Wissenschaftler: Politiker sollten nicht zu empathisch sein

Gary Schaal im Gespräch mit Gabi Wuttke · 30.10.2013
Zu viel Einfühlungsvermögen kann bei Politikern als Schwäche ausgelegt werden, erklärt der Politologe Gary Schaal. Immerhin sei Politik auch ein Machtspiel, bei dem man leicht über den Tisch gezogen werden könne. So habe sich Angela Merkel in Zusammenhang mit der NSA-Affäre eher empört gezeigt als empathisch.
Gabi Wuttke: Horch und guck bei mir? Geht gar nicht! Angela Merkel war, so heißt es, empört, als sie erfuhr, dass ihr Mobiltelefon überwacht wurde. Was die Kanzlerin im Wahlkampf unterlassen hatte, ist nun geschehen: Sie hat den Fall an die ganz große Glocke gehängt. Wir Bürger, die vor der NSA auch nicht sicher sind, fragen uns deshalb: Ist politischer Tatendrang bei persönlicher Betroffenheit besonders groß? Hätten wir längst einen einheitlichen Mindestlohn, wenn Angela Merkel auch nur einen Monat als Friseurin gearbeitet hätte? Einkreisen wollen wir diese Fragen mit Professor Gary Schaal, Politikwissenschaftler in Hamburg. Einen schönen guten Morgen!

Gary Schaal: Guten Morgen!

Wuttke: Sichtbare Gefühle kennen wir von Angela Merkel nicht. Was hat sie mit ihrer Empörung für Sie signalisiert?

Schaal: Ich glaube, dass sie menschlich wirklich empört war, aber für mich hat das eher etwas mit einem politischen Kalkül zu tun, nämlich mit der Frage, dass sie jetzt reagieren musste. Als wir als Bürger abgehört wurden, darauf konnte sie als Bundeskanzlerin nicht reagieren, wenn sie aber als Bundeskanzlerin abgehört wird, dann muss sie reagieren, ansonsten würde sie sich tatsächlich international lächerlich machen.

Wuttke: Es gibt ja böse Zungen, die sagen, sie wäre persönlich wirklich enttäuscht gewesen, wenn sie für die USA so unwichtig wäre, dass ihr Handy nicht überwacht worden wäre …

Schaal: Sie hat ja auch einmal gesagt, dass sie erwartet, dass sie abgehört wird, durch China oder durch Russland, aber ausgerechnet ins Visier der Amerikaner, das hatte sie vermutlich für unwahrscheinlich gehalten.

Wuttke: Um Ihrer These mal zu folgen: War dieses sichtbare Zeichen der Empörung etwas für die Bürger, für ihre Wähler oder für die Vereinigten Staaten von Amerika?

Schaal: Im Konkreten, glaube ich, sowohl als auch. Die Bürger, die tatsächlich das Ganze bearbeitet haben wollen, aber auf der anderen Seite auch ein Zeichen, dass man mit der Kanzlerin nicht alles machen kann, und vor allem, Hollande, der französische Präsident hat ja viel härter reagiert als Merkel es getan hat. Und hier ein Zeichen zu setzen an die Amerikaner, das war, glaube ich, auch eine ganz wichtige Dimension dieser sehr empörten Reaktion.

Wuttke: Mal grundsätzlich gefragt: Wäre die Welt besser, wenn Politiker keine eigene Kaste bilden, sondern vom Souverän dazu verdonnert würden, regelmäßig da Erfahrungen mit dem Leben zu machen, wo es weh tut?

Schaal: Das klingt jetzt ein bisschen sozialistisch …

Wuttke: Meinerseits oder Ihrerseits?

Schaal: Nein, nein! Meine Antwort. Meine Antwort, also in dem Sinne, Politiker in die Produktion oder so ähnlich – eins kann die Wissenschaft auf jeden Fall sagen: dass Menschen nicht besonders empathiefähig sind, wenn es darum geht, Gefühle von anderen nachzuvollziehen in Situationen, die sie selber noch nicht durchgemacht haben. Und dass man sich relativ schnell davon entfernt, was andere für Normalität halten.

Also mit anderen Worten, ich glaube, dass eine Politik, die stärker an der lebensweltlichen Erfahrung angekoppelt ist, vermutlich auch ein bisschen anders aussehen würde, dass aber Politiker notwendigerweise auch immer, weil es um tatsächliche, faktische Interessen geht, um Durchsetzungsvermögen, nicht zu empathiereich sein sollten, weil sie ansonsten vermutlich zeigen würden, dass sie schwach sind.

Wuttke: Aber wenn Angela Merkel einen Monat mit Hartz IV leben müsste, könnte sie trotzdem ihre Politik so fortsetzen, wie sie es tut? Jetzt mal rein formal, aber inhaltlich mit anderen Schwerpunkten?

Schaal: Sie würde vermutlich in dem Diskurs darüber, ob Hartz-IV-Empfänger selber schuld sind an ihrer Lage und "Sozialschmarotzer", in Anführungszeichen, oder tatsächlich Opfer des Systems des Neoliberalismus. Sie würde vermutlich da auf eine andere Position zusteuern, nämlich eher sagen, vielleicht sind die Leute gar nicht so sehr schuld an ihrer eigenen Situation. Das glaube ich schon, dass dort persönliche Erfahrung eine Veränderung in der Politik bringen würde. Aber dass man auch scheitern kann damit, wenn man zu empathisch ist, das haben wir in den letzten ungefähr vier Wochen gesehen.

Wuttke: Bevor wir darauf noch mal zu sprechen kommen – wie viel Emotionen und wie viel Empathie braucht die Politik? Sagen Sie es mir.

Schaal: Es gibt viele Interessen, die zum Beispiel im Deutschen Bundestag nicht vertreten sind. Es gibt diesen wunderbaren Satz von Lambsdorff: "Mal sind die Parlamente voller, mal sind sie leerer, aber immer sind sie voller Lehrer." Inzwischen stimmt das nicht mehr, es sind vor allem Juristen und Physiker in den fünf neuen Ländern, aber wir wissen sehr viel über die Art und Weise, wie wir leben als Bürger, Mittelklasse, aber wir wissen relativ wenig über die Probleme derjenigen, die in ganz anderen Situationen sind, und in der Politikwissenschaft wird viel darüber gesprochen, ob wir so was brauchen wie Gruppenrepräsentation.

Also dass zum Beispiel jemand aus einer Minorität, sei es irgendwie lesbische, schwule Gruppen oder Auswanderer oder was auch immer, Migranten – eigene Personen brauchen, um ihre Interessen zu vertreten, weil das aus so einer ganz speziellen Lebenssituation resultiert, die wir nicht kennen. Und vieles spricht dafür, dass man Parlamente dafür öffnen müsste, einfach ein mehr an Pluralität zuzulassen, also ein Mehr an dann auch Empathiefähigkeit für die Person, die man dann repräsentiert.

Wuttke: Das heißt aber, das wären dann Menschen, die ihr ganzes Leben lang in einer bestimmten Situation sind. So ein Politikerpraktikum, wie ich es vorgeschlagen habe, würde da nicht reichen?

Schaal: Ich glaube, ein Politikerpraktikum würde nicht reichen. Es würde vermutlich auch nicht reichen, dass sozusagen die Rotation größer ist. Also in dem Augenblick, in dem man als Elite tätig ist, verliert man natürlich den Kontakt zur Basis –

Wuttke: Aber muss das so natürlich sein?

Schaal: Ich glaube, ja, weil man einfach professionell auf anderen Ebenen spielt. Aber wir wollen ja auch als Bürger professionelle Politiker. Also ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich hätte ungern einen, ich sag jetzt mal Politiker-Azubi. Wir erwarten, dass Politik effizient, schnell, sachlich kompetent ist und so weiter und so fort. Aber was man sich vorstellen könnte, wäre, dass man so etwas Ähnliches hätte wie geloste Beiräte. Man hat weiterhin das Parlament, das besteht auch aus Lehrern und aus Juristen und so weiter, und dann hätte man vielleicht noch ein paar, so hundert Bürger, die zu bestimmten Minoritäten gehören und die quasi eine beratende Stimme haben, die noch mal andere Gesichtspunkte in die Liberation einspeisen, also in die parlamentarischen Verhandlungen, und die dann alle vier Jahre rotieren, sodass es da keine Professionalisierung gibt, sondern immer eine neue Durchmischung.

Wuttke: Wenn wir beim Status quo bleiben: Wo muss denn Schluss sein mit Gefühlen bei Politikern?

Schaal: Darauf wollte ich ja vorhin schon zu sprechen kommen –

Wuttke: Ich weiß!

Schaal: Frau Gaschke gehört ja dazu.

Wuttke: Die ehemalige Kieler Oberbürgermeisterin.

Schaal: Die Oberbürgermeisterin, die zurückgetreten ist, und bei der man sehr viel mitbekommen hat von dem Schmerz und dem Leid, das sie, das glaube ich ihr auch, erlebt hat durch den Hohn und Spott, und bei dem man sieht, dass der Anspruch, quasi eine reine Politik, rein im Sinne von eine moralisch höherwertige, auf Diskussion orientierte, gemeinwohlverpflichtete, dass eine solche Politik offensichtlich doch ein bisschen naiv ist und dass man mit zu viel Empathie tatsächlich auch in der Politik scheitern kann, denn es ist immer auch halt ein Machtspiel. Und diese Machtkomponente braucht man als Politiker, ansonsten wird man offensichtlich über den Tisch gezogen.

Wuttke: Wahrhaftigkeit ist also für Politiker das größte anzunehmende Gift?

Schaal: Machen wir es andersrum. Ich glaube, dass Politiker in der Öffentlichkeit und in Diskussionen hinter verschlossenen Türen unterschiedliche Fähigkeiten benötigen. Ein Politiker, der zum Beispiel in Hintertürgesprächen ist, der sollte schon Empathie zeigen und Verständnis für die Position des anderen, ansonsten kann man keine Kompromisse finden. Auf der anderen Seite sollte er natürlich auch wahrhaftig sein in der Öffentlichkeit. Das ist vollkommen klar. Aber Politiker zu sein, ist heute ein so komplexer Beruf, dass er ganz unterschiedlicher Fähigkeiten bedarf. Und strategisch hart zu sein, aber auch Einfühlungsvermögen zu zeigen, gehört alles mit dazu.

Wuttke: Sagt der Politikwissenschaftler Gary Schaal von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg im Interview der Ortszeit von Deutschlandradio Kultur. Besten Dank und schönen Tag!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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