Wo die Macht wohnt
Herrschaft ist nie heimatlos. Das Schloss, die Pfalz, der Palast, die Verbotene Stadt: Der Herrschaftssitz ist die objektiv gewordene Herrschaft. Selbst die amerikanische Republik hat im Zentrum ihrer Macht ein Schloss, das Weiße Haus, dort wohnt der Präsident. Die Sowjets machten es sich in der Burg des Zaren, dem Kreml, ohne Zögern bequem. Der französische König wohnte und herrschte und feierte in Versailles. Sein Nachfolger, der französische Staatspräsident, wohnt im Palais d’Elysée. Und Elysée bedeutet Paradies.
Dass der Souverän dort haust, wo er herrscht, hat eine uralte und tiefe, letztlich heilige Bedeutung. Ich begebe mich in das Haus, das die Nation verkörpert. Ich bin damit dem Gemeinwohl verpflichtet und als solcher Euer Herrscher. Hingabe und Herrschaft werden identisch. Nur so bin ich legitim. Ob alle Herrscher sich dieser mythischen Bedeutung ihres Amtes bewusst waren, kann man bezweifeln. Sie haben sich jedenfalls alle dem Mythos gebeugt. Für Lenin und für Stalin, die Erzkommunisten, und für Putin, den Lupenreinen, ist der Kreml ihr Haus und ihr Heim. Und Mao hat die Verbotene Stadt oft Monate lang nicht verlassen…
Nur die Deutschen bilden hier eine Ausnahme. Sie sind einmalig und eigenartig. Früher waren sie wie alle anderen, „normal“ könnte man sagen. Im 20. Jahrhundert begannen sie sich zu verändern. Nach der Niederlage des Ersten Weltkrieges ließen sie das Berliner Schloss verwaisen, das seit 1871 den historischen Mittelpunkt des Reiches markiert. Ulbricht ließ es sprengen und wohnte mit seinen Genossen in Wandlitz, einem kommunistischen Altenheim.
DDR-Präsident Wilhelm Pieck benützte das historisch belanglose Schloss in Pankow zum Servieren von Diplomaten-Häppchen, gewohnt hat er dort nie. Der Westen Deutschlands folgte derselben Logik: Adenauer verhinderte Frankfurt, die alte deutsche Kaiserstadt als Bundeshauptstadt, um weiter in seinem Rosen-Häuschen in Röhndorf am Rhein wohnen zu können. Das Schloss Bellevue, ein verkrachtes Hohenzollern-Schlösschen in West-Berlin an der S-Bahn wurde zum offiziellen Sitz des Bundespräsidenten erklärt. Gewohnt haben dort weder Heuß, noch Lübke, noch Scheel, noch Carstens, noch Weizsäcker, noch Rau.
Nur Roman Herzog zog ein, aber unter Vorbehalt. Er bemängelte den technischen Komfort, vor allem der sanitären Anlagen und beschimpfte seinen Amtssitz als „Bruchbude“. Nicht zuletzt deswegen ist das Schlösschen jetzt aufpoliert worden, innen und außen. Jetzt könnte der Bundespräsident endlich einziehen und seines Amtes walten. Tut er aber nicht, fast so, als fühle er sich seines Amtes nicht würdig. Das Schloss Bellevue ist nur noch ein leer stehendes Gästehaus, sonst nichts.
Dafür steht im schönen großen Schlosspark ein großer schwarzer Zweck-, Büro- und Verwaltungsbau, ein Klotz in der Landschaft. Dorthin kommen die Beamten der Präsidialverwaltung morgens und gehen abends, wie wohl auch der Bundespräsident, der dann seine weltberühmten Reden in aller Ruhe schreiben lassen kann. Der Amtssitz des Bundespräsidenten, das Schloss Bellevue, ist, wenn man es genau nimmt, eine hohle Nuß. Das ist zwar eine Schande, aber eine Schande zweiten Grades.
Die eigentliche Schande ist das Schicksal des Berliner Schlosses. Von all den historischen Bauten, die die SED – heute Linkspartei – sprengen ließ, ist natürlich das Berliner Stadtschloss der zentrale nationale Identitätsträger. Deswegen wollte die SED – heute Linkspartei – es ja auch zerstören. Nicht Deutsche sollten wir sein, sondern Kommunisten. Wir sollten unsere Vergangenheit begraben. Vom Prinzip Hoffnung sollten wir leben. Aber auch jetzt, lange nach der Wiedervereinigung, wissen wir offenbar immer noch nicht, von welcher geistigen Nahrung wir zehren und ob wir wirklich Deutsche sein wollen.
Ein Jahrzehnt ist vergangen und das zweite geht zu Ende, der Potsdamer Platz ist neu erfunden und die Quadriga auf dem Brandenburger Tor strahlt in der Sonne, aber die Leere in unserer Mitte gähnt uns wie ein Abgrund entgegen. Sagt man nicht, dass wir Deutsche unvergleichlich seien? Kann man sich vorstellen, dass die Amerikaner ihr Weißes Haus, die Russen den Kreml, die Franzosen das Elysée, die Engländer ihren Buckingham Palace in die Luft sprengen? So verrückt ist natürlich keiner – außer uns.
Alexander Schuller ist Soziologe, Publizist und Professor in Berlin. Er hatte Forschungsprofessuren in den USA (Princeton, Harvard) und ist Mitherausgeber von „Paragrana“ (Akademie-Verlag). In seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen befasst er sich mit Fragen der Anthropologie und der Bildungs-, Medizin-, Geschichts- und Alltagssoziologie. Er arbeitet als Rundfunk-Autor sowie für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und gelegentlich für die „taz“, die „Süddeutsche Zeitung“, „Die Welt“, „Die Zeit“ und für die Zeitschriften „Merkur“ und „Universitas“.
Nur die Deutschen bilden hier eine Ausnahme. Sie sind einmalig und eigenartig. Früher waren sie wie alle anderen, „normal“ könnte man sagen. Im 20. Jahrhundert begannen sie sich zu verändern. Nach der Niederlage des Ersten Weltkrieges ließen sie das Berliner Schloss verwaisen, das seit 1871 den historischen Mittelpunkt des Reiches markiert. Ulbricht ließ es sprengen und wohnte mit seinen Genossen in Wandlitz, einem kommunistischen Altenheim.
DDR-Präsident Wilhelm Pieck benützte das historisch belanglose Schloss in Pankow zum Servieren von Diplomaten-Häppchen, gewohnt hat er dort nie. Der Westen Deutschlands folgte derselben Logik: Adenauer verhinderte Frankfurt, die alte deutsche Kaiserstadt als Bundeshauptstadt, um weiter in seinem Rosen-Häuschen in Röhndorf am Rhein wohnen zu können. Das Schloss Bellevue, ein verkrachtes Hohenzollern-Schlösschen in West-Berlin an der S-Bahn wurde zum offiziellen Sitz des Bundespräsidenten erklärt. Gewohnt haben dort weder Heuß, noch Lübke, noch Scheel, noch Carstens, noch Weizsäcker, noch Rau.
Nur Roman Herzog zog ein, aber unter Vorbehalt. Er bemängelte den technischen Komfort, vor allem der sanitären Anlagen und beschimpfte seinen Amtssitz als „Bruchbude“. Nicht zuletzt deswegen ist das Schlösschen jetzt aufpoliert worden, innen und außen. Jetzt könnte der Bundespräsident endlich einziehen und seines Amtes walten. Tut er aber nicht, fast so, als fühle er sich seines Amtes nicht würdig. Das Schloss Bellevue ist nur noch ein leer stehendes Gästehaus, sonst nichts.
Dafür steht im schönen großen Schlosspark ein großer schwarzer Zweck-, Büro- und Verwaltungsbau, ein Klotz in der Landschaft. Dorthin kommen die Beamten der Präsidialverwaltung morgens und gehen abends, wie wohl auch der Bundespräsident, der dann seine weltberühmten Reden in aller Ruhe schreiben lassen kann. Der Amtssitz des Bundespräsidenten, das Schloss Bellevue, ist, wenn man es genau nimmt, eine hohle Nuß. Das ist zwar eine Schande, aber eine Schande zweiten Grades.
Die eigentliche Schande ist das Schicksal des Berliner Schlosses. Von all den historischen Bauten, die die SED – heute Linkspartei – sprengen ließ, ist natürlich das Berliner Stadtschloss der zentrale nationale Identitätsträger. Deswegen wollte die SED – heute Linkspartei – es ja auch zerstören. Nicht Deutsche sollten wir sein, sondern Kommunisten. Wir sollten unsere Vergangenheit begraben. Vom Prinzip Hoffnung sollten wir leben. Aber auch jetzt, lange nach der Wiedervereinigung, wissen wir offenbar immer noch nicht, von welcher geistigen Nahrung wir zehren und ob wir wirklich Deutsche sein wollen.
Ein Jahrzehnt ist vergangen und das zweite geht zu Ende, der Potsdamer Platz ist neu erfunden und die Quadriga auf dem Brandenburger Tor strahlt in der Sonne, aber die Leere in unserer Mitte gähnt uns wie ein Abgrund entgegen. Sagt man nicht, dass wir Deutsche unvergleichlich seien? Kann man sich vorstellen, dass die Amerikaner ihr Weißes Haus, die Russen den Kreml, die Franzosen das Elysée, die Engländer ihren Buckingham Palace in die Luft sprengen? So verrückt ist natürlich keiner – außer uns.
Alexander Schuller ist Soziologe, Publizist und Professor in Berlin. Er hatte Forschungsprofessuren in den USA (Princeton, Harvard) und ist Mitherausgeber von „Paragrana“ (Akademie-Verlag). In seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen befasst er sich mit Fragen der Anthropologie und der Bildungs-, Medizin-, Geschichts- und Alltagssoziologie. Er arbeitet als Rundfunk-Autor sowie für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und gelegentlich für die „taz“, die „Süddeutsche Zeitung“, „Die Welt“, „Die Zeit“ und für die Zeitschriften „Merkur“ und „Universitas“.