"Wirklich Cannes-Niveau"
Das Niveau des jungen deutschen Films sei "ganz toll", meint Andrea Hohnen, die Programmleiterin der First Steps Awards. Mit diesen Preisen werden heute in Berlin die herausragenden Abschlussarbeiten deutschsprachiger Filmhochschulen ausgezeichnet.
Susanne Führer: Heute Abend gibt es wieder die große Show für die angeblich Kleinen, wenn die First Steps Awards verliehen werden. Zum elften Mal werden dann am Potsdamer Platz in Berlin die besten Abschlussfilme deutschsprachiger Filmhochschulen mit dem deutschen Nachwuchspreis ausgezeichnet. Andrea Hohnen ist die Programmleiterin der First Steps Awards und jetzt zu Gast im Radiofeuilleton. Guten Tag, Frau Hohnen!
Andrea Hohnen: Guten Tag!
Führer: Ich war ja ehrlich gesagt etwas verwirrt, als ich mir die Liste der nominierten Filme angesehen habe. Da steht zum Beispiel "Shahada" auf dem Programm, von Burhan Qurbani, der Film lief ja schon im Wettbewerb der Berlinale. "Picco" steht da auch, von Philip Koch, der stand sogar in Cannes auf dem Programm und auch noch bei einigen anderen Festivals. Da frage ich mich so: Brauchen die denn jetzt noch einen Nachwuchspreis?
Hohnen: Na, das sehe ich natürlich aus einer ganz anderen Perspektive. Für uns ist das ein ganz tolles Jahr, ein ganz toller Jahrgang, muss man wirklich sagen. Unser Fokus liegt auf Abschlussfilmen von deutschsprachigen Filmhochschulen. Das heißt, wir nehmen die Abschlussfilme des Jahrgangs, wir haben keine Vorauswahl bezüglich: Hat dieser Film schon international Preise oder hat der eine Aufführung, hat der eine Kinoauswertung? Müssen wir alles nicht machen, finde ich wunderbar. Das sind Abschlussfilme von deutschsprachigen Filmhochschulen. "Shahada" kommt aus Ludwigsburg, "Picco" kommt aus München.
Und die Filme haben in diesem Jahr ein so großartiges Niveau, also sowohl in sagen wir mal cineastischer Hinsicht als auch was die Ernsthaftigkeit ihrer Themen angeht, dass wir uns eigentlich nur glücklich schätzen können. Wir hatten im letzten Jahr fast schon so ein bisschen das Gefühl, oh, aus den Filmhochschulen, da geht so ein bisschen die Krise, macht sich in den Filmhochschulen breit, es kommen weniger Filme und es kommen auch weniger intensive Filme. In diesem Jahr ist das Niveau einfach wirklich Cannes-Niveau.
Führer: Nach welchen Kriterien wählen Sie denn die Filme aus? Jetzt sagen Sie kurz: Qualität?
Hohnen: Nein. Wir wählen … zunächst mal werden bei uns ja alle Abschlussfilme angenommen, die aus deutschsprachigen Filmhochschulen kommen. All diese Filme – das waren in diesem Jahr etwa so um die 170, glaube ich – kommen bei uns in die Auswahl und werden verteilt auf drei Jurys. Wir haben eine Jury für Werbefilme, eine Jury für Dokumentarfilme und eine Jury für die drei Spielfilmlängenkategorien plus in diesem Jahr einen Sonderpreis Kamera. Und diese Jurys haben natürlich jeweils, jede Jury ist sozusagen ein eigener organischer Körper, wenn man so will. Und die sind bei uns im Allgemeinen so zusammengesetzt, dass die einen heterogenen Blick werfen auf das, was da kommt. Also keinen beteiligten Blick natürlich, sondern einen heterogenen Blick.
Das heißt, unsere Spielfilmjury zum Beispiel, weil Sie "Shahada" und "Picco" erwähnen, setzt sich zusammen aus einem Drehbuchautor, einer Medienjournalistin, zwei Schauspielern und einem Kameramann, und jeder von denen hat natürlich eine völlig unterschiedliche Perspektive auf das. Erstens wie sie Kino sehen, aber auch, was sie sehen wollen in einem Film, was wollen die mitnehmen aus einem Film. Und dieses fließt dann in einen sehr ausführlichen und langwierigen Austauschprozess zusammen und heraus kommen in diesem Jahr Nominierungen, die eigentlich … die Nominierungen decken gewissermaßen das Spektrum dessen ab, was wir in diesem Jahr eingereicht bekommen haben. Das ist nicht immer so.
Führer: Sprechen wir mal inhaltlich über das Spektrum: Manchmal ist es ja sehr verschieden und in manchen Jahren – ob jetzt beim First Steps Award oder auch bei der Berlinale oder der Goldenen Palme – hat man den Eindruck, da war jemand und ein Thema vorgegeben. Wie ist das in diesem Jahr, gibt es da so ein beherrschendes Thema?
Hohnen: Ja, es gibt ein beherrschendes Thema, über das sprechen glaube ich auch schon sehr viele Leute jetzt, und dieses beherrschende Thema ist Gewalt. Und zwar vor allem Gewalt unter männlichen Kindern und Jugendlichen, das ist eigentlich eins der Hauptthemen. Also ich kann als Beispiel … nehmen wir mal die drei nominierten fiktionalen Kurzfilme, die wir haben, drei Filme, in denen es eigentlich nur um die Entstehung von solchen Gewaltbeziehungen, Hierarchiebeziehungen innerhalb von Kinder- oder Jugendlichengruppen geht. Interessanterweise übrigens inszeniert alle drei Filme von Frauen.
Führer: Ich würde gern ein anderes Beispiel nehmen, Frau Hohnen, nämlich den Film "Picco", den wir vorhin schon erwähnt haben. Der beruht ja auf den Ereignissen im Gefängnis Siegburg, wo ein Jugendlicher qualvollst zu Tode gefoltert wurde, muss man wohl sagen. Und überall, wo dieser Film bisher gezeigt wurde, und das war ja eben auf mehreren Festivals bereits, war das Publikum wirklich zutiefst schockiert und hat diesen – im Pressetext heißt es auch so schön – unbarmherzig realistischen Film als Zumutung empfunden. Warum wird dann dieser Film für Ihr Festival nominiert und bekommt er durch Sie dann noch mal erhöhte Aufmerksamkeit?
Hohnen: Ja, also man muss einfach sagen, dass "Picco" ein Film ist, der also erst mal unter filmischen, handwerklichen Gesichtspunkten herausragend gut ist. Und dann zitieren Sie sozusagen, Sie zitieren den einen Teil der Reaktionen. Sie zitieren einige Zuschauer, die empört darauf reagieren. Ich bin ja bei solchen Vorführungen auch gewesen, ich hab den Film auch im Kino gesehen. Und ich kenne natürlich auch die andere Seite …
Führer: … ich hab nur die empörten Stimmen vernommen …
Hohnen: … ja, genau …
Führer: … die anderen waren vielleicht leiser.
Hohnen: Ich kenne die andere Seite eben auch sehr gut, und die andere Seite sagt: Das, was der Film da macht, ist natürlich – vor allem eben in seiner letzten halben Stunde – durchaus grenzwertig, weil er bebildert, wo man normalerweise sagen würde, hier habe ich verstanden, worum es geht, ich muss es nicht mehr gezeigt bekommen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass das, was der Film in der letzten halben Stunde auch vollzieht, ist eine Einbeziehung des Zuschauers in diese grundsätzlichen ethischen und moralischen Fragen: Wer ist Täter, wie wird ein Opfer ebenfalls zum Täter – das ist ja das eigentliche Thema des Films –, was eben in dieser Figur von Picco, der ja dann irgendwann eben aus der Opferrolle in die Täterrolle marschiert, aus der ich als Zuschauerin mich nicht mehr raushalten kann. Was würde ich tun an seiner Stelle? Das ist die eigentliche Frage. Und diese Frage, man kann durchaus darüber streiten, ob man das in dieser Konsequenz machen muss. Ich finde es legitim, dass ein junger Filmemacher sich entscheidet, es in dieser Konsequenz zu tun und auch die natürlich daraus resultierenden Reaktionen auszuhalten.
Führer: Sagt Andrea Hohnen, die Programmleiterin der Forst Steps Awards, die heute Abend in Berlin verliehen werden. Sie ist zu Gast in Deutschlandradio Kultur. Frau Hohnen, vor elf Jahren, als die First Steps Awards zum ersten Mal verliehen wurden, da war die Nachwuchsförderung des deutschsprachigen Films, sagen wir es mal korrekterweise, ja noch bitter nötig. Es gab einen großen Bedarf an Filmen. Gemessen am Bedarf hat man aber heute doch eher das Gefühl, es gibt viel zu viele Filme und auch viel zu viele Filmstudenten.
Also kaum hat es ein Film mal ins Kino geschafft – im letzten Jahr war das ja extrem –, war der schon wieder weg, also man hatte eigentlich gar keine Chance, ihn zu sehen. Und das tut ja eigentlich niemandem gut, also weder dem Film, noch dem Filmmacher, noch dem Publikum. Mal ketzerisch gefragt: Sollte man vielleicht die Zahl der Studienplätze einschränken? Oder sagen Sie, ach, das regelt der Markt dann schon nach Abschluss des Studiums?
Hohnen: Also ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass man es regeln könnte über die einschränkende Zahl der Studienplätze, weil diese Studienplätze sind schon eingeschränkt. Also wenn Sie auf eine Filmhochschule kommen, dann ist das Nadelöhr noch genau so groß wie vor zwölf Jahren. Es gibt natürlich Zusatzausbildungen, das merken wir sehr deutlich auch an der Zahl der Einreichungen. Wir haben in diesem Jahr zum ersten Mal tatsächlich gewisse Grenzen gesetzt bei den Einreichungen, wir nehmen nicht mehr jeden Bachelorabschluss aus jedem Extrastudiengang von Fachhochschulen. Grundsätzlich hat sich die Zahl der Studienabgänger ganz minimal erhöht im Verhältnis zu vor zehn Jahren.
Aber was sich völlig verändert hat, ist der Markt, in der Tat. Also ich wäre naiv, wenn ich nicht sagen würde, das ist ein risikoreiches Unterfangen, wenn heute sich jemand entscheidet, dieses Studium auf sich zu nehmen. Auf der anderen Seite ist es so: Die Filmhochschulen sind vergleichbar mit Kunsthochschulen. Also es ist eine künstlerische Ausbildung, und wenn Sie sich heutzutage durch das Nadelöhr einer Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule bewegen, weil sie Pianistin werden möchten, dann nehmen Sie ein ähnliches Risiko auf sich.
Es ist nicht so, dass wir die Frage, was passiert eigentlich mit denen, ignorieren. Im Gegenteil, wir haben von Anfang an die Wege, die Karrieren dieser Filmemacher verfolgt. Wir sind auch bis heute in der glücklichen Situation, sagen zu können, diejenigen, die bei uns nominiert waren, haben zu 95 Prozent ihren Weg tatsächlich gemacht. Aber, also niemand möchte jetzt hier verschleiern, dass dieser Weg mühseliger wird. Wann waren Sie das letzte Mal wirklich im Kino, wann war ich das letzte Mal wirklich im Kino? Schon da fängt es an. Wir gehen immer weniger ins Kino.
Führer: Aber noch mal zurück zu diesem Überangebot, was es zurzeit gibt, weil der Bedarf geringer geworden ist, weil es weniger Geld gibt, weil die Fernsehsender weniger einkaufen und so weiter: Was meinen Sie, ist da so ein Nachwuchspreis wie dieser First Steps Award gerade nötig, weil er dann noch mal die Spreu vom Weizen schon vorab trennt, oder macht er sich dann langsam überflüssig, weil er vielleicht falsche Hoffnung weckt?
Hohnen: Also ich muss doch glaube ich noch mal eben eine Anmerkung zu dem Überangebot machen. Das Überangebot entsteht auch daraus, also was Sie Überangebot nennen: Es ist ein sehr großes Angebot an deutschen Filmen auf dem Markt, seit die Ausbildung so gut geworden ist und seit der deutsche Film tatsächlich ein Selbstbewusstsein und auch ein unglaubliches Handlungsspektrum errungen hat. Das heißt, es gibt viel mehr sehr gute deutsche Filme. So viel zum Überangebot.
Das Andere ist: Brauchen wir immer noch einen Nachwuchspreis, der ja in einer ganz anderen Situation entstanden ist? Ich begreife First Steps immer so als einen Work in Progress. Also natürlich machen wir seit elf Jahren eine schöne Gala mit rotem Teppich für noch unbekannte junge Filmemacher, die, wie wir aber wissen, nach drei Jahren eigentlich schon bekannte Filmemacher sind. Wir bauen aber drumrum, zum Beispiel also auch durch diese Partnerschaft mit der Deutschen Filmakademie, immer stärker auch also zusätzliche Schienen, zusätzliche Veranstaltungsreihen auf, die eher in die Richtung zielen, zweite und dritte Schritte, die eher in die Richtung zielen, wie kann man dafür sorgen, dass ein Talent, das sich erwiesen hat über den Abschluss mit dem ersten Schritt, wie kann man so ein Talent sinnvoll begleiten, sinnvoller begleiten auf dem Weg in einen Markt, der immer schwieriger wird?
Wir können nicht grundsätzlich die Produktions- und Rezeptionssituation in Deutschland beeinflussen, aber wir können eine Stimme sein. Und ich finde das ganz wichtig, einfach auch noch mal zu sagen, das ist ja eine private Initiative, First Steps, das ist aus einer privaten Initiative, einer Wirtschaftsinitiative hervorgegangen. Und dass eine Wirtschaftsinitiative durch diese mindestens drei Krisen, die wir inzwischen in den elf Jahren hatten, das aufrechterhalten hat, allein das finde ich ein guter Grund, das fortzuführen. Also das ist einer der ganz wenigen Nachwuchspreise, die tatsächlich erhalten geblieben sind durch die ganzen Krisen hinweg und der weiterhin sagt, für uns ist hier der Nachwuchs der Star an diesem Abend und wir betrachten, also wir begleiten ihn sozusagen weiterhin bei dem, was er dann tut.
Führer: Andrea Hohnen, die Programmleiterin derFirst Steps Awards, die werden heute Abend für die besten Abschlussfilme deutschsprachiger Filmhochschulen in Berlin verliehen. Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Besuch, Frau Hohnen!
Hohnen: Danke schön!
Andrea Hohnen: Guten Tag!
Führer: Ich war ja ehrlich gesagt etwas verwirrt, als ich mir die Liste der nominierten Filme angesehen habe. Da steht zum Beispiel "Shahada" auf dem Programm, von Burhan Qurbani, der Film lief ja schon im Wettbewerb der Berlinale. "Picco" steht da auch, von Philip Koch, der stand sogar in Cannes auf dem Programm und auch noch bei einigen anderen Festivals. Da frage ich mich so: Brauchen die denn jetzt noch einen Nachwuchspreis?
Hohnen: Na, das sehe ich natürlich aus einer ganz anderen Perspektive. Für uns ist das ein ganz tolles Jahr, ein ganz toller Jahrgang, muss man wirklich sagen. Unser Fokus liegt auf Abschlussfilmen von deutschsprachigen Filmhochschulen. Das heißt, wir nehmen die Abschlussfilme des Jahrgangs, wir haben keine Vorauswahl bezüglich: Hat dieser Film schon international Preise oder hat der eine Aufführung, hat der eine Kinoauswertung? Müssen wir alles nicht machen, finde ich wunderbar. Das sind Abschlussfilme von deutschsprachigen Filmhochschulen. "Shahada" kommt aus Ludwigsburg, "Picco" kommt aus München.
Und die Filme haben in diesem Jahr ein so großartiges Niveau, also sowohl in sagen wir mal cineastischer Hinsicht als auch was die Ernsthaftigkeit ihrer Themen angeht, dass wir uns eigentlich nur glücklich schätzen können. Wir hatten im letzten Jahr fast schon so ein bisschen das Gefühl, oh, aus den Filmhochschulen, da geht so ein bisschen die Krise, macht sich in den Filmhochschulen breit, es kommen weniger Filme und es kommen auch weniger intensive Filme. In diesem Jahr ist das Niveau einfach wirklich Cannes-Niveau.
Führer: Nach welchen Kriterien wählen Sie denn die Filme aus? Jetzt sagen Sie kurz: Qualität?
Hohnen: Nein. Wir wählen … zunächst mal werden bei uns ja alle Abschlussfilme angenommen, die aus deutschsprachigen Filmhochschulen kommen. All diese Filme – das waren in diesem Jahr etwa so um die 170, glaube ich – kommen bei uns in die Auswahl und werden verteilt auf drei Jurys. Wir haben eine Jury für Werbefilme, eine Jury für Dokumentarfilme und eine Jury für die drei Spielfilmlängenkategorien plus in diesem Jahr einen Sonderpreis Kamera. Und diese Jurys haben natürlich jeweils, jede Jury ist sozusagen ein eigener organischer Körper, wenn man so will. Und die sind bei uns im Allgemeinen so zusammengesetzt, dass die einen heterogenen Blick werfen auf das, was da kommt. Also keinen beteiligten Blick natürlich, sondern einen heterogenen Blick.
Das heißt, unsere Spielfilmjury zum Beispiel, weil Sie "Shahada" und "Picco" erwähnen, setzt sich zusammen aus einem Drehbuchautor, einer Medienjournalistin, zwei Schauspielern und einem Kameramann, und jeder von denen hat natürlich eine völlig unterschiedliche Perspektive auf das. Erstens wie sie Kino sehen, aber auch, was sie sehen wollen in einem Film, was wollen die mitnehmen aus einem Film. Und dieses fließt dann in einen sehr ausführlichen und langwierigen Austauschprozess zusammen und heraus kommen in diesem Jahr Nominierungen, die eigentlich … die Nominierungen decken gewissermaßen das Spektrum dessen ab, was wir in diesem Jahr eingereicht bekommen haben. Das ist nicht immer so.
Führer: Sprechen wir mal inhaltlich über das Spektrum: Manchmal ist es ja sehr verschieden und in manchen Jahren – ob jetzt beim First Steps Award oder auch bei der Berlinale oder der Goldenen Palme – hat man den Eindruck, da war jemand und ein Thema vorgegeben. Wie ist das in diesem Jahr, gibt es da so ein beherrschendes Thema?
Hohnen: Ja, es gibt ein beherrschendes Thema, über das sprechen glaube ich auch schon sehr viele Leute jetzt, und dieses beherrschende Thema ist Gewalt. Und zwar vor allem Gewalt unter männlichen Kindern und Jugendlichen, das ist eigentlich eins der Hauptthemen. Also ich kann als Beispiel … nehmen wir mal die drei nominierten fiktionalen Kurzfilme, die wir haben, drei Filme, in denen es eigentlich nur um die Entstehung von solchen Gewaltbeziehungen, Hierarchiebeziehungen innerhalb von Kinder- oder Jugendlichengruppen geht. Interessanterweise übrigens inszeniert alle drei Filme von Frauen.
Führer: Ich würde gern ein anderes Beispiel nehmen, Frau Hohnen, nämlich den Film "Picco", den wir vorhin schon erwähnt haben. Der beruht ja auf den Ereignissen im Gefängnis Siegburg, wo ein Jugendlicher qualvollst zu Tode gefoltert wurde, muss man wohl sagen. Und überall, wo dieser Film bisher gezeigt wurde, und das war ja eben auf mehreren Festivals bereits, war das Publikum wirklich zutiefst schockiert und hat diesen – im Pressetext heißt es auch so schön – unbarmherzig realistischen Film als Zumutung empfunden. Warum wird dann dieser Film für Ihr Festival nominiert und bekommt er durch Sie dann noch mal erhöhte Aufmerksamkeit?
Hohnen: Ja, also man muss einfach sagen, dass "Picco" ein Film ist, der also erst mal unter filmischen, handwerklichen Gesichtspunkten herausragend gut ist. Und dann zitieren Sie sozusagen, Sie zitieren den einen Teil der Reaktionen. Sie zitieren einige Zuschauer, die empört darauf reagieren. Ich bin ja bei solchen Vorführungen auch gewesen, ich hab den Film auch im Kino gesehen. Und ich kenne natürlich auch die andere Seite …
Führer: … ich hab nur die empörten Stimmen vernommen …
Hohnen: … ja, genau …
Führer: … die anderen waren vielleicht leiser.
Hohnen: Ich kenne die andere Seite eben auch sehr gut, und die andere Seite sagt: Das, was der Film da macht, ist natürlich – vor allem eben in seiner letzten halben Stunde – durchaus grenzwertig, weil er bebildert, wo man normalerweise sagen würde, hier habe ich verstanden, worum es geht, ich muss es nicht mehr gezeigt bekommen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass das, was der Film in der letzten halben Stunde auch vollzieht, ist eine Einbeziehung des Zuschauers in diese grundsätzlichen ethischen und moralischen Fragen: Wer ist Täter, wie wird ein Opfer ebenfalls zum Täter – das ist ja das eigentliche Thema des Films –, was eben in dieser Figur von Picco, der ja dann irgendwann eben aus der Opferrolle in die Täterrolle marschiert, aus der ich als Zuschauerin mich nicht mehr raushalten kann. Was würde ich tun an seiner Stelle? Das ist die eigentliche Frage. Und diese Frage, man kann durchaus darüber streiten, ob man das in dieser Konsequenz machen muss. Ich finde es legitim, dass ein junger Filmemacher sich entscheidet, es in dieser Konsequenz zu tun und auch die natürlich daraus resultierenden Reaktionen auszuhalten.
Führer: Sagt Andrea Hohnen, die Programmleiterin der Forst Steps Awards, die heute Abend in Berlin verliehen werden. Sie ist zu Gast in Deutschlandradio Kultur. Frau Hohnen, vor elf Jahren, als die First Steps Awards zum ersten Mal verliehen wurden, da war die Nachwuchsförderung des deutschsprachigen Films, sagen wir es mal korrekterweise, ja noch bitter nötig. Es gab einen großen Bedarf an Filmen. Gemessen am Bedarf hat man aber heute doch eher das Gefühl, es gibt viel zu viele Filme und auch viel zu viele Filmstudenten.
Also kaum hat es ein Film mal ins Kino geschafft – im letzten Jahr war das ja extrem –, war der schon wieder weg, also man hatte eigentlich gar keine Chance, ihn zu sehen. Und das tut ja eigentlich niemandem gut, also weder dem Film, noch dem Filmmacher, noch dem Publikum. Mal ketzerisch gefragt: Sollte man vielleicht die Zahl der Studienplätze einschränken? Oder sagen Sie, ach, das regelt der Markt dann schon nach Abschluss des Studiums?
Hohnen: Also ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass man es regeln könnte über die einschränkende Zahl der Studienplätze, weil diese Studienplätze sind schon eingeschränkt. Also wenn Sie auf eine Filmhochschule kommen, dann ist das Nadelöhr noch genau so groß wie vor zwölf Jahren. Es gibt natürlich Zusatzausbildungen, das merken wir sehr deutlich auch an der Zahl der Einreichungen. Wir haben in diesem Jahr zum ersten Mal tatsächlich gewisse Grenzen gesetzt bei den Einreichungen, wir nehmen nicht mehr jeden Bachelorabschluss aus jedem Extrastudiengang von Fachhochschulen. Grundsätzlich hat sich die Zahl der Studienabgänger ganz minimal erhöht im Verhältnis zu vor zehn Jahren.
Aber was sich völlig verändert hat, ist der Markt, in der Tat. Also ich wäre naiv, wenn ich nicht sagen würde, das ist ein risikoreiches Unterfangen, wenn heute sich jemand entscheidet, dieses Studium auf sich zu nehmen. Auf der anderen Seite ist es so: Die Filmhochschulen sind vergleichbar mit Kunsthochschulen. Also es ist eine künstlerische Ausbildung, und wenn Sie sich heutzutage durch das Nadelöhr einer Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule bewegen, weil sie Pianistin werden möchten, dann nehmen Sie ein ähnliches Risiko auf sich.
Es ist nicht so, dass wir die Frage, was passiert eigentlich mit denen, ignorieren. Im Gegenteil, wir haben von Anfang an die Wege, die Karrieren dieser Filmemacher verfolgt. Wir sind auch bis heute in der glücklichen Situation, sagen zu können, diejenigen, die bei uns nominiert waren, haben zu 95 Prozent ihren Weg tatsächlich gemacht. Aber, also niemand möchte jetzt hier verschleiern, dass dieser Weg mühseliger wird. Wann waren Sie das letzte Mal wirklich im Kino, wann war ich das letzte Mal wirklich im Kino? Schon da fängt es an. Wir gehen immer weniger ins Kino.
Führer: Aber noch mal zurück zu diesem Überangebot, was es zurzeit gibt, weil der Bedarf geringer geworden ist, weil es weniger Geld gibt, weil die Fernsehsender weniger einkaufen und so weiter: Was meinen Sie, ist da so ein Nachwuchspreis wie dieser First Steps Award gerade nötig, weil er dann noch mal die Spreu vom Weizen schon vorab trennt, oder macht er sich dann langsam überflüssig, weil er vielleicht falsche Hoffnung weckt?
Hohnen: Also ich muss doch glaube ich noch mal eben eine Anmerkung zu dem Überangebot machen. Das Überangebot entsteht auch daraus, also was Sie Überangebot nennen: Es ist ein sehr großes Angebot an deutschen Filmen auf dem Markt, seit die Ausbildung so gut geworden ist und seit der deutsche Film tatsächlich ein Selbstbewusstsein und auch ein unglaubliches Handlungsspektrum errungen hat. Das heißt, es gibt viel mehr sehr gute deutsche Filme. So viel zum Überangebot.
Das Andere ist: Brauchen wir immer noch einen Nachwuchspreis, der ja in einer ganz anderen Situation entstanden ist? Ich begreife First Steps immer so als einen Work in Progress. Also natürlich machen wir seit elf Jahren eine schöne Gala mit rotem Teppich für noch unbekannte junge Filmemacher, die, wie wir aber wissen, nach drei Jahren eigentlich schon bekannte Filmemacher sind. Wir bauen aber drumrum, zum Beispiel also auch durch diese Partnerschaft mit der Deutschen Filmakademie, immer stärker auch also zusätzliche Schienen, zusätzliche Veranstaltungsreihen auf, die eher in die Richtung zielen, zweite und dritte Schritte, die eher in die Richtung zielen, wie kann man dafür sorgen, dass ein Talent, das sich erwiesen hat über den Abschluss mit dem ersten Schritt, wie kann man so ein Talent sinnvoll begleiten, sinnvoller begleiten auf dem Weg in einen Markt, der immer schwieriger wird?
Wir können nicht grundsätzlich die Produktions- und Rezeptionssituation in Deutschland beeinflussen, aber wir können eine Stimme sein. Und ich finde das ganz wichtig, einfach auch noch mal zu sagen, das ist ja eine private Initiative, First Steps, das ist aus einer privaten Initiative, einer Wirtschaftsinitiative hervorgegangen. Und dass eine Wirtschaftsinitiative durch diese mindestens drei Krisen, die wir inzwischen in den elf Jahren hatten, das aufrechterhalten hat, allein das finde ich ein guter Grund, das fortzuführen. Also das ist einer der ganz wenigen Nachwuchspreise, die tatsächlich erhalten geblieben sind durch die ganzen Krisen hinweg und der weiterhin sagt, für uns ist hier der Nachwuchs der Star an diesem Abend und wir betrachten, also wir begleiten ihn sozusagen weiterhin bei dem, was er dann tut.
Führer: Andrea Hohnen, die Programmleiterin derFirst Steps Awards, die werden heute Abend für die besten Abschlussfilme deutschsprachiger Filmhochschulen in Berlin verliehen. Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Besuch, Frau Hohnen!
Hohnen: Danke schön!