Wo die Lebenden die Toten adoptieren

Von Nils Naumann |
Puerto Berrio liegt in einer Region, die zu den Brennpunkten des jahrzehntelangen Bürgerkriegs in Kolumbien gehört. Immer wieder finden die Menschen dort Tote. Sie bestatten sie und beten für ihre Seelen. Für die Angehörigen der namenlosen Opfer des Bürgerkriegs wurde die Stadt zum Ort der Hoffnung.
Bogota. Der Verkehr tost. Schwarze Rußwolken. Dieselgestank. Der kalte Wind der Hochebene. Maria, klein, füllig, Mitte 40, skeptischer Blick, wartet unter einer grauen Betonbrücke an einer mehrspurigen Ausfallstraße. Maria wohnt in einem unverputzten Haus in einer staubigen Gasse neben einem Abwasserkanal. Sie setzt sich aufs Bett ihres kleinen Zimmers, zeigt das Foto eines jungen Mädchens mit halblangen dunklen Haaren. Es ist ihre verschwundene Tochter Diana.

"Manchmal sagt mir mein Herz, dass sie noch lebt. Dann wieder bin ich sicher, dass sie tot ist."

Diana verschwand spurlos
Als ihre Tochter verschwand, lebte Maria in einem kleinen Ort auf dem Land. Die Region war einer der Brennpunkte der Kämpfe zwischen dem Militär, rechten paramilitärischen Milizen und der linken Guerilla. Marias Tochter Diana hatte dort als Prostituierte gearbeitet. Die Paramilitärs bedrohten die 19-Jährige, wollten sie zwingen, die Gegend zu verlassen. Als sie sich weigerte, wurde die junge Frau verschleppt. Die Paramilitärs nennen so etwas "soziale Säuberung". Diana verschwand spurlos. Maria ging zur Polizei, bat um Hilfe:

"Als ich das Büro der Polizei verließ, kam ein Paramilitär auf mich zu. Er gab mir 15 Minuten, um die Stadt zu verlassen, sonst würde mir das Gleiche wie meiner Tochter passieren. Dabei hielt er mir einen Revolver an den Kopf."

Maria flüchtete. Seitdem ist sie auf der Suche nach ihrer Tochter. Das Schicksal von Maria und Diana ist kein Einzelfall: Nach offiziellen Angaben gibt es in Kolumbien rund 50.000 Verschwundene. Sie wurden verschleppt, ermordet und anonym verscharrt, von rechten Todesschwadronen oder der linken Guerilla. Und noch immer verschwinden Menschen.

Der Hafen von Puerto Berrio. Tropisches Tiefland. Schwül-warme Hitze. Bleierner Himmel. Es riecht nach Fisch, Benzin, Brackwasser. Träge wälzt sich der Magdalena – Kolumbiens größter Fluss. In den braunen Fluten: Baumstämme, Abfall und immer wieder auch Tote. Oft sind ihre Gesichter kaum zu erkennen. Die Augen von Vögeln ausgehackt, die Haut von Fischen abgefressen, ihre Körper zerhackt oder zersägt.

Größtes Massengrad Kolumbiens
Der Magdalena, erzählt einer der Männer, die die Toten aus dem Fluss fischen, sei das größte Massengrab Kolumbiens. Mehr will er nicht sagen. Man hat ihn gewarnt, über die Toten von Puerto Berrio zu sprechen. Die Hintermänner der Mörder wollen kein Aufsehen. Wer ihre Warnungen missachtet, der landet schnell selbst als Leiche im Fluss.

"Es gibt hier viele, die Angst haben zu reden. Und das mit gutem Grund. Niemand will vor seiner Zeit gehen."

Cecilia Zuluaga, Anfang 60, braune Augen, kurze braune Haare, sitzt in einem kleinen Büro neben der Kirche von Puerto Berrio. Hinter ihr hängt ein Transparent mit Fotos der Ermordeten und Verschwundenen des Ortes.

"Auch der Staat hat leider nicht die Mittel, uns zu schützen."

Zuluagua leitet Ave Fenix. Die Organisation hilft Gewaltopfern bei der Verarbeitung ihrer Erfahrungen und bei der Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen. Zuluaga hat selbst Angehörige verloren. Ihr Bruder und ihr Mann wurden ermordet.

"Wir haben hier das Militär, die Polizei und einen Bürgermeister. Eigentlich sollten die die Macht ausüben. Aber das ist ihnen aus den Händen geglitten. Hier herrscht der, der kann. Und das ist nicht der Staat."

Landraub, Schutzgelderpressung und Drogenhandel
Puerto Berrio liegt im Magdalena-Tal, einer der Konfliktzonen Kolumbiens. Hier gibt es Erdöl, fruchtbares Land und wichtige Exportrouten für den Drogenhandel. Seit Jahren kämpfen Guerilla und Paramilitärs um die Vorherrschaft im Magdalena-Tal. Beide Seiten sind in Landraub, Schutzgelderpressung und Drogenhandel verstrickt.

Die Opfer der Gewalt sind Menschenrechtler, Gewerkschafter, Landarbeiter, ganz normale Menschen. Zehntausende wurden vertrieben, getötet oder verschwanden spurlos. Weil sie beschuldigt wurden mit der anderen Seite zusammenzuarbeiten, um Terror und Angst zu verbreiten oder weil sie schlicht im Weg waren.

Ein kleiner Hügel, rund zehn Minuten vom Zentrum, der Friedhof von Puerto Berrio. Rund um die schlichte Friedhofskappelle, sternförmig angeordnete überirdische Mauergräber. In einer offenen Nische ein brauner Sarg, davor zwei schon leicht vertrocknete bunte Blumengestecke. In der Luft ein süßlicher Hauch von Verwesung.

Ramon Morales, um den Hals ein großes Silberkreuz, das graue Hemd leger geknöpft, war lange Totengräber in Puerto Berrio. Noch immer kommt der 57-jährige mit dem akkurat getrimmten grauen Schnurrbart regelmäßig auf den Friedhof. Hunderte namenlose Opfer des Konflikts, erzählt Morales, wurden hier in den vergangenen Jahren bestattet.

"Die meisten wurden im Fluss gefunden, ohne Papiere, ihre Körper aufgedunsen, verwest, entstellt. Wir nennen sie NNs – Ningún Nombre - weil sie keinen Namen haben."

Namenlose Tote werden adoptiert
Insgesamt gibt es in Kolumbien rund 40.000 nicht identifizierte Opfer des Konflikts, beerdigt weitab von ihren Familien. Doch zumindest in Puerto Berrio bleiben die namenlosen Toten nicht lange allein:

"Sobald ein N.N. bestattet wird, kommen die Leute und adoptieren ihn. Der Glaube der Menschen hier ist großartig, der kann Berge versetzten. Das ist eine alte Tradition."

Der Block der namenlosen Toten, eine lange mehrstöckige Reihe kleiner Mauergräber, liegt etwas abseits. Viele der quadratischen Grabnischen sind bemalt, in hellem blau, sanftem grün oder leuchtendem orange. Einige aufwendig geschmückt, mit Blumen, Inschriften, Glasplatten.

Paula zückt den Pinsel. Erst vor wenigen Tagen hat die 33-jährige einen der namenlosen Toten adoptiert. Jetzt bemalt Paula, eine kräftige, dunkelhäutige Frau mit freundlichen Augen, gemeinsam mit ihrer Familie die Grabstätte. Adrian will sie ihren NN nennen:

"Wir besuchen ihn, beten für seine Seele, kümmern uns um sein Grab, als wäre er ein Teil unserer Familie."

Dafür, glaubt Paula, wird die Seele des namenlosen Toten ihr einen Wunsch erfüllen. Viele Menschen in Puerto Berrio haben wie Paula einen NN adoptiert. Und viele berichten, dass ihre Wünsche in Erfüllung gingen. Davon zeugen die Dankesinschriften auf den Gräbern der NNs. Die Mittfünfzigerin Luz Elena hat ihren ersten namenlosen Toten 2005 adoptiert:

"Wir waren damals sehr verschuldet, 12 Millionen Pesos, lebten in einem Haus ohne Strom und Wasser. Ich habe gebetet und gebetet und er hat mir geholfen. Ich habe fast 20 Millionen Pesos in der Lotterie gewonnen."

NNs erfüllen Wünsche
Zum Dank hat Luz Elena ihren NN umgebettet. Jetzt liegen seine Überreste in einer Grabstätte in der Friedhofskapelle. Noch immer kommt Luz Elena regelmäßig auf den Friedhof und betet für die Seelen der namenlosen Toten. Doch die NNs, so glauben die Menschen, erfüllen nicht nur Wünsche wie Wohlstand, Gesundheit oder Fruchtbarkeit. Sie bieten auch Schutz für einen geliebten Menschen in Gefahr. Die 52-jährige Sandra:

"Ich habe meinen ersten NN vor zehn Jahren adoptiert. Damals hatte ich Angst um meinen 14-jährigen Sohn Jorge. Die Paramilitärs wollten ihn rekrutieren. Als Jorge sich weigerte, versuchten sie ihn umbringen. Wir mussten Jorge aus der Stadt schaffen. Ich habe den NN gebeten, meinen Sohn zu beschützen. Und, Gott sei Dank, bis heute geht es Jorge gut."

Sandra ist eine stämmige schwarze Frau mit kurzen braunen Haaren. Ihre dunklen Augen sind ohne Glanz. Sandras Sohn Jorge hat überlebt, zwei andere Kinder aber, der 21-jährige Jhon und die 9-jährige Lise, verschwanden schon vor Jahren spurlos. Und jetzt haben die Paramilitärs auch Sandra, die sich für Gewaltopfer einsetzt, bedroht. Sie musste Puerto Berrio verlassen und in der Großstadt Medellin untertauchen. Nun sucht sie von hier aus nach Jhon und Lise:

"Jeden Tag bitte ich Gott und die Seelen der NNs, dass sie mich erhören und mir helfen, meine verschwundenen Kinder wiederzufinden."

Bisher ohne Erfolg. Aufgeben aber will Sandra nicht:

"Solange ich Hoffnung habe, werde ich weitersuchen. Das ist das wichtigste in meinem Leben. Sie wiederzufinden, lebendig oder tot."

Identifizierung der Toten ist Mammutaufgabe
50.000 Verschwundene, 40.000 namenlose Tote: Für die kolumbianische Justiz ist die Suche nach den Opfern und ihre Identifizierung eine Mammutaufgabe. Carlos Ramirez ist Gerichtsmediziner in Villavicencio.

Ramirez, ein gemütlich wirkender Endvierziger mit wachen braunen Augen, kramt in seinen Unterlagen, zeigt die verschiedenen Stadien der Identifikation der Opfer. Der Schädel wird vermessen, Anthropologen bestimmen das Alter der Opfer, Zahnmediziner die Form ihres Kiefers. Mit Hilfe dieser Informationen zeichnet Ramirez Portrait-Bilder.

"Dabei entsteht das Bild eines Menschen, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Es ist ein Erfolgserlebnis, wenn dann jemand kommt und sagt, das ist mein verschwundener Angehöriger."

Es klingt paradox aber – für die Familien kann die Nachricht vom Fund der Leiche eines Verschwundenen eine Erleichterung sein.
"Die Angehörigen denken jeden Tag an die Verschwundenen, fragen sich, ob sie gefoltert werden, ob sie leben oder tot sind. Das wird zu einem Fluch. Wenn sie erfahren, dass ihr Angehöriger tot ist, hat die Unsicherheit ein Ende. Dann können sie ihn begraben und endlich loslassen."

Vor kurzem hat ein Paramilitär die Staatsanwaltschaft zum Grab einer jungen Frau geführt. Ganz in der Nähe des Ortes, wo vor zehn Jahren die junge Prostituierte Diana von Paramilitärs verschleppt wurde. Carlos Ramirez hat sich an die Arbeit gemacht, die sterblichen Überreste analysiert und Portraits gezeichnet. Als Dianas Mutter Maria die Bilder sieht, ist für sie klar: Das muss meine Tochter sein. Und sie behält recht: Der DNA-Test ist tatsächlich positiv. Jetzt will Maria nur noch eins:

"Ich will sie anständig begraben. Die Paramilitärs hatten sie wie einen Hund verscharrt. Dann kann sie endlich ihre letzte Ruhe und ich endlich meinen Frieden finden."

Maria mag ihren Frieden finden. Doch für die Familien der vielen anderen kolumbianischen Verschwundenen gilt das nicht. Sie müssen weiter mit der Ungewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen leben.