenblick, wo sie in die Krabbelstube kommen und dann in den Kindergarten und dann in die Schule, immer steht das Polizeiauto davor. Und manchmal spricht man ja auch mit diesem Polizisten, sagt ihm „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“. Den Kindern und auch den Jugendlichen ist die Gefährdungslage nicht bewusst, weil das für sie, wenn Sie so wollen, Alltag ist. Es ist hat keinen Einfluss auf das tägliche Leben.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, Polizeischutz ist Normalität. Können sich solche Menschen, die das täglich erleben, irgendwann auch in diesem Land zu Hause fühlen?

Salomon Korn: In diesem Land zu Hause fühlen?

Deutschlandradio Kultur: Ja.

Salomon Korn: Na selbstverständlich. Immer mehr fühlen sich Juden in Deutschland zu Hause. Die Tendenz ist eindeutig: Juden fühlen sich in Deutschland zunehmend zu Hause. Je stärker Generation für Generation in diese Kultur eingebunden wird mit ihren jüdischen, christlichen Wurzeln, wie es so schön heißt, desto stärker wird auch die Bindung an diese Kultur, an dieses Land – gar keine Frage.

Deutschlandradio Kultur: Herr Korn, wir danken Ihnen für das Gespräch.