Wissensvermittlung im Geschichtsunterricht

Wie man Schüler zu mündigen Staatsbürgern macht

"Arbeit macht frei" – eine Schülergruppe vor dem Tor in der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers
Mangelndes Geschichtswissen: In der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen fiel ein Schüler durch lautes und albernes Benehmen auf. © imago/Jürgen Ritter
Ein Einwurf von Rolf Schneider · 13.12.2018
Wie kann es sein, dass ein 16-jähriger Gymnasiast keine oder kaum Kenntnis von deutschen Konzentrationslagern hat? Autor Rolf Schneider verweist auf mangelnde Vermittlung von Fakten im Geschichtsunterricht. So entstehe auch Raum für rechtes Gedankengut.
Eine Lehrerin aus einer Berlin-nahen Ortschaft fährt, zusammen mit Schülern einer zehnten Gymnasialklasse, in die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen. Während der Besichtigung fällt einer der Jungen durch sein lautes und unangemessen albernes Benehmen auf. Die Lehrerin ermahnt ihn, mehrmals, vergeblich, sie schickt ihn schließlich vor das Gedenkstättentor. Dass ihr anschließend von den Eltern mit einem Anwalt gedroht wird, sei hier nicht näher dargetan. Erheblicher sind die Gründe für das Verhalten des Jungen.
Wie es scheint, wusste er nicht, was an dem Ort, an dem er sich aufhielt, einst geschehen war. Für völlig Uninformierte ist das ehemalige KZ ein ödes weitläufiges Gelände mit ein paar unansehnlichen Gebäuden. Wenn ein 16-jähriger Gymnasiast keine oder ungenügende Kenntnis von deutschen Konzentrationslagern, deren Opfern, deren Betreibern und den dort verübten Grausamkeiten hat, dürfte dies mit mangelnder Geschichtskenntnis zu tun haben.

Weniger Unterrichtsstoff, mehr Methodik

Hat er in seiner Schule nichts über die Hitler-Jahre erfahren? Die auch für seine Anstalt verbindlichen Unterrichtspläne widersprechen dem. Wir haben sie näher betrachtet, außer den für das Bundesland Brandenburg gültigen noch die des Freistaates Sachsen. Beide sehen vor, dass Kenntnisse von den geschichtlichen Anfängen bis zur jüngsten Vergangenheit zu vermitteln seien.
In der Praxis sieht das so aus, dass im Falle von Stundenausfällen, und die kommen immer wieder vor, der Stoff chronologisch weiter verfolgt wird, über alle Schuljahre hinweg, was am Ende dazu führen kann, dass die Ereignisse der allerjüngsten Vergangenheit, wozu die Hitlerjahre zählen, aus Zeitnot nur knapp oder überhaupt nicht mehr stattfinden.
Noch etwas kommt hinzu: In beiden Bildungsplänen geht es nicht so sehr um den Unterrichtsstoff als vor allem um Methodik. Die Schüler sollen befähigt werden, sich Quellen selbstständig zu erschließen und mit ihnen umzugehen. Dies mag als positiver Beitrag zur Persönlichkeitsbildung erscheinen, doch es birgt Risiken: Eines besteht darin, dass die Zugriffe auf Quellen üblicherweise über digitale Medien erfolgen. Hier sind die Schüler ihren Lehrern oft überlegen, da sie früher und ausführlicher mit der digitalen Welt Umgang haben. Vor allem aber kann die allzu ausführliche Pflege des Methodischen die Kenntnisnahme und das Erlernen von Fakten einschränken oder behindern.

Lücken in der Allgemeinbildung

Ziel allen pädagogischen Mühens ist die Heranbildung eines mündigen Staatsbürgers. Er soll politisch denken, was Geschichtsbewusstsein voraussetzt, das seinerseits auf Geschichtskenntnissen, also Fakten basiert.
Hochschullehrer klagen immer wieder über mangelhafte intellektuelle Voraussetzungen ihrer Studienanfänger. Dies betrifft nicht bloß die oftmals miserable Orthografie, es betrifft ebenso Lücken in der Allgemeinbildung und da zumal in Sachen Geschichte. Historische Fakten bedeuten nicht nur Zahlen und Namen, sondern auch die damit verbundenen Ereignisse und Schicksale. Sie rufen emotionale Reaktionen hervor und ordnen sich einer Werteskala zu.
Sofern dies alles fehlt, herrschen Unwissen und Ignoranz. Sie lassen Raum für Falschinformationen, wie sie zumal das Internet bereithält, man muss bloß auf die entsprechenden Blogs und Webseiten gehen und dort bleiben. Die Angebote sind reichlich. Nebenher verheißen sie Kameraderie, Abenteuer, Elitebewusstsein und Provokation, was manche pubertierende Seele begehrt.
Wir haben Brandenburg und Sachsen nicht zufällig erwähnt. In beiden Bundesländern häufen sich rechtsextreme Überzeugungen und Aktivitäten, zumal bei jungen Leuten. Das Problem wird bevorzugt mit den dort geschehenen gesellschaftlichen Umbrüchen nach 1990 erklärt. Es ist an der Zeit, die Mitverantwortung der Unterrichtspraxis im Fach Geschichte zu erkennen.

Rolf Schneider, geboren 1932 in Chemnitz, war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller und Essayist. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Seine politischen und künstlerischen Lebenserinnerungen fasst er in dem Buch "Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland" (2013) zusammen. Veröffentlichungen u.a.: "November" (1979), "Volk ohne Trauer" (1992), "Die Sprache des Geldes" (1995) und "Ebereschenfeuer" (2018).

Porträt des ostdeutschen Schriftsteller Rolf Schneider
© picture alliance / dpa / Klaus Franke
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