WM-Vergabe

Das gekaufte Sommermärchen?

Schwarze Silhouetten vor einer blauen Wand, auf der "Extraordinary FIFA Congress 2016" steht.
FIfa-Dunkelmänner: Der Weltfußballverband konnten in letzter Zeit wenig Sympathiepunkte sammeln. Doch angeblich kommt in jeder Organisation ein gewisses Maß an "brauchbarer Illegalität" vor. © FABRICE COFFRINI / AFP
Stefan Kühl im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 04.03.2016
Korruption ist überall – wenn man der soziologischen Forschung Glauben schenkt. Beispiel Fifa: Die funktioniere "wie eine indische Stadtverwaltung", sagt der Organisationssoziologe Stefan Kühl. Es sei daher "nachvollziehbar, dass der DFB sich auf bestimmte Korruptionspraktiken eingelassen hat".
Wissenschaftler sind in ihrer Argumentation manchmal herzerfrischend amoralisch. Während der Durchschnittsbürger sich zornesrot über die Korruptionsfälle im Fußball - zuletzt wieder über das erkaufte Sommermärchen 2006 - aufregt, beschwichtigt der Organisationssoziologe Stefan Kühl: Es gebe eine Form von "brauchbarer Illegalität", wie sie fast jedes größere Unternehmen und jede größere Organisation wie der der Deutsche Fußballbund (DFB) für sich in Anspruch nehme. Das sei normal.
"Weil die Fifa eben ähnlich funktioniert wie eine indische Stadtverwaltung oder eine Regierung in einer zentralafrikanischen Republik, ist es nachvollziehbar, dass der DFB sich auf bestimmte Korruptionspraktiken eingelassen hat."

Dienst nach Vorschrift ist nich förderlich

Mit anderen Worten: Bringen Mogeleien Unternehmen und Verbände weiter als die strikte Einhaltung des Regelwerks? Stefan Kühl, der Professor an der Universität Bielefeld ist, meint:
"Jede Organisation kann nicht nach ihrem Regelwerk alleine funktionieren. Sondern es ist immer notwendig abzuweichen an bestimmten Punkten und etwas zu machen, was vielleicht auch nicht den formalen Regeln entspricht. Und wir wissen aus empirischen Studien, dass Dienst nach Vorschrift die sicherste Methode ist, eine Organisation lahm zu legen. Und die Frage ist: Wie viel brauchbare Illegalität, wie viel Informalität kann sich eine Organisation leisten und wo wird sowas sinnvoll eingesetzt?"

Köpfe rollen medienwirksam

Und ebenso regelmäßig wie es zu illegalen Aktionen komme, bestehe die erste Reaktion bei Aufdeckung immer darin, öffentlichkeitswirksam einen oder gleich mehrere Köpfe rollen zu lassen. Dies wiederum sei nur konsequent - denn es gebe kaum noch große Unternehmen und Verbände, die auf ihren Websites keine Anti-Korruptionsgrundsätze veröffentlichten. Wolle die Organisation also trotz Kungeleien und Mogeleien glaubwürdig bleiben, müssten die Verantwortlichen dann zumindest im Nachhinein gemäß diesen Grundsätze handeln.

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Der DFB hat es getan und VW und die Deutsche Bank und, und, und … sich nicht so ganz auf der Linie bewegt, die Recht und Gesetz vorgeben. Man könnte die Liste sicher unbeirrt fortsetzen. Heute wird ja der Bericht der Wirtschaftskanzlei veröffentlicht, die die Vorwürfe gegen den DFB, er habe die Fußball-WM 2006 quasi von der FIFA gekauft, untersucht hat. Schweinerei, sagt der Bürger, man hat uns betrogen und belogen. Aber: Gehört derlei Gebaren nicht einfach zum erfolgreichen Geschäftsleben? Müssen Fußballmanager, Anwälte, Politiker, erfolgreiche Menschen und Organisationen überhaupt nicht einfach genau so arbeiten, ein wenig abseits vom Wege, weil es gar nicht anders geht? Ich vermute ein klares Ja von Stefan Kühl, er ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Und wie er das begründet, das will ich jetzt wissen. Herr Kühl, schönen guten Morgen!
Stefan Kühl: Ja, schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Sie argumentieren ja für derlei Tun, also auch für das des DFB, mit dem wunderbaren Ausdruck der brauchbaren Illegalität. Was bitte ist das?
Kühl: Ja, das ist in der Soziologie ein eingeführter Begriff. Das heißt, dass jede Organisation nicht nach ihrer Blaupause, nach ihrem normalen Regelwerk alleine funktionieren kann, sondern dass es immer notwendig ist, auch abzuweichen, an bestimmten Punkten etwas zu machen, was vielleicht auch nicht unbedingt den formalen Regeln entspricht. Und wir wissen sehr gut auch aus verschiedenen empirischen Studien, dass Dienst nach Vorschrift die sicherste Art und Weise ist, eine Organisation lahmzulegen. Die Frage ist: Wie viel brauchbare Illegalität, wie viel Informalität kann sich eine Organisation leisten und wo wird so was sinnvoll eingesetzt.
von Billerbeck: Das klingt so, als würde die Soziologie ganz offen für Rechtsbruch plädieren. Ist das nicht zynisch?
Kühl: Nein, das heißt erst mal, dass man erkennt, dass es Regeln gibt und dass Regeln auch einen großen Sinn haben – ohne Regeln, ohne formale Erwartung würden Organisationen im Chaos enden –, aber Regeln und formale Regeln können nie so ausgerichtet sein, dass sie alle Problemlagen, alle Fragen abschließend klären können. Von daher gibt es ein Verständnis – jedenfalls in der Soziologie – dafür, weswegen es zu solchen Regelabweichungen kommt. Was völlig klar ist, ist, dass eine normative Bewertung oder eine juristische Bewertung von solchen Regelbrüchen, wenn es zum Beispiel Gesetzesverstöße betrifft, eine andere ist. Da wird dann eben drauf verwiesen, das durftet ihr nicht machen, und die Strafverfolgung, die dann einsetzt, ist nachvollziehbar. Aber erst mal geht es darum zu sagen, es gibt bestimmte Funktionalitäten von Regelabweichungen, die man erst mal erkennen muss.
von Billerbeck: Trotzdem heißt es ja, Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden. Wie begegnen Sie denn dem Vorwurf, dass das reines Nutzdenken ist – also ich will was erreichen, also mach ich das, gleichgültig, was für Regeln gelten?
Kühl: Ja, also es gibt erst mal zwei Punkte, und die Frage ist, unter welchem Gesichtspunkt bricht man Regeln. Bricht man eine Regel deswegen, weil man einen persönlichen Vorteil davon hat? – Das ist jetzt zum Beispiel bei der FIFA der Fall gewesen, dass der Regelbruch häufig drauf ausgerichtet gewesen ist, sich persönlich zu bereichern. Wenn Sie jetzt solche Fälle wie VW oder jetzt auch den DFB nehmen, da wurden ja Regeln nicht deswegen gebrochen, damit sich Leute unmittelbar persönlich bereichern können, sondern sie wurden gebrochen, damit die Organisation effizienter bestimmte Ziele erreichen konnte. Das heißt also, der Nutzen ist erst mal gewesen, für die Organisationen, in den selteneren Fällen für die jeweilige Person – also es ging nicht um eine persönliche Bereicherung. Und was auch ganz klar ist, dass wenn so eine Regelabweichung dann bekannt wird, dann können sich die Leute nicht drauf berufen und sagen, na ja, es gibt doch die Soziologen, die behaupten, dass das funktional ist, wenn man auch mal eine Regel bricht, sondern was klar ist, wenn ein Regelbruch bekannt wird, ja, dann ist man als Person dafür verantwortlich, dass es zu diesem Regelbruch gekommen ist.
von Billerbeck: Das ist auch prima, was Sie da sagen, Herr Kühl, das heißt ja, solange der Regelbruch nicht bekannt wird, ist alles prima, weil es ja in unser aller Interesse geschehen ist, dass die WM nach Deutschland gekommen ist.
Kühl: Das ist ja eine ganz realistische Beschreibung. Man kann sagen, der DFB hat in gewisser Art und Weise Pech gehabt, weil …
von Billerbeck: Dumm gelaufen.
Kühl: … ohne den Skandal bei der FIFA hätte es gar kein großes Interesse daran gegeben, wie es zu diesem Sommermärchen gekommen ist. Und das bedeutet eben, es ist eine alltägliche Praxis in Organisationen, das findet bei Ihnen genauso statt wie in einer Verwaltung, genauso wie in einer Universität, genauso wie in jedem Unternehmen, aber es gibt dann eben bestimmte, auch massenmedial verstärkte Effekte, die dazu führen, dass man eben besonders auf Regelbrüche guckt. Ja, und dann werden solche Sachen bekannt, und die Verantwortung dafür wird personalisiert, das heißt, da gehen dann bestimmte Personen.
von Billerbeck: Nun wissen wir ja, dass es naiv wäre zu glauben, dass man in allen Teilen der Welt Geschäfte machen könnte wie im Regelfall bei uns, sage ich jetzt mal, aber müsste es nicht trotzdem Ziel sein, gleiche Wertestandards überall zu haben?
Kühl: Ja, das Interessante ist ja, wenn man sich das anguckt, dann haben wir so was wie eine Weltkultur, kann man sagen, also es ist offiziell so, dass in jedem Land gesagt wird, bei uns ist Korruption verboten. Gleichzeitig wissen wir sehr genau, dass wenn es um Geschäfte in Afrika oder in Asien oder auch bestimmten Teilen von Mittelamerika geht, dass man …
von Billerbeck: … die Korruptionssummen sogar von der Steuer absetzen kann.
Kühl: Ja, das konnte man in Deutschland ja vor Kurzem auch noch, aber was eben schon auffällig ist, dass die Trennung zwischen Amt und Person, also zwischen dem, was man als offizielles Organisationsmitglied machen muss und persönlichen Interessen, da nicht in der gleichen Art durchgesetzt ist wie in Westeuropa zum Beispiel. Und das führt eben dazu, dass man eine gewisse Flexibilität braucht, wenn man mit solchen Ländern Geschäfte machen möchte. Das kann man ja auch als eine Professionalität der Korruption bezeichnen, die eben nicht so offensichtlich sein darf, dass man sofort eben Aufmerksamkeit auf sich zieht. Na ja, und weil die FIFA eben ähnlich funktioniert wie zum Beispiel eine Stadtverwaltung in Indien oder eine Regierung in der zentralafrikanischen Republik ist es nachvollziehbar, dass der DFB sich auf bestimmte Korruptionspraktiken eingelassen hat.
von Billerbeck: Trotzdem fragt man sich, ob das auf Dauer gut gehen kann, dass in einem Unternehmen, in einer Organisation zwei nebeneinanderstehende Wertekodizes existieren.
Kühl: Ja, wir nennen das in der Soziologie Entkopplung.
von Billerbeck: Ich liebe die Soziologie.
Kühl: Ja. Es gibt eine Außen-, eine Schauseite, die darin besteht, dass man sich zu bestimmten Werten, auch hehren Werten bekennt. Jedes Unternehmen, jede Verwaltung hat eine Antikorruptionspolitik auf ihrer Website stehen und vertritt das auch formal, und gleichzeitig wissen Leute, zum Beispiel im Vertrieb, dass wenn es darum geht, bestimmte Produkte zu verkaufen, eine gewisse Subtilität notwendig ist, die nicht unbedingt in jedem Detail dem Regelwerk entspricht. Das heißt, es gehört auch mit zu einer Professionalität eines Mitarbeiters, genau diese Diskrepanz, die in jeder Organisation vorhanden ist, zu managen.
von Billerbeck: Brauchbare Illegalität, das war für mich heute das Wort des Tages. Danke an den Bielefelder Organisationssoziologen Stefan Kühl!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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