Wirtschaft als Gespensterwissenschaft

Joseph Vogl im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler |
Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl hat die Grundlagen der ökonomischen Wissenschaften untersucht. So wirke Adam Smiths Ausspruch, der Markt werde wie von unsichtbarer Hand gelenkt, wie ein Dogma, meint Vogl. Doch durch die Finanzkrise seien solche Dogmen ins Wanken geraten.
Jan-Christoph Kitzler: Dass das freie Spiel der Märkte gewaltigen Schaden anrichten kann, das haben viele Staaten inzwischen zu spüren bekommen, die an den Rand der Pleite gekommen sind, weil sie mit unvorstellbar großen Summen Banken retten mussten, die sich verzockt haben. Die Banken, die sind riskante Wetten eingegangen, die dann irgendwie nicht aufgegangen sind, und die Folgen bekommen jetzt natürlich auch viele Bürger zu spüren, die unter den harten Sparkursen leiden, die betroffene Staaten wie Griechenland oder Irland jetzt einleiten müssen. Die Europäische Union wird ihre Anstrengungen, die Lage zu stabilisieren ausweiten, irgendwie. – Der Euro-Rettungsfonds jedenfalls soll aufgestockt und ausgeweitet werden, in der kommenden Woche wollen das die Staats- und Regierungschefs der EU offiziell beschließen.

Wir haben in den vergangenen Monaten immer wieder Versuche gestartet zu verstehen, was da an den Finanzmärkten eigentlich passiert, aber kann man das überhaupt verstehen? Bei mir im Studio ist jetzt Joseph Vogl, Professor für Literatur und Kulturwissenschaft ab der Berliner Humboldt-Universität, vor Kurzem ist sein Buch "Das Gespenst des Kapitals" erschienen. Guten Morgen, Herr Vogl!

Joseph Vogl: Guten Morgen, Herr Kitzler!

Kitzler: Inwiefern ist eigentlich der Blick eines Literaturwissenschaftlers ein anderer? Lesen Sie zum Beispiel wirtschaftstheoretische Texte als Fiction?

Vogl: Nein, natürlich nicht. Also wir lesen natürlich wirtschaftswissenschaftliche Texte nicht als literarische Texte, weil sie keine literarischen Texte sind. Es sind aber glaube ich zwei Perspektiven, die für uns ganz wesentlich sind: Auf der einen Seite interessiert mich insbesondere, wie wirtschaftswissenschaftliche Texte, ökonomische Texte versuchen, die Welt zu verstehen, wie sie die Welt interpretieren und wie sie das tun, also wie sie einen Weltbezug herstellen, ist eines meiner Interessen.

Es gibt einen zweiten Punkt, glaube ich, den Literaturwissenschaftler in ihrem Blick schärfen, einen zweiten Punkt, nämlich sie lesen auch aktuelle Texte gewissermaßen als historische Texte. Und in letzter Konsequenz steht dahinter die Frage: Wie kam es, dass die Ökonomie, das ökonomische Wissen so dominant in unserer Gesellschaft, in unserer Kultur geworden ist?

Kitzler: Der Titel des Buches heißt "Das Gespenst des Kapitals". So, wie wir es jetzt erleben, was macht das Kapital denn zum Gespenst?

Vogl: Zunächst einmal muss man sagen, dass das, was in den letzten Jahren, seit 2007, 2008, 2009 passierte, also dieser Crash oder diese Krise, ein hohes Maß an Verstörung erzeugt hat. Das heißt also, bestimmte Regeln, bestimmte Modelle, bestimmte Gesetzmäßigkeiten funktionieren nicht mehr, und was da eingetreten ist, ist eine Art Verwirrung, die Wirklichkeit oder die Welt hat verworrenen, trüben, unklaren Charakter angenommen. So was sagte beispielsweise Alan Greenspan 2008, er sagte, unsere Ideologie ist gewissermaßen kollabiert.

Aber was ist eigentlich hier kollabiert und was könnte man in dieser ökonomischen Wissenschaft als gespenstisch begreifen? Da muss man, glaube ich, weit zurückgehen und danach fragen, wie hat sich dieses Wissen im 18. Jahrhundert langsam hergestellt? Und es gibt einen Ausdruck, einen berühmten Ausdruck von Adam Smith, der sagte, eigentlich funktioniert dieser Markt wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt.

Und diese unsichtbare Hand ist bis heute gewissermaßen ein Dogma der ökonomischen Wissenschaft, und dann könnte man sagen, in der Hinsicht ist es eine Spuk- oder Gespensterwissenschaft. Das heißt also, die disparaten Kräfte des Marktes werden durch eine unsichtbare Hand in irgendeiner Weise zur Ordnung gebracht. Dieses System gewissermaßen ist heute irgendwie zumindest infrage gestellt.

Kitzler: In Ihrem Buch beschreiben Sie die Wirtschaftswissenschaften ja auch als Glaubenslehren, sage ich mal, ähnlich wie Religionen funktionieren sie. Was muss denn passieren, damit die Menschen daran nicht mehr glauben?

Vogl: Also, zunächst mal muss man wahrscheinlich danach fragen, wie kann man Ökonomie überhaupt als Glaubenslehre verstehen? Und einen Punkt habe ich bereits genannt, das ist der feste Glauben daran, dass Märkte, Marktmechanismen zum Ausgleich, zum Gleichgewicht, zu einer Art Homöostase führen. Das heißt, eigentlich herrscht auf den Märkten etwas wie Vorsehung.

Es ist nun überraschend, dass Vorstellungen dieser Art 1755 – und das war das große, dramatische Erdbeben von Lissabon, die ganze Altstadt von Lissabon wurde damals zerstört –, dass dieses Datum, glaube ich, ganz wichtig war für die Erschütterung bestimmter Glaubenslehren des 18. Jahrhunderts. Also beispielsweise die Vorstellung, die Welt sei nach rationalen Prinzipien von Gottes Weisheit eingerichtet worden, lässt sich hier in ihrem Kollaps verfolgen.

Und so müsste man fragen, haben nicht vielleicht auch Finanzbeben einen bestimmten Glauben an ökonomische Ordnungskräfte zerstört? Ist nicht tatsächlich 2008 eine ökonomische Ordnungsvorstellung zusammengebrochen und heißt das nicht gleichzeitig, dass die ökonomische Wissenschaft sich anders orientieren muss, also beispielsweise nicht mehr danach fragt, nach welchen Gesetzmäßigkeiten dieser Markt funktioniert, sondern zunächst einmal davon ausgeht, dass es vielleicht keine gibt? Dass wir komplexe ökonomische, soziale, kulturelle, politische Konstellationen verfolgen müssen und dass eigentlich die Ökonomie nicht so etwas wie eine Naturwissenschaft ist, sondern eine Sozial- und Gesellschaftswissenschaft oder Geschichtswissenschaft?

Kitzler: Ich habe schon beschrieben, wir, die wir das beobachten, verstehen manchmal nicht, was da passiert; auf der anderen Seite, die, die eigentlich Experten sein sollen, verstehen es auch nicht. Die Verworrenheit, die Sie beschrieben haben, die ist ja allgemein. Muss uns das beunruhigen?

Vogl: Natürlich muss uns das beunruhigen, weil tatsächlich die, wenn Sie so wollen, die Finanzökonomie und auch das Selbstverständnis der Finanzökonomie nach völlig rationalen Prinzipien funktioniert. Es ist also nicht so, dass das, was auf den Börsenplätzen passiert, das, was auf den Finanzplätzen passiert, irrational sei. Im Gegenteil, die Leute agieren strategisch, sie agieren rational, sie agieren völlig vernünftig, das heißt in letzter Konsequenz gewinnorientiert. Das Seltsame ist nur, dass exakt dieses rationale, vernünftige, strategische Agieren, dass dieser Handel aufgrund seiner Mechanismen plötzlich Verrücktheiten erzeugt. Das heißt also, rationales Handeln produziert von Zeit zu Zeit völlig unvernünftige Effekte, und diese Sache muss uns auf jeden Fall beunruhigen.

Kitzler: Die Frage ist jetzt natürlich auch, was folgt aus dieser Erkenntnis, dass wir wissen, dass wir eigentlich nichts wissen über das, was da passiert? Brauchen wir mehr Politik, ganz konkret gefragt, die Grenzen setzt?

Vogl: Ich würde jetzt nicht so unvorsichtig sein, als Literatur- und Kulturwissenschaftler direkte Ratschläge zu geben, aber ich würde zumindest die Frage stellen, wo sind die Möglichkeiten, die Dominanz dieses Systems oder die Hegemonie des Systems, das alle kulturellen, gesellschaftlichen Bereiche gewissermaßen bestimmt, wo kann man diese Dominanz unterbrechen, wo kann man also die Abhängigkeit, also die soziale, die politische und auch die wenn man so will kulturelle Abhängigkeit von Finanzmärkten reduzierten? Das, glaube ich, wird eine Frage sein, die uns geraume Zeit noch beschäftigen wird.

Kitzler: Wie ist eigentlich Ihr Buch aufgenommen worden bei den Akteuren? Haben Sie Reaktionen bekommen vonseiten der Politik oder auch aus der Wirtschaft, aus der Wirtschaftswissenschaft?

Vogl: Also aus der Wirtschaftswissenschaft sehr verhaltene, sehr sporadische, also das heißt sehr seltene Reaktionen. Aber nichtsdestoweniger bin ich überrascht – und das muss man, glaube ich, auch noch einmal konstatieren –, dass die Wirtschaftswissenschaft keineswegs so einheitlich ist, wie es von außen aussieht. Das heißt also, hier gibt es unterschiedliche Schulen, hier wird auch im Augenblick ein irrsinnig fruchtbarer Streit über mögliche Verfahren, über mögliche Wege, über mögliche Interpretationen geführt.

Also das Erfreuliche, wenn Sie so wollen, der erfreuliche Effekt dieser Krise bedeutet, dass hier in den Wirtschaftswissenschaften auch bestimmte herrschende Meinungen infrage gestellt wurden und es einen ziemlichen, wie soll man sagen, auch polemischen Kampf in den Wirtschaftswissenschaften gibt.

Vielleicht eine Sache noch: Ich glaube, es gibt einen Bereich der Wirtschaftswissenschaften, wo ein Buch wie meines nie hingelangt und wo auch unsereiner nie hingelangen wird, das ist tatsächlich das Allerheiligste der Wirtschaftswissenschaft, das ist die Finanzmathematik. Das heißt, der Ort, wo mit physikalischen Modellen immer wieder neu gewissermaßen die Zukunft dieser Welt berechnet und geplant wird. Also dorthin gerät es mit Sicherheit nicht und dorther kommt auch keine Nachricht.

Kitzler: Joseph Vogl war das, Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität. Sein Buch "Das Gespenst des Kapitals" ist im Diaphanes Verlag erschienen. Vielen Dank, dass Sie da waren!

Vogl: Danke sehr!
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