Wirtschaftskrise

"Unsere Armut ist eine Tatsache"

Lissabon Portugal
Krise und kein Ende: Portugiesen demonstrieren in Lissabon gegen die Wirtschaftspolitik ihrer Regierung. © picture alliance / dpa / ©attilio Fiumarella/Wostok Pres
Von Tilo Wagner · 26.02.2014
Viele Portugiesen, die in die Armut gerutscht sind, ziehen sich zurück. Dem stellt sich ein Lissaboner Sozialverein entgegen − mit einer Suppenküche, die an ein Restaurant erinnert und die Hemmschwelle für die Gäste senkt.
[Wartenummern werden aufgerufen]
Es ist kurz nach zwölf. Im Flur einer Drei-Zimmer-Wohnung im Zentrum Lissabons drängeln sich zwei Dutzend Menschen. Sie halten Wartenummern in den Händen. Eine ältere Frau mit einer bunten Schürze um den Bauch ruft die Nummern auf, und nach und nach treten die Menschen in ein großes Zimmer. Es ist eine bunt gemischte Gruppe. Weiße und Schwarze, mit Stock oder Baseballkappe, in alten Klamotten oder Anzug und Krawatte. Auf den ersten Blick sieht alles aus wie in einer überfüllten Arztpraxis. Doch diese Lissabonner kommen mittags hierher, um zumindest eine kostenlose warme Mahlzeit am Tag zu sich zu nehmen.
Luis Almeida: "Ich gehörte mal zur Mittelschicht, aber jetzt bin ich arm. Sehr arm. Früher hatte ich rund 1000 Euro monatlich, jetzt sind es nur noch 580. Davon muss ich mein WG-Zimmer bezahlen, Lebensmittel, und Wasser, Strom, Fernsehen und Internet."
[Tische werden gedeckt]
Luis Almeida sitzt an einem liebevoll gedeckten alten Holztisch in einem großen Esszimmer und wartet auf sein Mittagessen: Heute gibt es Reis mit geschmortem Hähnchen. Seit fast einem Jahr isst der schmächtige Mann mit der Nickelbrille in der Suppenküche "a Casinha". Der soziale Abstieg des pensionierten Tourismuskaufmanns ist kein Einzelfall in Portugal. Die drastischen Einkommens- und Rentenkürzungen und eine hohe Arbeitslosigkeit haben die Mittelschicht hart getroffen. Das zeigt sich vor allem in den sozialen Institutionen. Im vergangenen Jahr wurden täglich rund 50.000 Mahlzeiten gratis ausgegeben. Rund 25 Prozent mehr als noch 2011. Experten führen den Ansturm auf die Suppenküchen vor allem darauf zurück, dass immer mehr Menschen aus der Mitte der Gesellschaft mit ihrem reduzierten Einkommen sich nicht mehr alleine versorgen können.
Fátmia Correia hat mitten in der Krise einen Sozialverein gegründet und ihre eigene Kantine aufgemacht. Direkt neben dem großen Esszimmer sitzt die 57-Jährige mit den glatten, grauen Haaren und den hellwach funkelnden Augen in einem winzigen Büro. Correira hat das Projekt aus Spendengeldern und mit dem eigenen Sparvermögen finanziert. Sie glaubt, dass man den sozialen Absteigern aus der Mittelschicht nur helfen kann, wenn man die bürokratischen Hürden so tief wie möglich hält:
"Wir arbeiten hier auf Vertrauensbasis. Sonst werden die Leute ja öffentlich geradezu gedemütigt, wenn sie Hilfe beantragen wollen. Sie müssen ihre Steuererklärung vorlegen und Kontoauszüge präsentieren und noch vieles mehr. Und wenn man sich so entblößen muss, kommt irgendwann das Schamgefühl. Jeder von uns hat doch etwas, was er lieber für sich behalten möchte. Die Leute ziehen sich dann zurück. Oder sie lügen. Und dann kehren sie uns den Rücken zu."
Gästeliste und Gemütlichkeit
Fátima Correia verlangt nur einen Namen für die Gästeliste, damit sie die Essensmengen besser kalkulieren kann. Durchschnittlich sind es täglich rund 100 Mahlzeiten. Sie hat ihre Suppenküche liebevoll eingerichtet. Parkettboden, runde Esstische, bequeme Holzstühle, Stofftischdecken, Porzellan, frische Blumen und Heiligenfiguren auf antiken Anrichten. Die Gemütlichkeit ist Teil des Konzepts, damit sich alle Hilfsbedürftigen aus allen Gesellschaftsschichten hier wohl fühlen:
"Das Problem sind diejenigen, die ihr Leben lang keine Hilfe brauchten und denen es jetzt schlecht geht. Manche kommen zu uns, und wir wollen uns um sie kümmern. Diesen Leuten gefällt es bei uns, weil alles sehr familiär ist. Hier gibt es keine Massenabfertigung wie in anderen Kantinen mit ewig langen Tischen und Aluminiumtellern, die einen sofort stigmatisieren. Hier bei uns ist es wie zu Hause. Hier ist es sauber und gepflegt, mit einer netten Inneneinrichtung und mit Mitarbeitern, die sich um alles kümmern."
Zwei freiwillige Helfer bringen Luis Almeida und den anderen Gästen das Essen direkt an den Tisch. Neben dem 70-Jährigen sitzen ein ehemaliger Kellner, eine Obdachlose, ein Immigrant aus Angola und ein arbeitsloser Bauingenieur, der vorgibt, hier nur aus persönlichem Interesse essen zu gehen. Nicht jeder scheint den sozialen Abstieg so klar und offen ausdrücken zu können, wie das Luis Almeida bereits tut:
"Viele Menschen, die eine radikale Veränderung ihrer Lebensverhältnisse erfahren, schämen sich, dass sie jetzt arm sind. Aber irgendwann müssen wir uns damit abfinden. Schamgefühle sind nutzlos. Denn es ändert ja nichts. Unsere Armut ist eine Tatsache. Wir müssen uns an sie gewöhnen und damit leben lernen."
Die Erinnerung an eine bessere Vergangenheit bleibt jedoch auch bei Luis Almeida hellwach. Seine Augen funkeln, wenn er von der alten Wohnung erzählt, in der er mit seiner damaligen Ehefrau und seinen beiden Söhne lebte: Hell, großzügig geschnitten, mit Zimmerdecken, die so hoch waren, dass er sieben Leiterstufen hochsteigen musste, um eine Glühbirne auszutauschen.
Die Familie schämt sich
Almeida lädt sich noch eine zweite Portion Hühnchen mit Reis auf den Teller. Dass er jetzt regelmäßig in eine Suppenküche geht, hat seine Familie noch nicht richtig akzeptiert:
"Sie schämen sich, allen voran mein ältester Sohn Pedro. Er ist eigentlich so arm wie ich, und ich greife ihm sogar manchmal finanziell unter die Arme, wenn es irgendwie geht. Aber er schämt sich. Obwohl er ja gar nicht hierhin geht, sondern ich."
Nach dem Hauptgericht kriegt jeder Gast noch einen Pudding in einer schönen Glasschale. Am Tisch wird es philosophisch. Almeida und seine Kollegen unterhalten sich angeregt über das Gute und das Schlechte im Menschen.
Der Kaffee wird in einem kleinen Nebenraum serviert. Eine Rentnerin steht an der Espressomaschine und verteilt die vollen Tassen. Alexandre, der arbeitslose Kellner, zeigt Luis Almeida seine neue Mundharmonika, mit der er sich als Straßenmusiker ein kleines Zubrot verdient. Für seine neuen Freunde spielt er ein altbekanntes Stück voller Hoffnung:
["Ode an die Freude"]
Almeida und seine Tischkollegen stimmen in das Lied mit ein. Dann trinken sie ihren Kaffee aus und ihre Wege trennen sich wieder. Die einen gehen zurück auf die Straße. Die anderen in ihr ehemals bürgerliches Zuhause.
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