Wirtschaft unter dem Führerbefehl

Rezensiert von Hans-Ulrich Wehler · 20.07.2007
In der Studie "Ökonomie der Zerstörung" von Adam Tooze über die Wirtschaft im "Dritten Reich" wird das umstrittene Problem des Verhältnisses von kapitalistischer Wirtschaft zum NS-Regime auf denkbar breiter empirischer Basis und in eindringlicher Analyse souverän geklärt. Man kann sagen: Zum ersten Mal ist das jetzt in einer überzeugenden Synthese auf gleichmäßig hohem Niveau geschehen.
Blickt man auf die ersten 60 Jahre der geschichtswissenschaftlichen Veröffentlichungen zur deutschen Zeitgeschichte seit 1945 zurück, ragen unübersehbar einige Klassiker hervor. Zu ihnen gehören zum Beispiel Karl Dietrich Brachers "Auflösung der Weimarer Republik" und Martin Broszats "Der Staat Hitlers", dazu Ian Kershaws Hitler-Biographie, Michael Wilds Kollektivporträt des Reichssicherheitshauptamtes und Ulrich Herberts Studie über Werner Best als Inkarnation des intellektuellen Rechtsradikalismus.

Soeben ist nun zu dieser Spitzengruppe außergewöhnlicher Forschungs- und Interpretationsleistungen die Studie von Adam Tooze über die Wirtschaft im "Dritten Reich" hinzugetreten. In ihr wird das seit langem heftig umstrittene Problem des Verhältnisses von kapitalistischer Wirtschaft zum NS-Regime auf denkbar breiter empirischer Basis und in eindringlicher Analyse souverän geklärt. Man kann sagen: Zum ersten Mal ist das jetzt in einer überzeugenden Synthese auf gleichmäßig hohem Niveau geschehen. Denn die westdeutsche Zeitgeschichte hatte bisher ebenso wenig wie die westeuropäische oder amerikanische Forschung ein solches Werk hervorgebracht, das sich auf der Höhe des gegenwärtigen Kenntnisstandes und Reflexionsniveaus bewegt.

Und die Historiographie der verblichenen DDR litt unter der bornierten dogmatischen Einschränkung durch ihre Glaubenslehre, dass "der Kapitalismus" sich des Nationalsozialismus doch nur als seines Büttels bedient habe. Das trifft auch auf die häufig genannte, dreibändige "Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft" von Dietrich Eichholtz zu, wo der Autor bis in die 90er Jahre hinein in seinem geschichtsphilosophischen Prokrustesbett verharrte und überdies bis zuletzt die Zentralität von Rassendoktrin und Holocaust nicht anerkennen wollte.

Die Leistung von Tooze, einem jungen englischen Historiker, der in Cambridge seinen wissenschaftlichen Stützpunkt besitzt, besteht darin, eine solche Gesamtdarstellung nach einer sorgfältigen Prüfung der Quellen und konkurrierenden Deutungen in einer präzisen, urteilsfreudigen, stilistisch aufgelockerten und daher alles andere als menschenfeindlichen Prosa geschafft zu haben. Sie besteht gleichzeitig aber auch daraus, eine lange Reihe von hartnäckig kolportierten und einflussreichen Mythen definitiv zerstört zu haben, die das NS-Regime bisher umrankten, zum Beispiel die Legende von Albert Speers "Rüstungswunder" in der zweiten Kriegshälfte.

Unstreitig geht Tooze als ein mit der Politischen Ökonomie und Statistik eng vertrauter Wirtschaftshistoriker vor, doch er betont auch stets die brisanten ideologischen Antriebskräfte Hitlers und seiner Bewegung: die Macht des Rassismus und Antisemitismus, ihre Fixierung auf den Entscheidungskampf zwischen Ariern und Weltjudentum und daher auf die Eroberung von "Lebensraum" im Osten, um diesem Armageddon gewachsen zu sein.

Zwar geht es streckenweise primär um Zahlungsbilanzen und Außenhandelsfragen, immer wieder um das Rüstungspotential und den Widerstreit von Interessengruppen. Aber die trübe Mischung der Motive in den Entscheidungsprozessen, in denen nur zu oft und letztlich ausschlaggebend das ideologische Weltbild Hitlers dominierte, kommt stets zur Geltung. Jeder Ökonomismus wird strikt vermieden, überdies die Natur der konkreten militärischen Kriegführung samt ihren Resultaten angemessen berücksichtigt, also nicht als "unökonomische" Dimension an den Rand gedrängt.

Im Hinblick auf die sogennanten Friedensjahre von 1933 bis 1939 arbeitet Tooze zunächst ausführlich die Konzentration des Hitler-Regimes auf die forcierte Aufrüstung heraus - jener, wie er schreibt, "alles überragenden Antriebskraft der NS-Wirtschaftspolitik" - ‚ die alle antizyklischen Beschäftigungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit weit übertraf: Bis 1938 wurde der Militäranteil am Staatshaushalt von einem Prozent auf 20 Prozent gesteigert.

Nie zuvor und danach, konstatieret Tooze, ist das "Sozialprodukt eines kapitalistischen Staates zu Friedenszeiten in einem solchen Ausmaß oder einer solchen Geschwindigkeit umverteilt worden". Seit 1938 befanden sich die Militärausgaben im Grunde auf Kriegsniveau. Dieses Ziel der Hochrüstung für den künftigen Krieg um die Hegemonie in Europa, den "Lebensraum" im Osten und letztlich um Weltherrschaft der arischen Rasse, hat die Führerdiktatur "höchst effektiv" verfolgt und sogar während des Krieges einen gewissen Vorsprung in der Mobilisierung aller Binnenressourcen behauptet.

Wie konnte das Regime eine derartige Kontrolle über die streng privatkapitalistisch organisierte Wirtschaft gewinnen? Warum tolerierte diese Privatwirtschaft die Fülle an staatlichen Vorgaben und Eingriffen? Toozes Antwort fällt überzeugend aus: Die Weltwirtschaftskrise seit 1929 hatte die Kollektivmacht der Unternehmer geschwächt. Der autoritäre Stil der Regierung Hitler und die Zertrümmerung der Gewerkschaften sagten ihnen ganz so zu wie die hochschnellenden Profite. Nackter Zwang wurde selten ausgeübt, vielmehr bediente sich das Regime meist der autonomen Initiative der Unternehmer und Manager.

Und wegen der Konkurrenz der Interessen genügten einige Bündnisse, um entscheidende Sektoren durch eine "äußerst effektive" Mobilisierung in die Richtung der Regimeziele zu drängen. Tooze formuliert daher ein unzweideutiges Dementi der marxistischen Behauptung, dass "der Kapitalismus" die NS-Diktatur gesteuert habe. Vielmehr gelang ihr eine effiziente Koordination unter dem Primat der Führerherrschaft. Denn im Zweifelsfall war es keine Frage, wer immer wieder die Entscheidung fällte: der Führerbefehl.


Die absolut hervorragende Analyse der Kriegsjahre wird im Grunde durch eine Denkfigur strukturiert. Das ist die kontinuierlich überprüfte Frage nach dem Rüstungspotential (im weitesten Sinn), das die Kriegsgegner gegeneinander ins Feld führen konnten. Trotz einiger blendender militärischer Erfolge des "Dritten Reiches" - im Frankreich-Feldzug etwa und während der ersten Monate des Krieges gegen die Sowjetunion - blieb die Grundkonstellation dennoch eindeutig: Dem gewaltigen und stetig weiter anwachsenden Potential der Alliierten stand das begrenzte Potential Deutschlands und seiner schwachen Verbündeten gegenüber, das auch durch die Ausbeutung des "Großraums" im besetzten Europa nicht entscheidend vermehrt werden konnte.

Es bleibt trotzdem verwunderlich, wie lange eine Mittelmacht, die Deutschland letztlich blieb, fast sechs Jahre lang Krieg gegen die halbe Welt führen konnte. Die langlebige militärische Kompetenz der Wehrmacht übte auf diese Fähigkeit sicherlich einen großen Einfluss aus. Für ausschlaggebend hält Tooze, dass das ungeheure Potential der Vereinigten Staaten den Alliierten das Übergewicht sicherte, obwohl er auch die erstaunliche Mobilisierungsleistung der sowjetischen Rüstungswirtschaft unbefangen würdigt. Mit dieser beharrlichen Betonung der (Hitler und seinen Eliten durchaus bewussten!) strategisch ausschlaggebenden Rolle Amerikas korrigiert er energisch die Grenzen der oft noch vorherrschenden eurozentrischen Sichtweise.

Im Einzelnen analysiert Tooze eine Fülle von Problemen, welche die internationale Forschung schon lange beschäftigt haben, auf innovative Weise. Warum zum Beispiel löste Hitler im September 1939 den Krieg aus, obwohl er wusste, dass sein langfristig angelegtes Rüstungsprogramm zur Kriegsvorbereitung fehlgeschlagen war? Die Kosten des Abwartens schienen größer zu sein; Frankreich und England sollten geschlagen werden ehe die USA, die Hitler seit 1939 öffentlich und intern immer wieder anklagte, als Speerspitze des Weltjudentums direkt gegen Deutschland intervenierten.

Um den Kampf um die Weltherrschaft vorzubereiten, wurde schon im Sommer 1940 der Krieg gegen die Sowjetunion ins Auge gefasst, damit der riesige blockadefeste "Lebensraum" gewonnen werden konnte, der zum einen ein Äquivalent zu den Ressourcen des nordamerikanischen Kontinents darstellen, zum andern als Expansionsfeld eines maßlosen Germanisierungsprojekts dienen sollte. Und wegen der vorrangigen Bedeutung der USA erklärte Hitler ihnen auch sofort nach Pearl Harbour den Krieg, an dem sie ohnehin schon längst latent teilnahmen.

Beide Kriegsschauplätze im Osten wie im Westen bildeten insofern eine Einheit, da sie in letzter Instanz dem Kampf gegen das Weltjudentum dienten. Außer dem Krieg gegen die Rote Armee, England und Amerika wurde daher auch noch ein dritter Krieg gegen die Juden und Slawen geführt, wie er im Holocaust verwirklicht, im Generalplan Ost detailliert vorbereitet wurde.

Tooze übergeht aber auch nicht die zwingenden ökonomischen Gründe, die Hitler trotz enormer Risiken in das Unternehmen "Barbarossa" führten, als die bisher größte Invasionsarmee der Weltgeschichte in die Sowjetunion einbrach. Denn russisches Getreide und Öl galten, da im "Großraum" NS-Europas nicht genügend Ressourcen mobilisiert werden konnten, als unverzichtbar für eine erfolgreiche Kriegsführung.

Als der Russlandkrieg bis 1943 verloren ging, Speer als Rüstungsminister aber dennoch eine Wende erzwingen wollte, gelang ihm zwar entgegen der von ihm sorgfältig kultivierten Legende, kein Wunder - wichtige Impulse waren vor ihm gegeben worden, die Statistik wurde geschönt -‚ aber doch eine erstaunliche, kriegsverlängernde Expansion, die für eine Korrektur des Kriegsverlaufs freilich zu spät kam.

Kein Historiker hat bisher so genau herausgearbeitet, dass dieser fatale Erfolg Speers in einem ganz fundamentalen Sinn auf der bereitwilligen, intensiven Kooperation mit Himmler, dem SS-Imperium und dem Heer seiner Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge beruhte. Fortab sollte es mit dem Mythos, dass Speer in Unkenntnis des Holocaust als verführter Idealist und brillanter Technokrat agiert habe, ein für allemal vorbei sein.

Es gibt zahlreiche Dimensionen des Zweiten Weltkriegs, die Tooze überzeugender als zuvor zu erklären vermag. Im Sinne der englischen Wissenschaftstradition handelt es sich bei seinem (innerhalb von nur fünf Jahren vorbereiteten und geschriebenen) 900-Seiten-Konvolut um eine glänzende weit gespannte Politische Ökonomie des "Dritten Reiches" und des Zweiten Weltkriegs. An ihr wird man von nun ab den Gang der zeitgeschichtlichen Forschung messen dürfen.


Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus
Aus dem Englischen von Yvonne Badal.
Siedler Verlag, München 2007, 917 Seiten
Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung (Coverausschnitt)
Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung (Coverausschnitt)© Siedler Verlag