Meinung

Wieso es in der Wirtschaft nicht ums „Siegen“ geht

04:32 Minuten
Die Container Exchange Route, das eigene Straßennetz des Hafenbetriebs Rotterdam auf der Maasvlakte. Das 17 Kilometer lange Straßennetz verbindet Terminals, Vertriebszentren und andere wichtige Standorte. Das bedeutet, dass die Container nicht auf öffentlichen Straßen fahren müssen.
Freier Handel nutzt allen, wenn sich jede Volkswirtschaft auf die Produktion jener Güter konzentriert, bei denen sie über das beste Know-how verfügt, meint Gustav Horn. © picture alliance / ANP / Jeffrey Groeneweg
Ein Einwurf von Gustav Horn · 08.04.2024
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Die Bahn "unterliegt" im Tarifstreit, und wer die meisten Güter exportiert, "gewinnt": Wirtschaft wird oft als Kampf geschildert. Doch das ist ein irreführendes Bild, meint der Ökonom Gustav Horn. Gute Wirtschaftspolitik schaffe Win-win-Situationen.
Ein gespenstischer Gedanke geht um in der Wirtschaftspolitik. Es ist der Gedanke, es kann immer nur einen Sieger geben: ich oder du. Der Gedanke ist verführerisch, schon, weil er so eingängig daherkommt. Und ist es nicht wirklich so, dass der Erfolg des einen die Niederlage des anderen ist?
Ein Beispiel waren die jüngsten Tarifverhandlungen zwischen der Gewerkschaft der Lokführer und der Deutschen Bahn. Breitbeinig stellte sich der GDL-Vorsitzende Weselsky nach deren Abschluss vor die Presse und verkündete einen totalen Erfolg der Gewerkschaften und die gleichzeitige Niederlage der Deutschen Bahn. Schließlich hatte er sein Ziel – Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich – erreicht. Die nachfolgenden öffentlichen Debatten kreisten den auch um die Frage, wer denn nun wirklich gewonnen habe, der eine oder andere.

Denken in den Kategorien „Sieger“ und „Verlierer“

Auch im globalen wirtschaftlichen Maßstab wird gerne in den Kategorien von „Sieger“ und „Verlierer“ gedacht: Wer viele Güter exportiert, der siegt, wer viele Güter importiert, verliert. Donald Trump hat diese Sichtweise in den USA etabliert, aber auch in Deutschland hat die Vorstellung, Außenhandelsbilanzüberschüsse wie Fußballergebnisse zu interpretieren, viele Anhänger. Hierzulande galt Deutschlands einstige Rolle als „Exportweltmeister“ jahrelang geradezu als Potenzbeweis der deutschen Wirtschaft.
Ein weitaus weniger harmloses Beispiel findet sich in den Kampagnen der AfD. Der Zuzug von Migranten ist nach AfD-Auffassung eine „Niederlage“ für die hier Lebenden, weil die Kosten für deren Aufnahme und Betreuung alle belasten. Es ist in dieser Vorstellung zugleich ein Erfolg für alle Migranten, weil sie so billig an unser Geld zu kommen scheinen. Das Geld fehlt – nicht nur nach AfD-Auffassung – dann, um höhere Renten zu zahlen und günstigeren Wohnraum anzubieten.     

Migration als Potenzial 

Alle diese Beispiele erscheinen so einleuchtend, so plausibel. Deshalb werden sie gerne geglaubt und sind doch höchst zweifelhaft, weil einseitig. 
Der Zuzug von Migranten lässt sich nämlich auch ganz anders deuten, nämlich als ein Potenzial, das unserer Wirtschaft und letztlich uns allen zugutekommen kann. Wenn es gelingt, Migranten in den Arbeitsmarkt zu integrieren, zahlen sie Steuern und Sozialabgaben. Erstere können zum Bau preiswerter Sozialwohnungen verwendet werden. Mit letzteren kann man höhere Renten zahlen. Am Ende gewinnen alle. Die Migranten erreichen Sicherheit und die Möglichkeit, ein anständiges Einkommen zu erzielen. Die hier Lebenden bekommen eine stärkere Wirtschaft mit günstigerem Wohnraum und höheren Renten. Voraussetzung ist allerdings, dass man Migration als Potenzial erkennt und alle Energie darin setzt, diese Menschen schnell und gut in den Arbeitsmarkt zu integrieren und sich nicht auf die Abwehr von Zuzug beschränkt. 

Freier Handel kann beiden Seiten nutzen

Ähnlich ist es mit dem Außenhandel. Eigentlich weiß man schon seit dem 19. Jahrhundert, dass freier Handel beiden Seiten nutzt, wenn sich jede Volkswirtschaft auf die Produktion jener Güter konzentriert, bei denen sie über das beste Know-how verfügt. Der Exporteur erzielt Erlöse auf dem Weltmarkt und der Importeur bekommt relativ billige Güter. Beide Seiten gewinnen, es gibt keine Verlierer. Der Welthandel ist eben kein Fußballspiel.
Selbst Claus Weselsky sollte seine Siegerpose vielleicht noch einmal überdenken. Denn die Vereinbarung mit der Bahn lässt auch eine Verlängerung der Arbeitszeit zu, wenn die Beschäftigten dies wünschen. Damit sind sie die wahren Sieger des Tarifabschlusses. Die Gewerkschaft kann sich zu Gute halten, diese Möglichkeit erkämpft zu haben und die Bahn dürfte die Chance auf flexiblere Arbeitszeiten begrüßen. Letztlich haben auch hier alle gewonnen.
In der Wirtschaftspolitik gibt es also nicht nur des einen Sieg mit des anderen Niederlage. Es geht darum, Win-win-Situationen zu schaffen. Allerdings: Beiderseitige Vorteile kommen nicht anstrengungslos daher, sondern sind an Voraussetzungen gebunden, die man erkunden und erkämpfen muss. Schafft man dies aber, dann heißt es nicht mehr "ich" oder "du", sondern „wir".

Gustav Horn ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen. Er gründete das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung und war von 2005 bis 2019 dessen wissenschaftlicher Direktor.

Ein Mann mit kurzem weißen Haar sitzt auf einem Podium. Er hat die Hände gefaltet.
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