Wissenschaftsjournalist über Selbstmedikation

Weniger einwerfen ist mehr

Eine Frau nimmt Tabletten.
Dass einem mal etwas weh tut, sei normal, sagt Werner Bartens - doch das wollten viele trotzdem nicht hinnehmen. © imago / photothek
Werner Bartens im Gespräch mit Dieter Kassel  · 11.10.2017
Der Kopf sticht, der Nacken schmerzt - und der Mensch wirft sofort eine Pille ein. So eine "Rundum-sorglos"-Erwartung sei allerdings wenig hilfreich, sagt der Mediziner und Wissenschaftsjournalist Werner Bartens. Er rät dazu, dem Schmerz auch mit anderen Methoden zu begegnen.
Dieter Kassel: Beim heute beginnenden Deutschen Schmerzkongress in Mannheim, da wird es neben vielen anderen Dingen auch um das Thema Selbstmedikation gehen, also darum, wie sinnvoll oder auch unsinnig oder sogar gefährlich es ist, wenn Menschen, die in dem Fall natürlich konkret Schmerzen haben, nicht zum Arzt gehen oder in ein Krankenhaus, vielleicht auch noch nicht mal ihren Apotheker fragen, sondern einfach – bei Schmerzen liegt es ja nahe – die Mittelchen nehmen, die, glaube ich, viele von uns in der Schublade oder im Medizinschrank haben: Aspirin, Ibuprofen und ein paar andere, die man kennt und rezeptfrei bekommt.
Über dieses Thema wollen wir jetzt mit Werner Bartens reden. Er ist Wissenschaftsjournalist, Autor zahlreicher Bücher zu Medizinthemen, er ist studierter Mediziner und auch leitender Redakteur im Wirtschaftsressort der "Süddeutschen Zeitung". Herr Bartens, schönen guten Morgen!
Werner Bartens: Schönen guten Morgen! Wissenschaftsressort muss ich kurz ergänzen, Entschuldigung, nicht Wirtschaft.
Kassel: Ja, das hatte ich gestern, deshalb hab ich es durcheinandergebracht. Herr Bartens, wir reden ja aber auch über Wissenschaft und über Medizin. Wenn ich jetzt leichte Schmerzen habe und eben nicht glaube wie ja andere – darauf werden wir kommen – auch, da muss ich sofort in die Notaufnahme, ist es dann nicht eigentlich toll, wenn ich einfach selber ne Pille nehme?
Bartens: Na ja, dass man irgendwie mal kurz mal ein Schmerzmittel nimmt, dagegen ist gar nichts zu sagen, aber es ist natürlich Zeichen einer bestimmten sozusagen "Ich will sofort das Rundum-sorglos-Paket"-Mentalität. Man hat das Gefühl, ja, Schmerzen, da muss ich was tun. Leute, die sich damit ein bisschen stärker beschäftigen, die wissen, dass es völlig normal ist, dass 70, 80, 90 Prozent aller Menschen einmal im Monat mindestens irgendwie Schmerzen, Beschwerden haben, und da muss man nicht gleich ne Pille nehmen, da kann man auch andere Dinge machen.

Schmerz gehört zum Mensch-Sein

Kassel: Aber das Problem ist ja, dass Leute aber auch daraufhin, das ist ganz normal, mit Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen muss ich doch überhaupt nicht leben, die gehen doch in 20 Minuten wieder weg, wenn ich was ins Glas getan hab und ausgetrunken.
Bartens: Wie gesagt, ich würde sehr unterscheiden zwischen dem, ob ich das jetzt einmal habe oder das wirklich jetzt lästig ist, weil ich einen wichtigen Termin habe oder so, oder ob ich das zur regelmäßigen Gewohnheit mache. Und dann gewöhne ich mich daran, dass ich so was überhaupt nicht akzeptiere, Einschränkungen des Körpers, eine leichte Funktionseinschränkung, Befindlichkeitsstörung. Das ist nun mal sozusagen eine anthropologische Konstante, das gehört zum Menschsein, dass ich so was gelegentlich habe.
Und nebenbei, da müsste man auch nicht nur dieses mechanistische Bild haben, Schmerzen, also brauche ich ein Schmerzmittel, sondern Psychosomatiker und andere Ärzte wissen seit Langem, dass Schmerz im Kopf entsteht. Das heißt, es kommt sehr darauf an, ob der Schmerz überhaupt als Schmerz empfunden wird, und das kann ich selber stark beeinflussen. Wenn ich beispielsweise viel Angst habe, gestresst bin, dann spüre ich Schmerzen stärker, als wenn ich das nicht bin. Das heißt, ich kann durch meinen Alltag, durch die Art, wie ich mit Belastung umgehe, auf Stress reagiere, sehr viel dafür tun, dass ich nicht so schmerzempfindlich bin – da brauche ich keine Pillen und keine Medikamente.

"Katastrophisierung" vermeiden

Kassel: Das heißt, in dem Fall eben nicht ganz schnell was machen, sondern sich wirklich mal die Zeit nehmen, alleine oder vielleicht doch mit einem Facharzt herauszufinden, woher das kommt.
Bartens: Ja, beziehungsweise Bewältigungsstrategien zu lernen, das ist was, was mit chronischen Schmerzpatienten gemacht wird. Das Schlimmste, was die machen können, das ist das sogenannte Katastrophisieren, also zu denken, oh Gott, und dann kommen wieder die Schmerzen, oder oh Gott, ich hab jetzt diese Schmerzen, das ist ganz schlimm, ich muss mich schonen und dann wird das ganz furchtbar, sondern sozusagen, das hat man auch … bei Rückenschmerzen hat man da massiv umgelernt, dass man da mittlerweile nicht schonen, sich hinlegen und sagen, es ist ganz schlimm, sondern, wenn es geht, aktivieren, sich bewegen, was tun und die gute Zuversicht versuchen zu haben, dass es wieder vorbeigeht. Das klingt jetzt so ein bisschen betulich, ist aber wahnsinnig wirksam.
Kassel: Nun könnten wir mit diesem Gespräch aber etwas verursachen, was wir, glaube ich, auch wieder nicht wollen, nämlich dass Leute, die sich bisher eine Aspirin eingeworfen haben, wenn sie Schmerzen hatten, in Zukunft beim geringsten Ansatz eines Schmerzes in die Notaufnahme gehen. Ich glaube, manche Menschen sind jetzt langsam verwirrt, weil wir hören Berichte, die immer wieder sagen, geht doch nicht ständig zum Arzt, geht schon gar nicht mit Kleinigkeiten in die Notaufnahme, und jetzt sagen wir ihnen doch nicht auch noch, aber nehmt auch nicht einfach so ein Medikament.
Bartens: Nee, aber kein Medikament zu nehmen, heißt ja nicht, deswegen gleich zum Arzt gehen zu müssen. Deutschland ist übrigens Weltmeister, Weltmeister in der Zahl der Arztbesuche, das ist viel, viel häufiger als in Skandinavien oder als in den Beneluxstaaten. Und dieses Gefühl irgendwie, es muss gleich was getan werden, ich kann nicht erst mal gucken, wie ich selber reagiere, das spricht nicht nur für so eine bestimmte Dienstleistungserwartung, sozusagen ich hab ein Problem, mir muss geholfen werden, auch gegenüber dem eigenen Körper, sondern das zeigt eigentlich auch, dass sozusagen die Menschen immer weniger ihren Körper kennen oder wissen oder das Zutrauen haben, na ja, das geht nach einer Zeit schon von alleine wieder weg, wenn ich mich mal einen Moment hingesetzt habe oder wenn ich irgendwie um den Block gegangen bin oder was anderes gemacht habe. Häufig sind Schmerzen ja auch wirklich ein Ausdruck einer Überlastung, von einem bestimmten Zuviel, und da hilft dann eben nicht die Pille und auch nicht der Arztbesuch, sondern vielleicht irgendwie ein besserer, sorgsamerer, achtsamerer Umgang mit sich selbst.

Auch die Beschäftigung mit sich selbst hilft

Kassel: Ist das vielleicht manchmal auch – das geht mir jetzt gerade durch den Kopf nach dem, was Sie gesagt haben, Herr Bartens – eine gewisse Angst davor, es so genau lieber gar nicht wissen zu wollen, weil natürlich, wenn man zum Arzt geht, eine Spritze zu kriegen oder eine Pille zu nehmen, ist natürlich einfacher, als sich möglicherweise erst mal ein paar Wochen damit zu beschäftigen, was es ist, um dann – das ist ja nicht selten erforderlich – eventuell sein ganzes Leben umzustellen?
Bartens: Da ist ganz viel dran. Ich meine, nicht hinter jeder Schmerzattacke oder hinter jedem Rückenschmerz oder Kopfschmerzen steht gleich irgendwie die Ehekrise oder die Sinnfrage, das muss jetzt nicht gleich die große Psychonummer werden, aber es geht ja darum, eher so ein bisschen für sich kleine Stellschrauben im Alltag zu finden, wo man vielleicht was ändern kann, wo man sich selber ein bisschen mehr Ruhe gönnen kann, wo man für sich gucken kann, was tut mir eigentlich gut. Und das ist natürlich auf den ersten Blick aufwendiger und kostet mehr Zeit, als jetzt einfach nur ne Pille einzuwerfen, aber mittel- und langfristig ist das natürlich lohnender und hat natürlich weniger Nebenwirkungen beziehungsweise dann sogar erwünschte, weil es einem insgesamt dadurch besser geht.
Kassel: Werner Bartens, Wissenschaftsjournalist, leitender Redakteur im Wissenschaftsressort der "Süddeutschen Zeitung" und studierter Mediziner über das, was man machen kann als Alternative zu all den drei anderen Dingen: den Besuch in der Notaufnahme, beim Arzt und in der Apotheke. Herr Bartens, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Bartens: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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