Wirtschaftswachstum

Entzauberung des Agenda-Mythos

Auf einer magnetischen Spielzeugtafel steht Hartz 4 geschrieben
Wie wichtig waren die Hartz-Reformen für Deutschland? © picture alliance / ZB
05.02.2014
Taugt die deutsche Agenda 2010 als europäischer Exportschlager? Christian Dustmann, Professor für Volkswirtschaftslehre, sieht zwar die positiven Aspekte der Hartz-Reformen. Ausschlaggebend für Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sei jedoch ein anderer Schritt gewesen.
Korbinian Frenzel: Das deutsche Erfolgsmodell, es soll also nicht eins zu eins kopiert werden in Frankreich. Das klingt erst mal zaghaft, ist aber vielleicht gar nicht so verkehrt, denn: Die Hartz-Reformen sind es gar nicht gewesen, die Deutschland wirtschaftlich fit gemacht haben. Das sagen vier Ökonomen in einer aktuellen Studie. Einer der Autoren ist jetzt am Telefon, der Professor für Volkswirtschaft am University College London, Christian Dustmann. Guten Morgen!
Christian Dustmann: Guten Morgen!
Frenzel: Deutschland war der kranke Mann Europas vor gut zehn Jahren. Dann kam die Agenda 2010, die Hartz-Reform, und es ging wieder aufwärts. So geht die Erzählung normalerweise. Und Sie sagen jetzt, das war alles nur ein Mythos?
Dustmann: Na ja. Das ist die Geschichte, die wir hören, und die natürlich auch gerne von den Politikern erzählt wird. Allerdings, wenn man sich die Daten anschaut, dann sieht man, was ausschlaggebend war für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, die wir vor allen Dingen ja sehr stark ausgeprägt gesehen haben in den letzten zehn Jahren, ist gewesen eine Dezentralisierung der Lohnsetzung, was zu einer erheblichen Lohnzurückhaltung geführt hat. Weniger die Hartz-Reform, sondern dieser Prozess der Dezentralisierung, der einherging mit einer sehr starken Lohnzurückhaltung hat die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ganz erheblich gestärkt.
Moderate Lohnentwicklung seit den 90er-Jahren
Frenzel: Das heißt, wir hätten uns diese Hartz-Reformen sparen können?
Dustmann: Nein, das ist sicherlich nicht richtig. Die Hartz-Reformen setzen an bei der Arbeitslosigkeit. Sie haben sicherlich dazu beigetragen, die Langzeitarbeitslosigkeit zu reduzieren. Sie haben bestimmte Anreize geschaffen, zurückzukehren in den Arbeitsmarkt und haben auch gewisse Flexibilisierungen geschaffen, die sicherlich wichtig waren. Allerdings denken wir nicht, dass die Hartz-Reform alleine ohne diese Dezentralisierung der Lohnsetzung, die wir in Deutschland gesehen haben, in der Lage gewesen wären, das zu schaffen, was wir gesehen haben in den letzten zehn Jahren, und das ist eine erhebliche Stärkung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit vor allen Dingen gegenüber den europäischen Ländern, aber auch gegenüber den USA.
Frenzel: Aber all das, was Sie sagen, galt natürlich ja auch schon vorher. Die moderate Lohnentwicklung, die haben wir schon seit den 90er-Jahren, die kooperativen Gewerkschaften, das ist eine deutsche Tradition der Nachkriegszeit. Wenn Sie mit Ihrer These recht haben, dann hätten wir ja eigentlich diese Krise zur Jahrtausendwende gar nicht haben müssen?
Dustmann: Richtig. Der Prozess, den wir beschreiben in unserer Arbeit, hat tatsächlich in den Mitt-90er-Jahren eingesetzt. Jetzt können Sie die Frage stellen, warum eigentlich erst in den 90er-Jahren, warum haben wir das nicht vorher gesehen. Nun, die Tarifautonomie in Deutschland ist ziemlich einmalig. Es gibt kaum eine Intervention des Gesetzgebers, wenn es darum geht, Verträge auszuhandeln zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Diese Tarifautonomie ist allerdings auch sehr flexibel, und diese Flexibilität haben wir gesehen seit Mitte der 90er-Jahre.
Warum erst Anfang, Mitte der 90er-Jahre? Wir erklären das folgendermaßen: Anfang der 90er-Jahre stand Deutschland unter einem erheblichen Druck durch die Wiedervereinigung und durch die einsetzende Globalisierung. Auf der anderen Seite war es den Arbeitgebern möglich, Produktion auszulagern in die sich entwickelnden osteuropäischen Länder, was das Machtgleichgewicht zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern sehr stark verändert hat. Die Arbeitgeber waren in der Lage, Veränderungen in dem Lohnsetzungsprozess durchzusetzen, weg von der Regionalindustrieebene auf die Ebene der Firma, wo die Belange der Firma sehr viel besser in solche Lohnverhandlungen einfließen können. Und das haben wir massiv und verstärkt seit Mitte der 90er-Jahre gesehen.
"Höhe und Flexibilisierungspotenzial beim Mindestlohn wesentlich"
Frenzel: Wenn ich Sie denn richtig verstehe, ist die Idee eines gesetzlichen Mindestlohns, der jetzt in Deutschland auf den Weg kommt, eine ziemlich dumme, oder?
Dustmann: Da möchte ich mich – das möchte ich nicht so bestätigen. Die wesentliche Frage beim Mindestlohn ist natürlich die Höhe des Mindestlohns, und welches Flexibilisierungspotenzial man in die Mindestlohndebatte einbaut. In Frankreich, Sie haben das anfangs erwähnt, ist der Mindestlohn sicherlich sehr hoch, er unterscheidet auch nicht zwischen jüngeren Arbeitnehmern und älteren Arbeitnehmern und führt zu einer erheblichen Reduzierung des Flexibilisierungspotenzials, das wir bisher in Deutschland gehabt haben und das, wie wir denken, sehr stark dazu beigetragen hat, in der Nachkriegszeit bis hin in die 2000er-Jahre, Deutschlands Fortschritt und Deutschlands Erfolg zu untermauern.
Frenzel: Das deutsche Wirtschaftswunder verdanken wir nicht allein den Hartz-Reformen, das sagen Ökonomen in einer aktuellen Studie. Der Wirtschaftsprofessor Christian Dustmann ist einer von ihnen. Ich danke Ihnen für das Interview!
Dustmann: Bitte schön!
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