"Wir wissen nicht, wohin das führen wird"
In einem Vortrag entwirft der US-Autor Richard Powers die Lebensgeschichte eines Mannes, der 1989 geboren wurde – also im Jahr, als das Zeitalter des Internet begann. "Da war ich 18 Jahre alt", sagte Powers auf die Frage wann er selbst seine Erfahrungen mit einem Computer gemacht hat.
Joachim Scholl: Über 300.000 mal hat sich sein Roman "Der Klang der Zeit" bei uns verkauft. Oft seither ist der amerikanische Schriftsteller Richard Powers auch vielen deutschen Lesern ein Begriff. Der Autor selbst ist ein Phänomen an Begabung. Er hätte genauso gut Physiker, Informatiker oder auch Musiker werden können. Er spielt hervorragend Cello, aber er hat sich für die Literatur entschieden. Eine Literatur, in der sich stets die vielen Wissensgebiete wiederfinden, für die sich Richard Powers interessiert. In diesen Wochen ist der Schritsteller in Berlin. Er lehrt als Gastprofessor an der Freien Universität und in einem Vortrag, den er morgen halten wird, entwirft er die Lebensgeschichte eines Mannes, der 1989 geboren wurde, im Jahr, als das Zeitalter des Internets begann. Wir haben Richard Powers getroffen, und ich habe Richard Powers zunächst gefragt, wann er das erste Mal vor einem Computer gesessen hat.
Richard Powers: Ich erinnere mich daran, da war ich 18 Jahre alt, das war mein erstes Jahr am College. Ich besuchte damals die Universität Illinois, eine großartige technische Universität, die auch eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Computertechnik gespielt hat. Wir saßen damals im Unterricht in der programmierten Unterweisung, also in einer Art Netzwerk, das über einen Computer gesteuert wurde. Ich lernte da auf diese Weise die Fächer Physik, Chemie und sogar Latein. Das war im Jahr 1975, also lange bevor das Internet aufkam. Wir hatten aber damals schon Dinge, die später dann im Internet wichtig wurden, wie zum Beispiel E-Mail, dann auch den Plasma-Touchscreen und wir hatten auch schon Spiele.
Joachim Scholl: Sicherlich war es damals schwer vorstellbar, was dann die Zukunft sein würde. Der Mensch, den Sie in Ihrem Vortrag schildern, wird ein komplett digitales Leben führen. Sie beschreiben es in vielen Facetten, und eine davon ist: Der Mann wird niemals ein gedrucktes, gebundenes Buch lesen. Und mehr noch: Er wird das nicht mal vermissen. Ist das unsere Zukunft?
Powers: Mein Held in diesem Buch, der 1989 geboren ist, wird wie die meisten seiner Altersgenossen sicherlich viele gedruckte Bücher gelesen haben, aber er wird keinerlei Notwendigkeit verspürt haben, jemals Bezug auf irgendwelche Auskunftswerke, auf Lexika oder vorgedruckte Wörterbücher zu nehmen. Wie nun die Zukunft tatsächlich aussehen wird, das weiß ich nicht.
Vor vier Jahren war es ja zum Beispiel in keiner Weise vorhersagbar, dass so etwas wie Twitter aufkommen würde. Auch die Umwälzungen des Social Networking waren nicht vorhersagbar. Wir wissen nicht, wohin das führen wird. Eines aber ist sicher: dass all diese Techniken unsere Fähigkeiten, mit Informationen umzugehen und sie auch zu manipulieren, ganz entscheidend vergrößert haben.
Doch kommen alle diese Fortschritte stets zu einem Preis, einem Preis, den man zahlen muss im Bereich Schreiben, im Bereich Gedächtnisleistungen und vielleicht auch mit einer Einbuße in den Fähigkeiten, direkt mit der Umgebung zu kommunizieren. Aber dies gilt für alle Techniken. Alle Techniken sind zu einem bestimmten Preis gekommen, einem Preis, den wir mit Einschränkung der Fähigkeiten zahlen oder auch mit einer Beeinträchtigung in unserem Leben.
Nehmen wir nur Schreiben selbst. Zu Beginn des Schreibens oder der Schrift konnte niemand vorhersehen, wie tief diese Technik die Regeln verändern und umgestalten würde, die unser Leben bestimmen. Diejenigen, die das Aufkommen des Schreibens erlebten, empfanden wohl vor allem den Verlust, der damit einhergehen würde, aber wir, die Späteren, die diese Techniken dann nutzten, die sehen natürlich vor allem die neuen Chancen und Möglichkeiten.
Scholl: Sie leben in Urbana, einem Ort in Illinois, mit der drittgrößten Universitätsbibliothek der USA, und man sagt, dass Sie quasi in dieser Bibliothek leben. Mittlerweile scannt Google die Weltliteratur, werden E-Books und Lesegeräte verkauft. Ihre jungen Studenten in Berlin, Richard Powers – Sie gehören genau zu dieser neuen Generation von Nutzern –, was sagen Sie, wenn einer fragt: Wozu brauchen wir eigentlich noch Bibliotheken, wenn alles Wissen nur ein Mausklick entfernt ist?
Powers: Dieses Korpus an Büchern, das Google einscannt, ist ja seinerseits eine Art Bücherei. Und ich glaube gar nicht so sehr, dass es darauf ankommt, wie diese Bücherei letztlich dargestellt wird. An der Universität, an der ich lehrte und lernte, hatten wir eine sehr gute Bibliothek, eine Bibliothek mit etwa zehn Millionen Bänden, ich glaube, die drittgrößte Forschungsbibliothek in den USA. Ich habe sehr viel Nutzen daraus gezogen, als ich meine Bücher schrieb.
Googles Projekt umfasst sehr viel mehr Bestände, ich glaube, sogar mehr als 100 Millionen Bände. Das ist also noch einmal eine ganz andere Dimension. Und zusätzlich werden all diese eingescannten Texte dann auch durchsuchbar sein, man wird sie analysieren können, man wird Abschnitte herausschneiden und anderswo wieder einfügen können – also eine gewaltige Erweiterung der Möglichkeiten, die man damit hat. Dennoch glaube ich, dass das Wesen einer solchen Bibliothek nicht im Umfang oder in den Gebrauchsmöglichkeiten oder in den Suchmöglichkeiten liegt, sondern ganz wesentlich in der Art, wie der Nutzer mit diesen Beständen umgeht.
Was macht er damit? Und dafür reicht eben keine Technik als solche aus. Wir brauchen ganz stark diesen Antrieb mithilfe unserer sozialen, unserer gemeinschaftsbildenden Fähigkeiten herauszufinden, was man mit all diesem aufgesammelten Wissen, das pilzartig zunimmt, machen kann. Und dafür brauchen wir vor allem Bildung. Wir müssen die Menschen instand setzen, sich zu überlegen, wozu das ganze Wissen gut ist, wie diese Informationen wirklich in brauchbare Erkenntnis umgewandelt werden.
Scholl: Richard Powers, der amerikanische Schriftsteller im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Das Internet hat eine eigene Realität geschaffen. Fakt und Fiktion, Wirklichkeit und Literatur, das ist das Thema auch Ihres Seminars jetzt in Berlin. Und da sind Sie exakt der Richtige, denn in Ihren Romanen spielen Fakten, Tatsachen, harte Wissenschaften eine große Rolle, ja, sind unerlässliches Fundament für die erzählte Geschichte. Was sind Sie eigentlich, Richard Powers? Ein literarischer Wissenschaftler oder ein wissenschaftlicher Romancier?
Powers: Ich bin ein Romanschriftsteller. Es stimmt, im Alter von 8 bis etwa 18 Jahren war ich sicher, dass ich einmal Naturwissenschaftler werden würde. Ich habe ja auch das Grundstudium Physik absolviert und ich glaubte auch, dass ich später mal praktizierender Physiker werden würde. Tatsächlich bin ich aber Schriftsteller geworden, aber ein Schriftsteller, der überzeugt ist in dem, was wir schreiben, in dem üblichen Geschäft der Literatur, nämlich uns selbst zu erklären, wer wir sind, können wir nur Erfolg haben, wenn wir auf die Welt schauen, wie wir sie bauen. Und diese Welt, wie sie heute ist, ist zu einem ganz bedeutenden Umfang durch die Naturwissenschaft, durch Technik geprägt, durch die Vorgaben, sodass man selbst am entlegensten Flecken der Erde nicht weiterkommt, wenn man nicht den Beitrag von Wissenschaft und Technik mitberücksichtigt.
Scholl: Es wird ein neues Buch von Ihnen erscheinen, "Generosity: An Enhancement", da geht es um die Suche nach dem Glücksgen. Genetik, das ist ein Gebiet, das Sie aktuell ganz besonders interessiert. Gibt es das, ein Glücksgen? Was werden wir da lesen?
Powers: Dieses Buch über Generosity – Großzügigkeit – ist eine Art Rückkehr. Nach zwei Jahrzehnten kehre ich zu dem Thema Genetik zurück, das mich auch bereits in meinem dritten Roman beschäftigt hatte. Damals glaubten die Genetiker, der Mensch habe etwa 120.000 Gene, mittlerweile sind wir herabgestuft worden auf etwa 20.000 Gene.
Was aber herausgekommen ist, ist, dass diese Gene sehr viel mehr Proteine in einem sehr komplizierten Zusammenspiel erzeugen, als wir bis dahin angenommen hatten. Und das ist eben vor allem durch dieses Genomprojekt herausgekommen. Vor diesem Projekt konnte man sich das noch nicht vorstellen. Jedenfalls glaubte man damals, es könnte für jede Eigenschaft eines Organismus genau ein Gen geben.
Heute wissen wir, dass dem nicht so sein kann, weil wir einfach viel zu wenige Gene haben, als dass jeweils ein Gen ein Merkmal ausprägen könnte. In der Öffentlichkeit herrscht aber immer noch dieser Glaube an einen starken Determinismus vor, dass also das Gen sozusagen die Eigenschaft bestimme. In meinem Buch geht es auch um diese Lücke zwischen dem Wissensstand in der Naturwissenschaft und dem allgemeinen Wähnen und Glauben in der Gesellschaft.
Dennoch herrscht da immer noch ein gewisses Dunkel, denn die empirischen Psychologen, die sich also damit befassen, wie ein Mensch grundsätzlich reagiert oder aufgebaut ist, die sagen uns, dass es eine Art Bestimmungspunkt gibt, der in sehr früher Kindheit liegt. Sehr früh im Leben schon scheint sich so etwas fest einzupegeln, das dann die gesamte spätere Grundgestimmtheit des Menschen festlegen wird.
Mütter scheinen das zu wissen. Sie scheinen zu ahnen, dass ihr Kind eine bestimme Neigung dazu hat, glücklich zu sein oder niedergeschlagen oder ängstlich. Das scheint auch nur innerhalb enger Grenzen dann noch nach oben oder nach unten veränderbar zu sein. Wir können das natürlich noch ein bisschen beeinflussen, aber ich nehme an, 50 bis 80 Prozent dieser Grundgestimmtheit des Menschen, also ob er sich wohlfühlt oder wie er sich eben grundsätzlich einschätzt, die sind wohl genetisch vorherbestimmt. Natürlich die Art und Weise, wie wir dann unserem Dasein Sinn verleihen, was wir daraus machen, das liegt ganz bei uns.
Scholl: Viele deutsche Leser, Richard Powers, lieben Ihren Roman "Der Klang der Zeit". Kritiker haben das Buch mit Thomas Manns "Doktor Faustus" verglichen, weil Sie auch so viel über Musik wissen, sie auch selber spielen. Musik, hat einmal der Philosoph Schopenhauer gesagt, das sei die wahre Metaphysik. Welche Bedeutung hat für Sie Musik?
Powers: Je mehr ich darüber nachdenke, was die Musik ist, desto geheimnisvoller, desto undurchdringlicher erscheint sie mir. Sie mag eine Metaphysik sein, ist aber für mich immer noch ein großes Rätsel geblieben. Sie ist ein unmittelbarer Zugang ins Innerste unseres Gehirns, in die tiefsten Gefühle, von Verzweiflung über Sehnsucht bis hin zum Gefühl des Erhabenen. Warum das so ist, das ist eben das große Mysterium. Philosophen haben sich darum bemüht, einige habe ich gelesen. Ich habe Naturwissenschaftler, Evolutionsbiologen gelesen, die versucht haben, eine Erklärung zu liefern, weshalb dieses offenbar zunächst mal praktisch völlig zweckfreie Instrument, eben die Musik, eine so gewaltige Auswirkung haben kann, dass es uns bestimmt. Und ich muss sagen, die Erklärungen haben mich bisher nicht überzeugen können. Es bleibt (…).
Richard Powers: Ich erinnere mich daran, da war ich 18 Jahre alt, das war mein erstes Jahr am College. Ich besuchte damals die Universität Illinois, eine großartige technische Universität, die auch eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Computertechnik gespielt hat. Wir saßen damals im Unterricht in der programmierten Unterweisung, also in einer Art Netzwerk, das über einen Computer gesteuert wurde. Ich lernte da auf diese Weise die Fächer Physik, Chemie und sogar Latein. Das war im Jahr 1975, also lange bevor das Internet aufkam. Wir hatten aber damals schon Dinge, die später dann im Internet wichtig wurden, wie zum Beispiel E-Mail, dann auch den Plasma-Touchscreen und wir hatten auch schon Spiele.
Joachim Scholl: Sicherlich war es damals schwer vorstellbar, was dann die Zukunft sein würde. Der Mensch, den Sie in Ihrem Vortrag schildern, wird ein komplett digitales Leben führen. Sie beschreiben es in vielen Facetten, und eine davon ist: Der Mann wird niemals ein gedrucktes, gebundenes Buch lesen. Und mehr noch: Er wird das nicht mal vermissen. Ist das unsere Zukunft?
Powers: Mein Held in diesem Buch, der 1989 geboren ist, wird wie die meisten seiner Altersgenossen sicherlich viele gedruckte Bücher gelesen haben, aber er wird keinerlei Notwendigkeit verspürt haben, jemals Bezug auf irgendwelche Auskunftswerke, auf Lexika oder vorgedruckte Wörterbücher zu nehmen. Wie nun die Zukunft tatsächlich aussehen wird, das weiß ich nicht.
Vor vier Jahren war es ja zum Beispiel in keiner Weise vorhersagbar, dass so etwas wie Twitter aufkommen würde. Auch die Umwälzungen des Social Networking waren nicht vorhersagbar. Wir wissen nicht, wohin das führen wird. Eines aber ist sicher: dass all diese Techniken unsere Fähigkeiten, mit Informationen umzugehen und sie auch zu manipulieren, ganz entscheidend vergrößert haben.
Doch kommen alle diese Fortschritte stets zu einem Preis, einem Preis, den man zahlen muss im Bereich Schreiben, im Bereich Gedächtnisleistungen und vielleicht auch mit einer Einbuße in den Fähigkeiten, direkt mit der Umgebung zu kommunizieren. Aber dies gilt für alle Techniken. Alle Techniken sind zu einem bestimmten Preis gekommen, einem Preis, den wir mit Einschränkung der Fähigkeiten zahlen oder auch mit einer Beeinträchtigung in unserem Leben.
Nehmen wir nur Schreiben selbst. Zu Beginn des Schreibens oder der Schrift konnte niemand vorhersehen, wie tief diese Technik die Regeln verändern und umgestalten würde, die unser Leben bestimmen. Diejenigen, die das Aufkommen des Schreibens erlebten, empfanden wohl vor allem den Verlust, der damit einhergehen würde, aber wir, die Späteren, die diese Techniken dann nutzten, die sehen natürlich vor allem die neuen Chancen und Möglichkeiten.
Scholl: Sie leben in Urbana, einem Ort in Illinois, mit der drittgrößten Universitätsbibliothek der USA, und man sagt, dass Sie quasi in dieser Bibliothek leben. Mittlerweile scannt Google die Weltliteratur, werden E-Books und Lesegeräte verkauft. Ihre jungen Studenten in Berlin, Richard Powers – Sie gehören genau zu dieser neuen Generation von Nutzern –, was sagen Sie, wenn einer fragt: Wozu brauchen wir eigentlich noch Bibliotheken, wenn alles Wissen nur ein Mausklick entfernt ist?
Powers: Dieses Korpus an Büchern, das Google einscannt, ist ja seinerseits eine Art Bücherei. Und ich glaube gar nicht so sehr, dass es darauf ankommt, wie diese Bücherei letztlich dargestellt wird. An der Universität, an der ich lehrte und lernte, hatten wir eine sehr gute Bibliothek, eine Bibliothek mit etwa zehn Millionen Bänden, ich glaube, die drittgrößte Forschungsbibliothek in den USA. Ich habe sehr viel Nutzen daraus gezogen, als ich meine Bücher schrieb.
Googles Projekt umfasst sehr viel mehr Bestände, ich glaube, sogar mehr als 100 Millionen Bände. Das ist also noch einmal eine ganz andere Dimension. Und zusätzlich werden all diese eingescannten Texte dann auch durchsuchbar sein, man wird sie analysieren können, man wird Abschnitte herausschneiden und anderswo wieder einfügen können – also eine gewaltige Erweiterung der Möglichkeiten, die man damit hat. Dennoch glaube ich, dass das Wesen einer solchen Bibliothek nicht im Umfang oder in den Gebrauchsmöglichkeiten oder in den Suchmöglichkeiten liegt, sondern ganz wesentlich in der Art, wie der Nutzer mit diesen Beständen umgeht.
Was macht er damit? Und dafür reicht eben keine Technik als solche aus. Wir brauchen ganz stark diesen Antrieb mithilfe unserer sozialen, unserer gemeinschaftsbildenden Fähigkeiten herauszufinden, was man mit all diesem aufgesammelten Wissen, das pilzartig zunimmt, machen kann. Und dafür brauchen wir vor allem Bildung. Wir müssen die Menschen instand setzen, sich zu überlegen, wozu das ganze Wissen gut ist, wie diese Informationen wirklich in brauchbare Erkenntnis umgewandelt werden.
Scholl: Richard Powers, der amerikanische Schriftsteller im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Das Internet hat eine eigene Realität geschaffen. Fakt und Fiktion, Wirklichkeit und Literatur, das ist das Thema auch Ihres Seminars jetzt in Berlin. Und da sind Sie exakt der Richtige, denn in Ihren Romanen spielen Fakten, Tatsachen, harte Wissenschaften eine große Rolle, ja, sind unerlässliches Fundament für die erzählte Geschichte. Was sind Sie eigentlich, Richard Powers? Ein literarischer Wissenschaftler oder ein wissenschaftlicher Romancier?
Powers: Ich bin ein Romanschriftsteller. Es stimmt, im Alter von 8 bis etwa 18 Jahren war ich sicher, dass ich einmal Naturwissenschaftler werden würde. Ich habe ja auch das Grundstudium Physik absolviert und ich glaubte auch, dass ich später mal praktizierender Physiker werden würde. Tatsächlich bin ich aber Schriftsteller geworden, aber ein Schriftsteller, der überzeugt ist in dem, was wir schreiben, in dem üblichen Geschäft der Literatur, nämlich uns selbst zu erklären, wer wir sind, können wir nur Erfolg haben, wenn wir auf die Welt schauen, wie wir sie bauen. Und diese Welt, wie sie heute ist, ist zu einem ganz bedeutenden Umfang durch die Naturwissenschaft, durch Technik geprägt, durch die Vorgaben, sodass man selbst am entlegensten Flecken der Erde nicht weiterkommt, wenn man nicht den Beitrag von Wissenschaft und Technik mitberücksichtigt.
Scholl: Es wird ein neues Buch von Ihnen erscheinen, "Generosity: An Enhancement", da geht es um die Suche nach dem Glücksgen. Genetik, das ist ein Gebiet, das Sie aktuell ganz besonders interessiert. Gibt es das, ein Glücksgen? Was werden wir da lesen?
Powers: Dieses Buch über Generosity – Großzügigkeit – ist eine Art Rückkehr. Nach zwei Jahrzehnten kehre ich zu dem Thema Genetik zurück, das mich auch bereits in meinem dritten Roman beschäftigt hatte. Damals glaubten die Genetiker, der Mensch habe etwa 120.000 Gene, mittlerweile sind wir herabgestuft worden auf etwa 20.000 Gene.
Was aber herausgekommen ist, ist, dass diese Gene sehr viel mehr Proteine in einem sehr komplizierten Zusammenspiel erzeugen, als wir bis dahin angenommen hatten. Und das ist eben vor allem durch dieses Genomprojekt herausgekommen. Vor diesem Projekt konnte man sich das noch nicht vorstellen. Jedenfalls glaubte man damals, es könnte für jede Eigenschaft eines Organismus genau ein Gen geben.
Heute wissen wir, dass dem nicht so sein kann, weil wir einfach viel zu wenige Gene haben, als dass jeweils ein Gen ein Merkmal ausprägen könnte. In der Öffentlichkeit herrscht aber immer noch dieser Glaube an einen starken Determinismus vor, dass also das Gen sozusagen die Eigenschaft bestimme. In meinem Buch geht es auch um diese Lücke zwischen dem Wissensstand in der Naturwissenschaft und dem allgemeinen Wähnen und Glauben in der Gesellschaft.
Dennoch herrscht da immer noch ein gewisses Dunkel, denn die empirischen Psychologen, die sich also damit befassen, wie ein Mensch grundsätzlich reagiert oder aufgebaut ist, die sagen uns, dass es eine Art Bestimmungspunkt gibt, der in sehr früher Kindheit liegt. Sehr früh im Leben schon scheint sich so etwas fest einzupegeln, das dann die gesamte spätere Grundgestimmtheit des Menschen festlegen wird.
Mütter scheinen das zu wissen. Sie scheinen zu ahnen, dass ihr Kind eine bestimme Neigung dazu hat, glücklich zu sein oder niedergeschlagen oder ängstlich. Das scheint auch nur innerhalb enger Grenzen dann noch nach oben oder nach unten veränderbar zu sein. Wir können das natürlich noch ein bisschen beeinflussen, aber ich nehme an, 50 bis 80 Prozent dieser Grundgestimmtheit des Menschen, also ob er sich wohlfühlt oder wie er sich eben grundsätzlich einschätzt, die sind wohl genetisch vorherbestimmt. Natürlich die Art und Weise, wie wir dann unserem Dasein Sinn verleihen, was wir daraus machen, das liegt ganz bei uns.
Scholl: Viele deutsche Leser, Richard Powers, lieben Ihren Roman "Der Klang der Zeit". Kritiker haben das Buch mit Thomas Manns "Doktor Faustus" verglichen, weil Sie auch so viel über Musik wissen, sie auch selber spielen. Musik, hat einmal der Philosoph Schopenhauer gesagt, das sei die wahre Metaphysik. Welche Bedeutung hat für Sie Musik?
Powers: Je mehr ich darüber nachdenke, was die Musik ist, desto geheimnisvoller, desto undurchdringlicher erscheint sie mir. Sie mag eine Metaphysik sein, ist aber für mich immer noch ein großes Rätsel geblieben. Sie ist ein unmittelbarer Zugang ins Innerste unseres Gehirns, in die tiefsten Gefühle, von Verzweiflung über Sehnsucht bis hin zum Gefühl des Erhabenen. Warum das so ist, das ist eben das große Mysterium. Philosophen haben sich darum bemüht, einige habe ich gelesen. Ich habe Naturwissenschaftler, Evolutionsbiologen gelesen, die versucht haben, eine Erklärung zu liefern, weshalb dieses offenbar zunächst mal praktisch völlig zweckfreie Instrument, eben die Musik, eine so gewaltige Auswirkung haben kann, dass es uns bestimmt. Und ich muss sagen, die Erklärungen haben mich bisher nicht überzeugen können. Es bleibt (…).