Wir und die Unzivilisierten dieser Welt

Von Burkhard Müller-Ullrich |
Neulich schaute uns die Steinzeit aus der Zeitung an. Es war ein Foto von einer Handvoll Menschen, die angeblich ohne jeglichen Kontakt mit der sogenannten Zivilisation im sogenannten Amazonas-Urwald leben.
Die vielen Relativierungen können hier nicht schaden, denn heutzutage muss man ja gewärtig sein, dass sich rot und schwarz bemalte Ureinwohner plötzlich als Schauspieler entpuppen, die mit der globalen Medienmaschinerie bloß ein bisschen Schabernack treiben wollten. Doch selbst wenn wir diese Möglichkeit ausnahmsweise außer Acht lassen, sind wir mit den vielen Relativierungen bereits mitten im Thema.

Denn die Existenz von frisch entdeckten Wilden auf unserer lieben Erde stellt eine gewaltige Herausforderung der Zivilisation und aller sie begründenden politischen und philosophischen Konzepte dar. Und zwar eine Herausforderung, der wir nicht gewachsen sind. Wäre es anders, dürfte sich die öffentliche Reaktion auf die Entdeckung eines bis jetzt vollkommen isoliert lebenden Indianerstammes in Brasilien nicht in zoologisch anmutenden Artenschutzforderungen erschöpfen. Sondern dann müsste man bei diesen Wilden sofort nachsehen, wie edel sie wirklich sind. Ob sie ihre Frauen nicht steinigen, die Genitalien ihrer Töchter nicht verstümmeln, ihre Kinder nicht zwangsverheiraten, ehrenmorden oder zum Geschlechtsverkehr zwingen. Denn es lässt sich keineswegs ausschließen, dass es in den Palmhütten am Amazonas ähnlich zugeht wie in Fritzls Keller.

Ja, es ist sogar stark anzunehmen, dass die Primitivität des Dschungellebens mit unsäglichem Leid verbunden ist. Bestimmt herrscht unter den kriegerisch bemalten Waffenträgern, die mit Speeren auf das Flugzeug mit dem Fotografen zielen, unhinterfragt das Recht des Stärkeren. Bestimmt ziehen sich die Jugendlichen nicht aus eigenem Entschluss die Unterlippen derart in die Breite und die Länge, dass eine fast handtellergroße Holzscheibe hineinpasst. Wo bleibt denn da der freie Wille, der den Menschen zum Menschen macht und nach Ansicht aller Aufklärer die Grundlage der Menschenrechte ist?

Der Unterschied zum Leid der Fritzl-Kinder besteht allerdings darin, dass es keine Polizei gibt, die dem Spuk ein Ende macht, und keine Therapeuten, welche die Amazonas-Fritzls behutsam in die Welt der Gegenwart geleiten. Ihr Schicksal sieht vielmehr so aus, wie wenn jemand vom Jugendamt den Kopf durch die Betontür von Fritzls Horrorkeller steckte und den Bunkerinsassen gemütlich zuriefe: „Was für eine bewundernswerte Einrichtung habt ihr hier unten! Na, dann weiterhin viel Spaß!“ Der Vergleich ist überhaupt nicht übertrieben, schließlich brauste das Flugzeug der brasilianischen Indianerstiftung Funai genau über die Köpfe der angeblich noch unbekannten Stammesleute hinweg, drehte bei und entfernte sich auf Nimmerwiedersehen.

Der Zweck der ganzen Foto-Expedition bestand nämlich darin, die Isolation der Ureinwohner aufrecht zu erhalten. Mit den Bildern sollte vorgeführt werden, was für eine pittoreske Sonderkultur von der Auslöschung bedroht wäre, wenn sie wirklich in Direktkontakt mit der Zivilisation geriete. Die Gefahr ist real: entweder kommen Krankheiten oder Goldsucher oder Holzfäller und Straßenbauer – alles Gift für steinzeitliche Lebensformen. Doch das entscheidende Problem ist: Wie wertvoll sind steinzeitliche Lebensformen, wenn sie den universellen Menschenrechten krass entgegenstehen?

Wie wertvoll sind mittelalterliche Lebensformen, die sich in großen Teilen Afrikas erhalten haben und in der arabischen Welt immer weiter ausbreiten? Kann man auch die menschenrechtswidrigen Gesetze des Islam mit Artenschützer-Augen ansehen und ihre Abscheulichkeit in kulturelle Eigenwertigkeit umdeuten? Man kann nicht, aber vielleicht muss man. Oder anders gesagt: vielleicht gibt es nur ein Recht, das weltweit durchsetzbar ist – das Hausrecht.

In der Tat lassen sich einige Aspekte des mittlerweile weltweit tobenden Kampfes der Kulturen besser über das Hausrecht lösen. Das bedeutet freilich einen Verzicht auf den Universalitätsanspruch einiger Errungenschaften der abendländischen Philosophiegeschichte. Es bedeutet einen Verzicht auf die Idee, überall das Gute mit Gewalt durchzusetzen. Wenn schon die Menschenrechte im Iran keine Geltung besitzen, dann dürfen sich auch die indigenen Stämme im brasilianischen Urwald getrost selbst überlassen bleiben. Es ist ja nicht so, dass die islamischen Völker oder die steinzeitlichen Indianer danach lechzen, von ihrer Zurückgebliebenheit befreit zu werden.

Umgekehrt gilt dann aber, dass sich unsere westliche Zivilisation auf ihrem angestammten Territorium nicht lange mit absurden Multikulti-Ansprüchen auseinandersetzen muss. Wenn Allahs Anhänger mit ihrer Kopf- und Hand-Abhack-Mentalität im Anflug sind, dann legen wir Kriegsbemalung auf und erheben unsere Speere.

Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin ‘Bücherpick’ und Leiter der Redaktion „Kultur heute“ beim Deutschlandfunk. Mitglied der Autorengruppe „Achse des Guten“, deren Website www.achgut.de laufend aktuelle Texte publiziert.
Burkhard Müller-Ullrich
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