Wirtshaussingen erwünscht

Von Suanne Lettenbauer |
Den Mund aufmachen und die Stimme erheben: das Wirtshaussingen erlebt eine Renaissance im Freistaat Bayern, in München, in Rosenheim, in Straubing. Lange Zeit war der Gesang auf dem Rückzug, weil die Kneipen starben.
Einsam klingt die Glocke der kleinen Dorfkirche von Ottenhof bei Plech durch den stillen Ort. Es schlägt acht Uhr abends. Kein Mensch ist auf der Dorfstraße zu sehen. Auf der Fahrt hierher durch die landschaftlich idyllische Fränkische Schweiz säumten sparsam dekorierte Schaufensterläden den Weg, einsame Bauernhöfe ohne Licht, hin und wieder Gegenverkehr.

Auf dem leeren Dorfplatz von Ottenhof steht ein blau-weißer Maibaum, drum herum historische Fachwerkhäuser. Ein typisches fränkisches Dorf. In einer kleinen Kurve unweit der Kirche kommt ein staatliches Haus in Sicht: zweistöckig, gepflegt, ein traditionelles gusseisernes Schild am Giebel, daneben die grüne Aufschrift: Wirtshaus "Zum grünen Kranz".

Hier drängen sich plötzlich die Autos, vor, neben und hinter dem Gebäude. Einige mit den Hinterrädern auf der leeren Dorfstraße. Die Kennzeichen: BT für das nahe Bayreuth, N für Nürnberg, LAU für Nürnberger Land, FO für Forchheim. Aus dem hell erleuchteten Inneren ist Musik zu hören, Gläserklappern.

Der Wirt hinterm Tresen füllt die Masskrüge, die Bedienung flitzt hin und her. Alle Tische sind voll besetzt, auch in den hinteren Räumen. Männer mit Filzhut, Burschen in Tracht, Frauen in Alltagskleidung. Dicht gedrängt sitzen sie auf den Stühlen und Bänken. Der Wirt lässt mehr Stühle vom Speicher holen.

Manche haben schon gerötete Wangen, unterhalten sich angeregt. Andere sind noch zurückhaltend, warten ab, was das werden soll: das sogenannte Wirtshaussingen. In der örtlichen Tageszeitung ist dieser Abend nur knapp angekündigt worden. Man ist neugierig, will dabei sein, wenn etwas los ist im Dorf. Bevor das Wirtshaussingen jedoch richtig beginnt, sorgt die örtliche Blaskapelle im hintersten Stübchen für Stimmung:

Junger Mann: "Freitag Abend, wenn so etwas stattfindet, könnte man auch in die Disco fahren, aber sowas gibt es halt nicht überall, das Wirtshaussingen, da geht es um Tradition, die man aufrecht erhalten sollte. Auch persönlich ist es eine grössere Gaudi als in der Disco, wo man keinen kennt."

Der junge Mann sitzt mit drei Kumpels an einem Ecktisch. Von der schmalen Speisekarte haben sie eine Brotzeit bestellt, dazu Bier. Für sie ist klar: Heute hat das Wirtshaussingen Vorrang. Dieser neue Trend in Bayern, der irgendwie cool ist, anders. Diese alten Lieder, die plötzlich wieder in sein sollen. Volksmusik, die sich seit neuestem mit X hinterm L schreibt. Sogar zum Männergesangsverein haben sich die Vier interessehalber kürzlich angemeldet. 20 Vereinssänger zählt man jetzt im Dorf.

Junge Männer: "Es gibt viele alte Lieder, die selbst nicht einmal mehr die älteren in unserem Gesangsverein kennen. Wenn man anspricht, dass man die mal wieder singen will, also da freuen die sich immer wieder drüber."
"Es kommt drauf an. Es gibt sehr viele schöne Lieder."
"Naja, vor allem der Rhythmus, wenn ein schöner Rhythmus, eine schöne Melodie dahinter ist, dann macht es Freude, da mitzusingen bei dem Gesangsverein und alte Lieder wieder aufleben zu lassen mal zur Abwechslung."

Die Eltern der vier Burschen sitzen am anderen Ende der Wirtsstube bei den Hausnachbarn. Die meisten kennen sich hier in dem 200-Seelen-Dorf. Jeder von außerhalb fällt auf und das sind viele an diesem Abend. Manche kennen das Wirtshaussingen aus dem eigenen Dorf und wollen nicht warten bis zum nächsten Mal. Die Initiatorin des Abends Annelore Funk sitzt begeistert zwischen den Männern des Gesangsvereins. Sie weiß, dass ihre Idee goldrichtig war.

" Ja, also das erste Mal wussten wir nicht: Kommen drei Leute, kommen fünf. Aber das erste Mal war die Bude schon voll, heute ist sie voll, das letzte Mal auch, also da sind viele Leute da. Wir haben gar nicht groß Werbung gemacht, sondern das ist so ein Selbstläufer.""

In der Mitte zwischen den beiden Wirtsstuben baut eine junge Frau während der Blasmusik einen Notenständer auf, packt ihre Gitarre aus, leises Getuschel von den Tischen. Ihr gegenüber erhebt sich förmlich ein älterer Mann, Reinhold Meyer, Vorstand des Gesangsvereins. Der Wirt hört auf, die Gläser zu spülen. Es geht los.

Heimatpfleger wollen Wirtshaussingen fördern
Seit im vergangenen Jahr der Bayerische Landesverein für Heimatpflege seine Bemühungen um das Wirtshaussingen in ganz Bayern verstärkt hat, gibt es an fast jedem Wochenende irgendwo im Freistaat ein Wirtshaus, in dem sich Menschen zum Singen treffen. Einfach so. Ohne Noten, ohne Liederbücher oder Textzettel. Keine Vorbereitung ist nötig, um dabei zu sein. Eine Reservierung sowieso nicht, Kostenpunkt gleich null, sieht man von den Getränken und Speisen ab. In München und Straubing, in Wernsdorf und Würzburg, in Althofen und Treibach. Und immer ist jemand wie die junge Frau mit der Gitarre dabei.

"Mein Name ist Carolin Pruy-Popp. Ich leite die Beratungsstelle in Bayreuth vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege. In der Regel wird immer in den dunklen Monaten gesungen, also von Januar bis April und von September bis Dezember. Es ist ja so, dass der Kontakt von außen kommt, das heißt, die Leute sprechen mich an, ob man das mal machen könnte. Also es ist nicht so, dass ich sage, ich möchte da unbedingt hin, sondern die Leute vor Ort wissen selber am besten, wo gern gesungen wird und wo die Leute vielleicht mal wieder ein wenig Input brauchen oder einfach ein wenig Lust haben zusammenzukommen, altes und auch Neues zu lernen."

"Also starten wir mal. Es ist schon fast Tradition, ich starte immer mit einem Lied, auch wenn es jetzt vielleicht schwer ist, aber das kennt wirklich jeder aus der Schule: Jetzt fahren wir übern See. Probieren wir es mal."

"Jetzt fahr‘n wir über‘n See … "

Das hat wohl nicht geklappt. Die ersten Laiensänger tippen sich an die Stirn, erinnern sich. Da war doch was gewesen. Frauen stoßen ihre Männer an. Tischnachbarn kommen ins Reden. Carolin Pruy-Popp umschifft galant den Fehler, erklärt das Lied noch einmal und beginnt von vorn.

Ehe es richtig klappt, dauert es noch ein Weilchen. Bis alle musikalisch "drüben warn mit der hölzernen Wurzel" muss ein wenig geübt werden, aber der Abend ist ja noch jung. Immer wieder unterbrechen Lacher die geduldige Vorsängerin, langsam tauen die Dörfler auf. Die Skepsis weicht einer Lust am Mitmachen.

Carolin Pruy-Popp: "Für mich ist es so, vorher weiß man ja nicht wie viele kommen, mei, im Spaß sag ich immer, wir singen vor drei Leuten, der Veranstalter, der Wirt und ich, aber meistens sind es doch mehr."

Mittlerweile ist Carolin Pruy-Popp beim nächsten Lied. Ein Scherzlied über Berufsklischees. Jeder im Wirtshaus darf einen anderen Beruf nennen, Kreativität ist gefragt. Ein ältere Mann reimt spontan einen neuen Text. Alle sind begeistert.

"Also, jetzt haben wir gesagt der Polier, das Bier. Und jetzt kommt dann vielleicht der Vollbart, ach das passt nicht, egal das ist ein Architekt, der trinkt nur noch ... was? Sekt!"

Volkslieder oft anzüglich
Es sind feine oder auch weniger feine, manchmal zünftige und manchmal deftige Gesänge, die beim Wirtshaussingen aus dem Gedächtnis gekramt werden. Trotz Vorsängerin kann jeder einen Vorschlag für das nächste Lied machen. Ob sie vom Essen und Trinken handeln, vom Tanzen und Turteln, von Liebesfreud und Eheleid – oder einfach nur von der Lust an der Gaudi und am Derblecken.

Für zart besaitete Gemüter sind sie meist nichts. Wegen ihrer oftmals anrüchigen Texte und Inhalte werden sie von den strengen Volksliedpflegern oftmals überhört und übersehen, doch sind sie ebenso Teil des Brauchtums wie die "echte" Volksmusik, die seit Jahren als solche gesammelt wird. Zwei Bücher fassen gschaamige und ausgschaamte Texte zusammen, also Lieder, "die einem die Schamesröte ins Gesicht treiben können", so ihr Autor Adolf J. Eichenseer. Die Bayreuther Heimatpflegerin zieht an diesem Abend im Ottenhofer Wirtshaus "Zum grünen Kranz" lieber andere Überlieferungen vor.

Pruy-Popp: "Ich habe jedes Mal unterschiedliche Lieder dabei. Natürlich wiederholt es sich manchmal, aber man schaut schon, dass man unterschiedliche Lieder dabei hat. Hier habe ich Lieder dabei, die fränkischsprechend sind, aber auch in die nordbayerische Mundart hineintendieren, das liegt hier an der Mundartgrenze, das heißt, wir haben die nordbayerische Mundart vertreten, die fränkische Mundart vertreten, da muss ich immer für beides gewappnet sein …"

Pruy-Popp: "Also vielleicht ist das noch nicht so richtig rübergekommen, aber der erste Teil ist langsam, der zweite Teil, da darf man ein bischen Gas geben ..."

Herausfordend leitet Carolin Pruy-Popp die Schar der gut 100 Sänger in den zwei Wirtsstuben. Zum Ratschen kommt man bei ihr nicht, bis zur Pause. Wenn doch jemand nicht zuhört, dann erntet er einen gespielt verärgerten Blick der resoluten Frau. Dazwischenreden nur, wenn es kreativ zum Lied passt, ansonsten bitte singen und vor allem Text lernen. Gehirnjogging im Wirtshaus:

Pruy-Popp: "Jeder macht es ein bischen unterschiedlich. Unsere Philosophie ist wirklich dieses Vorsingen, Nachsingen. So wie man es halt früher auch gemacht hat und außerdem denken wir, dass man sich die Lieder so besser merken kann. Den Text kann man immer noch spicken, aber die Melodie, wenn ich die nicht drin habe, dann hab ich eigentlich verloren. Deshalb ist unsere Methode auf der Auswendigbasierenden, d.h. wir singen es vor, die Leute singen es nach …"

Funk: "Also wir haben hier bei uns immer schon mal eine Hutzer stubn gemacht,"

erzählt Initiatorin Annelore Funk in der Pause.

Funk: "Das heißt Hutzerstubn, ist was Fränkisches, denke ich, früher hat man sich da getroffen, da haben die jungen Leute das Tanzen gelernt, da ist gesungen worden, da sind Geschichten erzählt worden, da sind Spiele gemacht worden. Vor vier, fünf Jahren haben wir das mal wieder ins Leben gerufen hier in der Wirtschaft, früher war das oft privat und da gab es welche, die kannten alle Strophen, von vorn bis hinten. Die Jungen, da ist der Anschluss so ein bischen verpasst. Ich freue mich, dass wir jetzt wieder ein paar junge Leute haben und es wäre schön, wenn man die auch wieder zurückführen könnte an die Musik."

Der Gastwirt nickt kurz dazu. Seine Familie führt das Ottenhofer Wirtshaus seit 130 Jahren. In der vergangenen Zeit wurde es immer schwieriger, Die Gäste blieben aus, der verschärfte Nichtraucherschutz nach dem Volksbegehren von 2010 setzte die Wirtsleute unter Druck. Nur der Stammtisch traf sich noch. Mit dem Wirtshaussingen ist wieder Leben ins Haus eingezogen:

Wirt: "Na ja, ist schon alle vier Wochen so voll, es geht schon. Sagen wir mal so, in der jetzigen Zeit ist es schon so eine Durststrecke und das hilft dann schon. Aber ansonsten haben wir schon einige Stammgäste vom Dorf her. Das geht dann schon."

Kneipensterben in Bayern
Laut der aktuellen Studie vom Verband zum Erhalt der Bayerischen Wirtshauskultur (VEBWK) fehlt in jeder dritten bayerischen Gemeinde eine Kneipe. Tendenz steigend. In jeder siebten Kommune gibt es überhaupt kein Gasthaus mehr. Besonders bitter für die Bayern: Die Wirtshaus-Dichte ist in Baden-Württemberg und Hessen höher als im Freistaat. Dabei gehört das Stammtischgranteln zu Bayern wie die Zugspitze.

An den Stammtischen schafkopften und politisierten sie alle, vom Königstreuen bis zum versprengten Sozi, weiß Elmar Walter, Leiter der Abteilung Volksmusik des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege. Erst der Missbrauch der Volksmusik und Wirtshauskultur in der Nazizeit rückte die alten Traditionen in ein schlechtes Licht. Eine folgenschwere Entscheidung im Nachkriegsdeutschland bedeute das gesellschaftliche Aus für die Volksliedtradition.

Walter: "Man hat schon einen großen Fundus an Volksliedern gehabt und auch
begonnen, sie unter die Leute zu bringen, aber nicht dadurch, dass man die Leute angeleitet hat, die Lieder selber zu singen, sondern indem man Gruppen gebildet hat. Besondere Volksmusikgruppen, die dieses Liedgut dann besonders schön, besonders toll dargeboten haben. Also man ist hingekommen zu einer Darbietungsmusik."

Ob heute die wachsende Zahl an Fernsehgeräten auf dem Land schuld ist am
Wirtshaussterben, daran scheiden sich die Geister. Schützen, Trachtler oder Fußballer treffen sich nicht mehr im Dorflokal, sondern in eigenen Vereinsgaststätten, meint der Verband zum Erhalt der Bayerischen Wirtshauskultur.

Auch Hochzeiten oder die Kommunion würden vermehrt in Kirch- oder Gemeindesälen gefeiert, so die Studie. Ausserdem werde mit Hilfe von Schallplatten, CDs und Videos das eigene Singen eher verdrängt, so Volkskundler Elmar Walter.

Walter: "Wir als Landesverein für Heimatpflege, wir verstehen Volksmusik mehr als Aufführungspraxis, also weniger als ein Genre, das sich auf bestimmte Dinge festgelegt hat, sondern als Aufführungspraxis. Uns geht’s darum, die Leute zum selbertun zu animieren, nicht zum Zuhören, wie das so bei einem Hansi Hinterseer so vorkommt, nämlich egal ob es die CD ist, die man konsumiert, ob das die Fernsehaufzeichnung ist, die man sich anschaut, aber ich kenne ganz wenige Leute, die vor dem Fernseher sitzen und mitsingen."

Sängerin: "Also das waren jetzt alte Kerbaliedla. Das ist ganz bunt gemischt. Hier ist die Semmelfrau sehr bekannt, auch wenn sie hier Lablafrau genannt wird. Also eine Variante: Labla, Semmel, Brötchen, das ist alles das gleiche. Hier wird es in Teilen gesungen, anscheinend aktiv gesungen, das hab ich nicht gewusst, aber das hat grad gepasst. Manchmal erwischt man so eine Welle, dass man die Leute da abholt, wo sie gerade sind."

"Ich singe es nochmal vor. Wir haben Varianten im Raum. Ich singe es noch vor, hallo, ich singe es erstmal nochmal vor ... tralalala ..."

Im grünen Kranz am Fuße der fränkischen Schweiz erreicht der musische Abend langsam seinen Höhepunkt. Die Konzentration der Menschen sinkt. Gegen zehn Uhr, so die Erfahrung der heiser gewordenen Carolin Pruy-Popp, ist bei den meisten Sängern die Luft raus, dann werden sie albern wie Schulkinder.

Die Töne hängen schief. Zeit für das Geldkörbchen, eine kleine Spende für die bayerischen Heimatpfleger. Außerdem legt die junge Frau Notenblätter von allen Liedern des Abends aus. Zum Mitnehmen. Denn gesungen werden soll nicht nur im Wirtshaus, auch zu Hause oder im Auto. Wirklich gehen will an diesem Abend aber keiner. Nach dem offiziellen Ende sitzen sie noch lange in der Wirtsstube, lachen, reden. Irgendwann holt jemand sein Akkordeon, stimmt noch ein Lied an. Mit dessen Melodie auf den Lippen finden die Letzten gegen Mitternacht den Weg nach Hause
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