Wirtschaftshilfe

Neue Gefahr für "extrem verarmte" Ukraine

Nelia Vakhovska im Gespräch mit Frank Meyer · 07.03.2014
Die Menschen in Kiew könnten auf den Maidan zurückkehren, "aber jetzt aus einem anderen Grund", sagt Nelia Vakhovska. Die ukrainische Publizistin befürchtet Sozialproteste in ihrem vom Staatsbankrott bedrohten Land.
Matthias Hanselmann: Die Ereignisse auf der Krim, die uns in diesen Tagen so sehr beschäftigen, haben ihren Ausgang genommen bei den Protesten auf dem Euromaidan in Kiew. Wo diese Protestbewegung heute ist, ob sie sich in der ukrainischen Übergangsregierung wiederfindet, das besprechen wir mit Nelia Vakhovska. Sie lebt als Übersetzerin und Publizistin in Kiew, mein Kollege Frank Meyer hat sich mit ihr unterhalten. Und seine erste Frage: Inwieweit fühlen sich die Protestierenden eigentlich von der neuen Regierung vertreten, ist das die Regierung, die den Maidan-Protest repräsentiert?
Nelia Vakhovska: Ich würde sagen, der Protest, die Protestbewegung ist nach wie vor unterrepräsentiert, insbesondere auf der Regierungsebene. Man kann sehr gut nachvollziehen, wie die Politiker, die offensichtlich noch von den 90er-Jahren, von diesen Handlungsschemata geprägt sind, wie sie nach üblichen Mustern gehandelt haben. Die Protestbewegung hat die sogenannten unwichtigen Ministerien bekommen wie Bildung, ich glaube, Gesundheit, Jugend und Sport, Kultur und so weiter. Und all die sogenannten wichtigen kontrollieren nach wie vor die Politiker, die auch ihre Kontakte zu den Oligarchen relativ gut zeigen, was man auch sehr gut nachweisen kann.
Und selbst bei den Maidan-Ministerien durften die Leute auf dem Maidan nicht richtig mitstimmen. Man hat die Ministerien einfach den Leuten gegeben, die bekannt geworden sind wie zum Beispiel Dmytro Bulatov, der entführte Leiter von AutoMaidan, der gefoltert wurde und dann nach Deutschland zur Behandlung gekommen ist und so weiter. Also, der leitet jetzt das Jugend- und Sportministerium zum Beispiel. Aber seine Person, seine Figur wurde mit dem Maidan auch nicht abgesprochen.
Frank Meyer: Fühlt sich da die Maidan-Bewegung jetzt auf eine gewisse Weise verraten von der politischen Elite?
Vakhovska: Ich glaube schon. Und die Maidan-Bewegung hatte nie ein Vertrauen zu den Politikern gehabt, also, das war wirklich das, was diesen Protest von allen anderen sehr stark unterschieden hat. Und zwar, dass die Leute in dieser Bewegung der Opposition, die sie vertreten sollte, dass sie ihr auch genauso wenig vertraut haben wie den anderen Politikern. Das ist die grundsätzliche Krise des politischen Vertrauens der Massen.
Meyer: Und was wäre die Vorstellung gewesen, welche Leute statt Politikern – was ja eigentlich nur heißt: gewählte Volksvertreter –, welche anderen Personen hätten dann politische Verantwortung übernehmen sollen nach den Vorstellungen der Leute vom Maidan?
Vakhovska: Es geht darum, dass man die Prozedur des Wählens an sich auch viel transparenter und gerechter machen muss. Momentan ist es in der Ukraine so, dass jeder, der viel Geld hat, der kann sich einen Platz im Parlament kaufen.
Meyer: Das hängt mit der allgemeinen Bestechlichkeit in dem Land zusammen?
"Zivilgesellschaftliche Initiativen können einiges bewegen"
Vakhovska: Ja, so offiziell nennt man das natürlich Korruption. Aber ich glaube, viel tiefer liegt da einfach das Problem der oligarchischen Ökonomik, also der oligarchischen Wirtschaft und der Politik, die dann darüber sozusagen übergebaut wird. Über die normalen Bürger, die aktiven Bürger, die haben so gut wie keine Chancen, wirklich in dieses System hineinzukommen. Die paar Sessel, die da an die Vertreter der Bürgergesellschaft jetzt von der Übergangsregierung großzügig verteilt wurden, das war auch eine Art Bestechung der Bewegung.
Meyer: Und Sie haben ja gesagt, es gibt diese Versuche von den Maidan-Aktivisten, die noch vor Ort sind, so etwas wie eine Kontrolle über die Übergangsregierung auszuüben. Funktioniert das?
Vakhovska: Nein, leider nicht. Aber das Gute ist, dass die Leute das nicht aufgeben. So zum Beispiel haben die Studierenden vor einer Woche das Bildungsministerium okkupiert, sie haben die studentische Assemblee organisiert, die genau sich zum Ziel gemacht hat, auch die Person des künftigen Ministers zu besprechen und mitzubestimmen, ob sie das akzeptieren oder nicht. Man hat nicht wirklich zugehört, also, sie haben gegen den gültigen Minister protestiert, aber der hat trotzdem seinen Posten bekommen. Aber das Ministerium hat jetzt verkündet, dass es alle Finanzen von dem ausländischen Auditor prüfen lässt und das alles öffentlich macht zum Beispiel. Das heißt also, solche zivilgesellschaftlichen Initiativen, selbst wenn sie nicht so gleich zu dem gewünschten Ziel kommen, wenn sie das nicht gleich erreichen, können sie einiges bewegen.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit Nelia Vakhovska, sie lebt als Übersetzerin und Publizistin in Kiew. Frau Vakhovska, ein ganz wichtiges Thema bei den Maidan-Protesten war ja die Frage: Schließt sich die Ukraine enger an Europa an oder eben an Russland? Der russische Einmarsch auf der Krim jetzt, führt der zu antirussischen Stimmungen dort, wo Sie die Stimmung beobachten können, oder verstärkt der antirussische Stimmung?
Vakhovska: Das auf jeden Fall, natürlich. Ich glaube, das mit Russland oder mit diesen prorussischen und proeuropäischen Stimmungen in der Ukraine ist sehr merkwürdig. Man kann jetzt beobachten, wie zuerst der Euromaidan wirklich, als es noch um die EU-Abkommen ging, dass man sich bewegt in einem sehr stark imaginierten Raum. Man hat keine Ahnung gehabt eigentlich, was bedeutet das Abkommen, was wird es uns bringen? Es ging darum, dass man einfach frei in die EU reisen kann zum Beispiel, visumfrei. Ich habe das Gefühl, dass die Leute im Süden oder auch im Osten, die jetzt zu Russland wollen, genauso ein Phantom vor den Augen haben von einem sehr guten Paradiesland, wo man einfach sich wie zu Hause fühlen würde. Und das ist so dieses Schaukelspiel, durch den Protest wird das wirklich durchdrängt. Entweder Europa als Phantom oder Russland als Phantom.
Meyer: Es ist ja jetzt interessant auch, wie sich Intellektuelle verhalten in diesem Konflikt, in diesem aufbrechenden Konflikt zwischen ukrainischsprachigen und russischsprachigen Ukrainern. Hier bei uns berichtete die Tageszeitung "Die Welt" von einer Initiative von 20 Schriftstellern aus Charkow, die auf Russisch schreiben meistens und die in einem offenen Brief an den russischen Präsidenten Putin geschrieben haben: Wir russische Autoren Charkows kommunizieren frei auf Russisch mit unseren Kollegen, auch mit ukrainischen – also, die darauf Wert legen, dass es eine Verständigung gibt zwischen russischsprachigen und ukrainischsprachigen Schriftstellern. Gibt es noch mehr solche Initiativen, die versuchen, diesen Graben jetzt zumindest nicht weiter aufreißen zu lassen?
"Die Ukraine steht vor einer riesigen wirtschaftlichen Katastrophe"
Vakhovska: Ja, es gibt sehr viele Initiativen solcher Art. Was man nicht so richtig nachvollziehen kann, ist die Haltung der Übergangsregierung, weil, das ganze Schaukelspiel mit der russischen und ukrainischen Sprache wurde wiederum ins Spiel gesetzt sozusagen, nachdem die Übergangsregierung plötzlich dieses Sprachengesetz wieder gestrichen hat, also von dem regionalen Status der russischen Sprache. Da merkt man wiederum die Kluft zwischen der jetzigen Politik, zwischen den Politikern und der Zivilgesellschaft. Weil, die Reaktion auf diese Streichung der russischen Sprache, das war ein Flashmob, den man in den sozialen Netzen sehr intensiv geführt hat. Also, einen Tag lang haben die Regionen der Westukraine Russisch gesprochen und geschrieben, oder versucht, das zu machen, und die im Osten haben versucht, das auf Ukrainisch zu machen, um zu zeigen einfach, dass die Sache, die die Politiker da proklamieren, eigentlich die normalen Leute nicht unterstützen.
Meyer: Also, Sie sehen da einen Gegensatz zwischen den Politikern, die im Moment das Sagen haben in der Ukraine und die eher eine antirussische Stimmung machen, und dem, was in der Zivilgesellschaft passiert?
Vakhovska: Ich finde einfach, die russische Intervention hat in bestimmter Hinsicht auch eine sehr gute Abschirmung für die Übergangsregierung in der Ukraine geschaffen. Das heißt, in dieser Zeit, während die ganze Zivilgesellschaft versucht, die Situation auf eigener Ebene zu deeskalieren, den russischen Freunden zu erklären, dass hier keine Leute wegen russischer Sprache verfolgt werden – was eigentlich auch stimmt, es werden keine verfolgt! – … Was die Politiker machen, die machen einfach das Spiel weiter, ohne auf die Zivilgesellschaft wirklich zu achten. Deswegen finde ich, dass der Grundkonflikt von Euromaidan eigentlich von Maidan, Protest … Also, der ist längst nicht gelöst!
Meyer: Das heißt, die Proteste müssten eigentlich weitergehen?
Vakhovska: Wer weiß, in welcher Form sich das fortsetzen lässt. Weil, es entstehen schon einige, wenigstens einige Initiativen in der Zivilgesellschaft, in der Maidan-Bewegung, also von den Leuten, die auch in die Politik gehen wollen, mit den bürgerlichen Initiativen statt Parteien. Aber es gibt eine andere Gefahr: Die Ukraine steht vor einer riesigen wirtschaftlichen Katastrophe. Und die USA und die EU haben schon von ihrer Unterstützung angekündigt. Das ist alles sehr schön und nett und das braucht das Land, sonst würden wir das überhaupt nicht überleben. Aber das, was der Internationale Währungsfonds von der Ukraine dafür verlangt, und zwar die Kürzung der sozialen Ausgaben, das wäre für die Ukraine eine andere Art der Katastrophe. Das Land ist extrem verarmt. Wenn man in einer Großstadt lebt, merkt man das nicht so sehr, aber sobald man irgendwo auf dem Lande ist: Das Land ist total arm. Und es ist dann die Frage eigentlich, wann die Leute wieder auf den Maidan kommen, aber jetzt aus einem anderen Grund schon.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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