Wirkliches und gefühltes Alter

Von Hans Christoph Buch |
Mit dem Älterwerden ist es wie mit dem Wetter, denn das gefühlte Alter eines Menschen und sein wirkliches Alter stimmen nur selten überein. Das Revolutionsjahr 1968 markierte den Beginn einer Ära, in der ein bis heute andauernder Jugendwahn die westlichen Industriegesellschaften ergriff.
Jede und jeder sei so alt, wie sie oder er sich fühle, hieß es damals: Zum ersten Mal in der Geschichte schien der alte Menschheitstraum von ewiger Jugend in greifbare Nähe gerückt, so als könne man dem Tod ein Schippchen schlagen durch eine Kombination von physischer Fitness, kosmetischer Chirurgie und Anti-Baby-Pille, die Genuss ohne Reue versprach. Dieser Reklameslogan für Zigaretten, deren Rauch bekanntlich die Gesundheit schädigt, wurde zur Signatur einer Epoche, in der sich Konsumrausch und Revolutionserwartung zu einem Glücksversprechen verbanden, dessen erotischem Appeal selbst konservative Nörgler sich nur schwer entziehen konnten. "Trau keinem über dreißig", lautete das Motto der selbst ernannten "Kinder von Marx und Coca Cola", die "unter den Talaren den Muff von tausend Jahren" vermuteten, ohne zu bemerken, dass ihre Politparolen den Slogans der Werbung nachhinkten, die wie im Märchen von Hase und Igel stets als erste durchs Ziel ging.

Aber dem Sensenmann springt niemand unbemerkt von der Schippe, und der verdrängte Todestrieb meldete sich im Amoklauf der Terroristen ebenso zurück wie in den Massenmorden der Roten Khmer und der chinesischen Kulturrevolution, die von der 68er Generation zum gewaltlosen Aufstand gegen die Bürokratie verniedlicht wurde. Erst die Aids-Epidemie der achtziger Jahre schob der allgemeinen Euphorie einen Riegel vor, indem sie der angeblich befreiten Sexualität das obligatorische Kondom überzog. Seitdem prangt auf allen Zigarettenschachteln die Warnung, dass Rauchen, selbst wenn es passiv erfolgt, impotent machen und Krebs erzeugen kann. Aber ich will nicht vom objektiven Zeitgeist sprechen, sondern vom subjektiven Zeitgefühl.

Das gefühlte Alter stimmt mit dem wirklichen nur selten überein, und der Moment der Wahrheit kommt ganz unverhofft, wenn man Stadtpläne nur noch mit dem Vergrößerungsglas lesen kann oder Gebrauchsanweisungen für Elektrogeräte und Bedienungsanleitungen für Handys nicht mehr versteht. Liegt es daran, dass die Tastatur zu kleinteilig ist, oder sind die Anleitungen zu kompliziert und unverständlich geworden? Auch hier ist die Industrie ihren Kritikern eine Nasenlänge voraus und bringt Seniorenhandys auf den Markt, deren Knöpfe breit wie Klaviertasten und deren Klingeltöne unüberhörbar sind.

Die Symptome des Altersschubs sind oft genug beschrieben worden: Wenn es plötzlich schwer fällt, aus dem Auto auszusteigen, man nachts des Öfteren zur Toilette muss und sich ohne fremde Hilfe nicht mehr die Fußnägel schneiden kann. Die eigenen Kinder machen einen darauf aufmerksam, dass man sich nach der Mode von vorvorgestern kleidet, und man entdeckt, dass man sich für die Hitparade genauso wenig interessiert wie für Formel-Eins-Rennen oder die Bestseller der neuen Saison.

Irgendwann hat der Jugendwahn auch den Literaturbetrieb erfasst, denn plötzlich gab es nur noch junge Autorinnen - Fräuleinwunder hieß der Fachausdruck dafür. Namhafte Schriftsteller, die von Kritikern gelobte, von Jurys mit Preisen bedachte Bücher veröffentlicht hatten, standen über Nacht ohne Verlage da. "Die 68er Generation ist auf dem Markt nicht mehr vermittelbar", sagte eine Literaturagentin kürzlich mit entwaffnender Offenheit auf der Leipziger Buchmesse.

Gleichzeitig ist das Paradox zu konstatieren, dass der ungebremste Jugendwahn das genaue Gegenteil dessen bewirkt, was er anstrebt, und zur hoffnungslosen Überalterung unserer Gesellschaft führt. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, allen voran Frank Schirrmacher, der Mitherausgeber der "FAZ", dass immer weniger arbeitende Menschen immer mehr Rentner und Pensionäre ernähren müssen, braungebrannte, gutgelaunte Senioren, die als Sinnbild ewiger Jugend Skipisten und Strände, Kreuzfahrtschiffe und Golfplätze bevölkern.

Die Alterspyramide steht Kopf, und der Generationenvertrag, auf dem die Reproduktion der Gesellschaft beruht, ist zum Zankapfel der Parteien geworden. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit löst das Problem ebenso wenig wie die von der Werbung erzeugte Illusion, ewig jung und dynamisch zu bleiben, wenn man nur die richtigen Produkte kauft – ein Alptraum wie das durch kosmetische Chirurgie gestylte Gesicht von Michael Jackson, der mehr einem Marsmenschen als einem Menschen gleicht.


Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden und Marseille auf und las im Jahr seines Abiturs (1963) bereits vor der Gruppe 47. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Geschichtensammlung "Unerhörte Begebenheiten". Ende der 60er Jahre verschaffte er sich Gehör als Herausgeber theoretischer Schriften, von Dokumentationen und Anthologien. Auch mit seinen Essays versuchte er, politisches und ästhetisches Engagement miteinander zu versöhnen. Erst 1984 erschien sein lang erwartetes Romandebüt: "Die Hochzeit von Port au Prince". Aus seinen Veröffentlichungen: "In Kafkas Schloß", "Wie Karl May Adolf Hitler traf", "Blut im Schuh". 2004 erschien "Tanzende Schatten".