Wo bleibt der Totenkult?

Von Katharina Döbler |
In seinem Buch „Tanz ums Grab“ erzählt der Ethnologe Nigel Barley von den Bräuchen und Ritualen, mit denen Gesellschaften, Familien, mit ihren Toten umgehen: was sie mit ihnen tun, wie sie trauern und wie sie sich das vorstellen, was nach dem Tod kommt.
Diese Bräuche sind äußerst vielfältig, und unterschiedlich aufwendig. In unserer westlichen säkularen Gesellschaft hält man sich mit dem Tod so wenig und so kurz wie möglich auf: tage- und nächtelange Totenwachen, Trauerjahre mit spezieller Kleidung sind abgeschafft.

Nach einem Trauerfall geht man möglichst rasch wieder zur Tagesordnung über. Das Versorgen der Toten – das Waschen und Anziehen, Einsargen und Eingraben – erledigen bezahlte Dienstleister; aus den rituellen Handlungen von einst wird stilvolles Entsorgen. Und auch für die sogenannte Trauerarbeit haben wir Spezialisten, die Hinterbliebene psychologisch beraten.

Der Tod und die Trauer sind so aus dem sozialen Alltag, aus der Öffentlichkeit, verschwunden. Wir sind eine Gesellschaft, die keinen Totenkult mehr kennt.

Für die meisten Menschen hierzulande ist die Vorstellung, einen Toten zu berühren, schrecklich. Sterben findet in Krankenhäusern statt, also in den von der Gemeinschaft bestimmten Häusern für physische Ausnahmesituationen, wie ein Ethnologe vielleicht sagen würde. Menschen, die vor allem körperlich nicht mehr oder nicht ausreichend funktionieren, kommen dorthin, zur Wiederherstellung.

Gut, dass es diese Möglichkeit gibt, einerseits. Jeder möchte gesund werden. Andererseits ist niemand gerne im Krankenhaus, denn inmitten von Krankheit, Schmerz und der Angst vor dem Tod ist man vom normalen Leben abgeschnitten. Trost gibt es da wenig.

In diesen Medizinwerkstätten für menschliche Körper – die mittlerweile auch nach den Kriterien von Rentabilität geführt werden – herrscht ein physischer Pragmatismus, der auf seine Weise äußerst effizient ist. Dazu passt, dass der Gesetzgeber mittlerweile darüber nachdenkt, die Entnahme von Organen obligatorisch zu machen. Das heißt, jeder Sterbende ist Organspender, es sei denn, er oder sie hat zu Lebzeiten das Gegenteil verfügt. In Österreich wird das bereits so gehandhabt, und medizinisch hat sich das bewährt: Kranke müssen nicht mehr so lange auf eine Niere, ein Herz, eine Leber warten. Leben werden gerettet. Was kann daran falsch sein? Was soll einem toten Körper, der nichts mehr fühlt, die Vollständigkeit? Kaum jemand glaubt doch hierzulande noch, dass sich der Körper am Jüngsten Tag vollständig aus dem Grab erhebt.

Wir haben gelernt, die Toten als bloße Körper zu betrachten, als Material ohne Funktion. Damit verlieren Begriffe wie „Pietät“ und „Totenruhe“ ihren Sinn. Damit verliert sich auch der Respekt vor dem Tod, und vor dem Geheimnis des Sterbens. Es bleibt nichts als die Furcht vor der völligen Auslöschung.

Immerhin gibt es noch ein Gesetz (§ 168 StGB, Absatz 1), das den bestraft, der „den Körper oder Teile des Körpers eines verstorbenen Menschen, eine tote Leibesfrucht, Teile einer solchen oder die Asche eines verstorbenen Menschen wegnimmt oder daran beschimpfenden Unfug verübt“.

Beschimpfender Unfug ist eine interessante Formulierung.

Doch Geschäfte wie die des Leichen-Präparators von Hagens sind trotz dieses Gesetzes mit Einschränkungen möglich. Es handle sich ja nur um Plastinate, meint Hagens, die von ihm ausgestellten und verkauften Leichenteile seien „dauerhaft konserviert, irreversibel anonymisiert“ und „keine Trauerleichen“.

In diesem für einen so zynischen Geschäftsmann verblüffend naiven Wort liegt all das, was der pragmatisch-empirische, ökonomisch-funktionale Umgang mit den Toten ausschließt. Und was einen Totenkult eigentlich ausmacht: das Gefühl, das Erinnern, das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit. Vielleicht der Transzendenz. Totenkult hat zugleich mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu tun. Ist also, paradoxerweise, eine Art, sich mit dem Leben selbst zu beschäftigen.

Katharina Döbler, Journalistin und Autorin in Berlin, Redakteurin bei „Le Monde diplomatique“, schrieb für „NZZ“, „FAZ“, sowie immer noch für die „ZEIT“ und Rundfunk. Ein Roman ist gerade erschienen:"Die Stille nach dem Gesang“.
Katharina Döbler
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