Wo der Rhein "die Melodien der Haggadah murmelt"

Von Kirsten Serup-Bilfeldt |
Heinrich Heine fügte dem Rhein eine jüdische Facette hinzu: Er bearbeitete den Stoff der Ritualmordlegende um den 1287 ermordeten Knaben Werner von Bacharach und setzte ihn gegen die Kulisse der romantischen Rheinlandschaft.
Bernd Kortländer: "Im ersten Kapitel sitzt man dann beim Passahfest zusammen mit den Ritualen, die dazu vorgeschrieben sind, mit der Lektüre der Haggadah... Man ist freundlicher und sehr aufgeheiterter Stimmung..."

So, erzählt Professor Bernd Kortländer, steht es bei Heinrich Heine in seinem berühmten Romanfragment "Der Rabbi von Bacharach" zu lesen. Es beginnt mit der Schilderung eines festlichen Sederabends im Hause des Rabbiners Abraham und seiner Frau Sara:

Der zweite Becher war schon eingeschenkt, die Gesichter und Stimmen wurden immer heller, da öffnete sich die Türe und herein traten zwei große blasse Männer in sehr weite Mäntel gehüllt, und der eine sprach: "Friede sei mit euch. Wir sind reisende Glaubensgenossen und wünschen das Passiahfest mit euch zu feiern." Und der Rabbi antwortete rasch und freundlich: "Mit Euch sei Frieden. Setzt euch nieder in meiner Nähe...

Eine verhängnisvolle Entscheidung, denn nun nimmt das Schicksal seinen Lauf. Die beiden Fremden nämlich haben unter ihren Mänteln eine Kinderleiche verborgen, die sie heimlich unter den Tisch legen, um so dem Rabbiner und seinen Glaubensgenossen einen Mord unterzuschieben.

Hier greift Heine 1840 die alte Ritualmordlegende des Werner von Bacharach auf, dessen Leiche 1287 im Rhein angeschwemmt wurde und für dessen Ermordung man die jüdische Gemeinde verantwortlich machte. Diese alte Ritualmordverleumdung verknüpft der Dichter jetzt mit seinem Roman, in dem er den Schrecken und die Todesangst des Rabbiners schildert, als der als einziger das untergeschobene tote Kind entdeckt:

Bernd Kortländer: "Der Rabbi weiß in dem Moment: das ist das Ende der Gemeinde. Das wird dazu führen, dass wir alle umgebracht werden. Er steht auf, ruft seine Frau, nimmt sie an der Hand und ohne auch nur rechts und links zu gucken, stürzt er aus dem Haus in die dunkle Nacht in Richtung Bingen davon."

Nun wird aus dieser dramatischen Fluchtgeschichte ein rheinromantischer Streifzug, bei dem die Todesangst der Fliehenden immer wieder mit dem nächtlichen Frieden der Rheinlandschaft kontrastiert wird:

Es war eine jener Frühlingsnächte, die zwar lau genug und hellgestirnt sind, aber dennoch die Seele mit seltsamen Schauern erfüllt. Leichenhaft dufteten die Blumen... der Mond warf heimtückisch gelbe Streiflichter über den dunkel hinmurmelnden Strom... Der Turmwächter auf Burg Stahleck blies eine melancholische Weise und dazwischen läutete das Sterbeglöckchen der Sankt-Werners-Kirche...

Heine hatte vor, in Stil und Tradition des schottischen Dichters Sir Walter Scott, einen jüdischen Geschichtsroman zu schreiben. Und als Schauplatz wählte er – ausgerechnet – die Landschaft an den Ufern des Rheins.

Bernd Kortländer: "Natürlich war ihm klar, wie diese Landschaft aufgeladen war, durch christliche und nationale Elemente bestimmt war, und er versuchte jetzt, die Geschichte der deutschen Judenschaft am Beispiel einer jüdischen Gemeinde in Bacharach am Rhein zu beschreiben... Die Vermischung von rheinisch-deutscher und jüdischer Tradition zu einer Einheit unter dem Signum des Rheins: 'Es war, als murmelte der Rhein die Melodien der Haggadah und die Bilder derselben stiegen daraus hervor - lebensgroß und verzerrt'. Also, der Rhein, der deutscheste aller Flüsse, singt die jüdischen Gesänge; das ist der Versuch, diese beiden Traditionen auch hier zu überblenden."

Bereits 1824, also rund 15 Jahre vor Verfassen des "Rabbi von Bacharach", hatte
Heine mit seinem berühmten Lied von der Loreley das romantische Bild des Rheins bereits ganz wesentlich mitgeprägt. Des deutschen Rheins, wie Bernd Kortländer betont:

"Ein deutsches Arkadien, eine deutsche zentrale poetische Landschaft. Und damit verband sich immer auch eine Art nationaler Impetus; es sollte dadurch natürlich eine Art deutsche Identifikationslandschaft geschaffen werden – etwas, was es eben nicht gab. Deutschland gab es politisch nicht zu dieser Zeit; es gab eine Ansammlung von 36 selbständigen politischen Einheiten, die nur durch Sprache und Kultur zusammengehalten wurden und dieser Versuch, die Einheit Deutschlands zu symbolisieren, das war dann die Rheinlandschaft."

Dieser romantischen Rheinlandschaft gibt Heine nun einen jüdischen Inhalt. Der von Burgen umsäumte Fluss, die Ruine der gotischen Werner-Kapelle – sie sind "schön" und "romantisch", allerdings nur für den, der die Hintergründe nicht kennt. Denn hinter den mächtigen Monumenten deutscher Vergangenheit verbirgt sich der ganz alte Judenhass. Zu Ehren des angeblichen Ritualmordopfers Werner von Bacharach wurden am Rhein unzählige Juden verfolgt, misshandelt und getötet, und so ist Heines Werk immer auch eine Aufforderung zum kritischen Blick hinter die romantische Rheinkulisse.

Im "Rabbi von Bacharach", so Bernd Kortländer, mache Heine die Unmöglichkeit jüdischen Lebens am Rhein zum kritischen Maßstab, an dem sich der romantische Blick auf Strom und Landschaft messen lassen müsse.

Natürlich spielen hier auch autobiografische Aspekte hinein: Heines frühe Verwurzelung im Judentum, dann die langsame Ablösung – 1825 hatte er sich taufen lassen, um das "Entreebillett" in die Gesellschaft zu erlangen – und zum Schluss die bittere Erkenntnis:

"Der Jude wird nie abzuwaschen sein..."

Bernd Kortländer: "Das war Heine ja klar, dass dieser Traum von einer Verschmelzung von Deutschem und Jüdischem eine Illusion war, weil der herrschende Antisemitismus so stark war, dass dagegen nicht anzukommen war."