Wissenswerte Nichtigkeiten
Was müssen wir wissen, und was sollten wir wissen, obwohl wir es eigentlich nicht wissen müssen? Gustav Weber reiht sich in die lange Reihe der mehr oder weniger originellen Enzyklopädisten ein, die uns mit Dingen und Sachverhalten bekannt machen, die im durchrationalisierten Alltag an den Rand der Wahrnehmung geraten sind.
Müssen wir wissen, dass bei uns jedes Jahr 800 Millionen Currywürste gegessen werden? Müssen wir den Unterschied zwischen einem Grafen und einem Freiherren kennen – und auch noch wissen, wie wir die beiden anzusprechen haben, wenn sie neben uns an der Currywurstbude ihre Currywurst (erfunden 1949) verspeisen?
Müssen wir wissen, wie wir am besten zu den 210.000 Deutschen stoßen können, die bisher mit einem Verdienstorden ausgezeichnet wurden?
Gustav Weber bringt uns mit seiner „Curiosa Germanica – Unbekanntes Bekanntes von Adel bis Zeitrechnung“ bei. Das ist mehr als nur ein cleveres Abdecken einer Marktlücke auf dem unendlichen Ratgeber-Sektor, wo es etwa „Schotts Sammelsurium“ mit seiner willkürlichen Ansammlung von Allgemein- und Spezialwissen in die Bestsellerlisten schaffte.
Was müssen wir wissen? Was ist Allgemeinwissen?
- dass es bei uns mehr Wahrsager und Hellseher gibt als katholische und evangelische Geistliche – und schon bei den Kelten die Priester vom Wehrdienst befreit waren?
- wieso ein Polier Polier heißt, obwohl er nichts poliert und ein Geheimrat ein Geheimrat, obwohl er nichts geheim hält?
- dass die Zeitungsente ihren Namen von N.T. ("non testified") hat, die halbe Miete von dem Platz rührt, wo der Bauer seine Ernte abgelagert hat und der rote Faden seinen Ursprung in den Tauen der Royal Navy hat?
- dass der Schauspieler Klaus Kinski eigentlich Nikolaus Günter Karl Nakszynski hieß – und Helene Berta Bunnenberg Lale Andersen?
- dass Deutsch neben Latein und Italienisch die dritte Amtssprache der Schweizergarde im Vatikan ist – und in Ostpanama das deutsche Wort „arbeit“ in die Karibensprache Cuna aufgenommen wurde, während die Russen ihre „Pudel“ oder „Risenschnauzer“ auch mit deutschen Befehlen ("Platz!“, „Sitz!“, „Such!") drillen.
- dass bis 1934 in den deutschen Reisepässen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit stand, sondern „Bayern“ oder „Preußen“, „Sachsen“ oder „Braunschweig“?
Wollen wir wirklich wissen, ob nur 500.000 oder sogar elf Millionen Deutsche diese Zeilen nicht lesen können, weil sie Analphabeten sind?
Vielleicht müssen wir ja gar nichts davon wissen, aber ist es nicht viel angenehmer, wenn wir einmal zu einer Hochzeit eingeladen sind, nicht über das Wetter zu reden – wenn wir neben einem unangenehm unbekannten Vertreter der angeheirateten Verwandtschaft, zwischen Vorsuppe Lady Curzon und Nachtisch Birne Helene, einfach plaudern müssen? Wenn in dieser Hochzeitsnacht etwa gerade wieder die Sommer- zur Winterzeit wird, dann wissen wir jedenfalls nach Lektüre des Büchleins nicht nur, dass es bei uns seit 1980 eine Sommer- und eine Winterzeit gibt, sondern wir wissen auch, dass die Uhrzeit weltweit mit der Greenwich Mean Time (GMT) zum Stichtag 1. Januar 1880 standardisiert wurde – mit regional sehr individuellen Standards: das Königreich der Niederlande orientierte sich an GMT plus 19 Minuten, 32 Sekunden. Wie sich dann die Mitteleuropäische Zeit (MEZ), nach der das ganze Deutsche Kaiserreich ab 1. April 1893 seine Uhren stellte, über Mitteleuropa ausbreitete, wissen wir, wenn wir Gustav Weber studiert haben – und auch, warum das Jahr 1900 kein Schaltjahr war, 2000 aber sehr wohl, und 2001 wiederum nicht: obwohl doch alle drei durch vier teilbar sind.
Und wenn die Hochzeit keine Hochzeit ist, sondern der Leichenschmaus nach der Beerdigung eines sehr entfernten Großonkels, können wir nicht nur fachmännisch über das deutsche Bestattungsrecht (kein Grab im Schrebergarten) parlieren, sondern ebenso über diverse ungewöhnliche Todesarten – und vor allem ihre Vermeidung! Wir wissen, dass wir bei Blitz und Donner nicht die Buche suchen und der Eiche weichen sollen – sondern uns am besten in eine Erdmulde verkriechen, die aber nicht von Wasser überschwemmt sein darf. Und dass wir nach dem Biss durch eine Kreuzotter viel trinken müssen, uns wenig bewegen – und keinesfalls die Wunde von einem freundlichen Mitmenschen aussaugen lassen dürfen. Bei Insektenstichen auf die Zunge ist übrigens Zwiebelsaft angebracht. Und fast 1000 Ärzte behandeln hierzulande Verletzungen mit Fliegenmaden…
Einige der 50 Kapitel des hilfreichen Konversations-Büchleins von Gustav Weber sind Fakten- und Datenhalden (wie „Deutschland statistisch“ – getreu nach dem Statistischen Bundesamt); andere sind kleine im guten Sinne belehrende Abhandlungen etwa zu „Deutschen Autokennzeichen von einst bis heute“ (Berlin erst „IA“, dann „B") oder zur immerwährenden deutschen Rechtschreibreform ("Vom Sect zum Sekt, von der That zur Tat"). Großes Manko: es gibt keine Literaturverweise für den, der sich noch klüger machen will. Dem hilft dann nur ein gutes Konversationslexikon in Verbindung mit einer sorgfältigen Internet-Recherche – wobei er nach Gustav Webers Lektüre weiß, dass zwar 50 Prozent aller Internet-Seiten englisch sind, aber immerhin mehr als acht Prozent auf Deutsch (und danach erst französische, spanische, japanische oder chinesische Websites kommen).
Der Autor, Jahrgang 1953, hat seinen Zivildienst in einem israelischen Kibutz geleistet und dann Politologie und Slawistik studiert. Wir wissen nicht, können uns aber gut vorstellen, wie er später als Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa seinen Zettelkasten anlegte und die ersten Stichworte Gestalt annahmen: die Kapitel über Königsberg ("Ottokar, Kant und Kalinin") oder Minderheiten in Deutschland ("Von Sorben, Friesen und anderen") zeigen seine slawophilen Neigungen – die auch heftig etwa beim Thema „Deutsche Wörter weltweit“ durchschlagen ("Blizkrig, zejtnot, kindergarten").
Es macht sich schließlich auf jeden Fall gut, wenn der Staatsbürger weiß, dass in seiner Bundesrepublik 82,5 Millionen Menschen für 926 Milliarden Euro Steuereinnahmen sorgen, von denen 40.000 Schulen für 9,6 Millionen Schüler ebenso bezahlt werden wie 4,7 Millionen Angehörige des Öffentlichen Dienstes. Und wer gerne wettet, kann ja gerne mal wetten, wie viele Eier (9,2 Milliarden) wie viele deutsche Hühner (40 Millionen) alljährlich legen.
Ach ja: Und wenn wir in der Kneipe sitzen und ein Weizenbier trinken, können wir unserer neuen Kneipenbekanntschaft erzählen, dass bis 1798 in fast ganz Bayern das Weizenbier-Brauen verboten war; dass ein Mensch im Laufe von 60 Jahren fast ein halbes Jahr auf der Toilette verbringt; dass das Aspirin, dass wir am nächsten Morgen nach übermäßigem Weizenbiergenuss zu schlucken pflegen, seinen Namen von der acetylierten Spirsäure hat – und das ABC-Pflaster, das wir nach handgreiflicher Wissensabwehr unserer ungebildeten Kneipenbekanntschaft dringend benötigen, von Arnika, Belladonna und Capsicum.
Übrigens ist „Curiosa Germanica – Unbekanntes Bekanntes von Adel bis Zeitrechnung“ eines von 75.000 neuen Büchern, die hierzulande jedes Jahr erscheinen. Müssen wir das wissen? Schaden kann’s nicht. Die Kanadier haben übrigens das Wort „klugscheisser“ in ihren Wörterschatz übernommen.
Rezensiert von Klaus Pokatzky
Gustav Weber: Curiosa Germanica
Unbekanntes Bekanntes von Adel bis Zeitrechnung
Herbig 2006
304 Seiten, 17,90 Euro
Müssen wir wissen, wie wir am besten zu den 210.000 Deutschen stoßen können, die bisher mit einem Verdienstorden ausgezeichnet wurden?
Gustav Weber bringt uns mit seiner „Curiosa Germanica – Unbekanntes Bekanntes von Adel bis Zeitrechnung“ bei. Das ist mehr als nur ein cleveres Abdecken einer Marktlücke auf dem unendlichen Ratgeber-Sektor, wo es etwa „Schotts Sammelsurium“ mit seiner willkürlichen Ansammlung von Allgemein- und Spezialwissen in die Bestsellerlisten schaffte.
Was müssen wir wissen? Was ist Allgemeinwissen?
- dass es bei uns mehr Wahrsager und Hellseher gibt als katholische und evangelische Geistliche – und schon bei den Kelten die Priester vom Wehrdienst befreit waren?
- wieso ein Polier Polier heißt, obwohl er nichts poliert und ein Geheimrat ein Geheimrat, obwohl er nichts geheim hält?
- dass die Zeitungsente ihren Namen von N.T. ("non testified") hat, die halbe Miete von dem Platz rührt, wo der Bauer seine Ernte abgelagert hat und der rote Faden seinen Ursprung in den Tauen der Royal Navy hat?
- dass der Schauspieler Klaus Kinski eigentlich Nikolaus Günter Karl Nakszynski hieß – und Helene Berta Bunnenberg Lale Andersen?
- dass Deutsch neben Latein und Italienisch die dritte Amtssprache der Schweizergarde im Vatikan ist – und in Ostpanama das deutsche Wort „arbeit“ in die Karibensprache Cuna aufgenommen wurde, während die Russen ihre „Pudel“ oder „Risenschnauzer“ auch mit deutschen Befehlen ("Platz!“, „Sitz!“, „Such!") drillen.
- dass bis 1934 in den deutschen Reisepässen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit stand, sondern „Bayern“ oder „Preußen“, „Sachsen“ oder „Braunschweig“?
Wollen wir wirklich wissen, ob nur 500.000 oder sogar elf Millionen Deutsche diese Zeilen nicht lesen können, weil sie Analphabeten sind?
Vielleicht müssen wir ja gar nichts davon wissen, aber ist es nicht viel angenehmer, wenn wir einmal zu einer Hochzeit eingeladen sind, nicht über das Wetter zu reden – wenn wir neben einem unangenehm unbekannten Vertreter der angeheirateten Verwandtschaft, zwischen Vorsuppe Lady Curzon und Nachtisch Birne Helene, einfach plaudern müssen? Wenn in dieser Hochzeitsnacht etwa gerade wieder die Sommer- zur Winterzeit wird, dann wissen wir jedenfalls nach Lektüre des Büchleins nicht nur, dass es bei uns seit 1980 eine Sommer- und eine Winterzeit gibt, sondern wir wissen auch, dass die Uhrzeit weltweit mit der Greenwich Mean Time (GMT) zum Stichtag 1. Januar 1880 standardisiert wurde – mit regional sehr individuellen Standards: das Königreich der Niederlande orientierte sich an GMT plus 19 Minuten, 32 Sekunden. Wie sich dann die Mitteleuropäische Zeit (MEZ), nach der das ganze Deutsche Kaiserreich ab 1. April 1893 seine Uhren stellte, über Mitteleuropa ausbreitete, wissen wir, wenn wir Gustav Weber studiert haben – und auch, warum das Jahr 1900 kein Schaltjahr war, 2000 aber sehr wohl, und 2001 wiederum nicht: obwohl doch alle drei durch vier teilbar sind.
Und wenn die Hochzeit keine Hochzeit ist, sondern der Leichenschmaus nach der Beerdigung eines sehr entfernten Großonkels, können wir nicht nur fachmännisch über das deutsche Bestattungsrecht (kein Grab im Schrebergarten) parlieren, sondern ebenso über diverse ungewöhnliche Todesarten – und vor allem ihre Vermeidung! Wir wissen, dass wir bei Blitz und Donner nicht die Buche suchen und der Eiche weichen sollen – sondern uns am besten in eine Erdmulde verkriechen, die aber nicht von Wasser überschwemmt sein darf. Und dass wir nach dem Biss durch eine Kreuzotter viel trinken müssen, uns wenig bewegen – und keinesfalls die Wunde von einem freundlichen Mitmenschen aussaugen lassen dürfen. Bei Insektenstichen auf die Zunge ist übrigens Zwiebelsaft angebracht. Und fast 1000 Ärzte behandeln hierzulande Verletzungen mit Fliegenmaden…
Einige der 50 Kapitel des hilfreichen Konversations-Büchleins von Gustav Weber sind Fakten- und Datenhalden (wie „Deutschland statistisch“ – getreu nach dem Statistischen Bundesamt); andere sind kleine im guten Sinne belehrende Abhandlungen etwa zu „Deutschen Autokennzeichen von einst bis heute“ (Berlin erst „IA“, dann „B") oder zur immerwährenden deutschen Rechtschreibreform ("Vom Sect zum Sekt, von der That zur Tat"). Großes Manko: es gibt keine Literaturverweise für den, der sich noch klüger machen will. Dem hilft dann nur ein gutes Konversationslexikon in Verbindung mit einer sorgfältigen Internet-Recherche – wobei er nach Gustav Webers Lektüre weiß, dass zwar 50 Prozent aller Internet-Seiten englisch sind, aber immerhin mehr als acht Prozent auf Deutsch (und danach erst französische, spanische, japanische oder chinesische Websites kommen).
Der Autor, Jahrgang 1953, hat seinen Zivildienst in einem israelischen Kibutz geleistet und dann Politologie und Slawistik studiert. Wir wissen nicht, können uns aber gut vorstellen, wie er später als Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa seinen Zettelkasten anlegte und die ersten Stichworte Gestalt annahmen: die Kapitel über Königsberg ("Ottokar, Kant und Kalinin") oder Minderheiten in Deutschland ("Von Sorben, Friesen und anderen") zeigen seine slawophilen Neigungen – die auch heftig etwa beim Thema „Deutsche Wörter weltweit“ durchschlagen ("Blizkrig, zejtnot, kindergarten").
Es macht sich schließlich auf jeden Fall gut, wenn der Staatsbürger weiß, dass in seiner Bundesrepublik 82,5 Millionen Menschen für 926 Milliarden Euro Steuereinnahmen sorgen, von denen 40.000 Schulen für 9,6 Millionen Schüler ebenso bezahlt werden wie 4,7 Millionen Angehörige des Öffentlichen Dienstes. Und wer gerne wettet, kann ja gerne mal wetten, wie viele Eier (9,2 Milliarden) wie viele deutsche Hühner (40 Millionen) alljährlich legen.
Ach ja: Und wenn wir in der Kneipe sitzen und ein Weizenbier trinken, können wir unserer neuen Kneipenbekanntschaft erzählen, dass bis 1798 in fast ganz Bayern das Weizenbier-Brauen verboten war; dass ein Mensch im Laufe von 60 Jahren fast ein halbes Jahr auf der Toilette verbringt; dass das Aspirin, dass wir am nächsten Morgen nach übermäßigem Weizenbiergenuss zu schlucken pflegen, seinen Namen von der acetylierten Spirsäure hat – und das ABC-Pflaster, das wir nach handgreiflicher Wissensabwehr unserer ungebildeten Kneipenbekanntschaft dringend benötigen, von Arnika, Belladonna und Capsicum.
Übrigens ist „Curiosa Germanica – Unbekanntes Bekanntes von Adel bis Zeitrechnung“ eines von 75.000 neuen Büchern, die hierzulande jedes Jahr erscheinen. Müssen wir das wissen? Schaden kann’s nicht. Die Kanadier haben übrigens das Wort „klugscheisser“ in ihren Wörterschatz übernommen.
Rezensiert von Klaus Pokatzky
Gustav Weber: Curiosa Germanica
Unbekanntes Bekanntes von Adel bis Zeitrechnung
Herbig 2006
304 Seiten, 17,90 Euro