„Wir sind nicht dazu da, Massen für die Wirtschaft auszubilden“

Horst Hippler im Gespräch mit Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler |
An den großen Forschungsuniversitäten sei ein anderes Profil gefragt als an den Fachhochschulen, von denen zwei Drittel aller deutschen Ingenieure kommen, sagt Professor Horst Hippler, Präsident des Karlsruher Instituts für Technologie. Generell müsse der Diplom-Ingenieur als Titel und Studienabschluss erhalten bleiben, da er eine exzellente Marke sei.
Deutschlandradio Kultur: Sie kämpfen dafür, dass der Diplom-Ingenieur als Titel und Studienabschluss erhalten bleibt. Warum so rückwärts gewandt?

Horst Hippler Das ist überhaupt nicht rückwärts gewandt, das ist vorwärts gewandt. Es geht nämlich darum, eine exzellente Marke in der deutschen Ingenieurausbildung zu erhalten und sie nicht einfach zu verschenken. Wir möchten nicht unbedingt zurück zu den klassischen Diplomstudiengängen. Bachelor-, Master-Programme sind mit Diplomingenieur vereinbar. Die Österreicher machen uns das vor. Es kann nicht sein, dass der gute deutsche Diplom-Ingenieur-Titel nachher nur noch von Österreichern verliehen wird.

Deutschlandradio Kultur: Aber sagen Sie: Geht’s da nur um den Titel Diplom-Ingenieur, weil sich das so gut anhört, zumindest in deutschen Landen? Oder geht es da auch um Inhalte, die Sie möglicherweise in den anderen Studiengängen nicht realisiert sehen?

Horst Hippler: Nein, es geht nur um den Titel. Es geht um die Marke, die man nicht wegschmeißt, wenn man sozusagen Inhalte verändert und wenn man etwas in einer Programmatik verändert. Ich sage immer: Die großen Autofirmen haben jetzt Hybrid-Fahrzeuge und bleiben trotzdem bei ihrer Marke und benennen die nicht um.

Deutschlandradio Kultur: Aber Bachelor und Master und dann Doktorstudiengang hatten ja auch eine Studienreform der Inhalte zum Ziel. Haben Sie da nicht ein Problem? Denn Sie haben ja sehr viele Studienabbrecher.

Horst Hippler: Also, einmal möchte ich das Wort „Doktor-Studiengang“ gleich zurückweisen, weil, das sehen wir gerade im Ingenieurbereich anders. Die Promotion ist die erste wissenschaftliche Arbeit, die man als fertiger Ingenieur anfertigt. Das ist kein Studium mehr. Das ist natürlich eine wissenschaftliche Leistung, die aber nicht mit einem Studium gleichgesetzt werden darf.
Deutschlandradio Kultur: Aber das wird doch als Graduiertenstudium noch manchmal hinten draufgesetzt.

Horst Hippler: Das ist kein Studium. Gerade im Ingenieurbereich sind alle Leute voll bezahlt. Sie haben alle eine volle Mitarbeiterstelle. Insofern haben sie einen vollen Auftrag, in Forschung und Lehre tätig zu sein, und studieren nicht. Wir haben in Deutschland, glaube ich, noch kein Bezahlstudium.

Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem noch mal zu der Frage: Sie haben hohe Abbrecherquoten. Sie haben auch einen Zulauf. Irgendwie scheint doch dieses Studium reformbedürftig zu sein. Oder liegen wir da völlig falsch?

Horst Hippler: Nein, Sie liegen da nicht falsch. Wir haben hohe Schwundquoten, nicht Abbrecherquoten. Das ist ein bisschen was anderes.

Deutschlandradio Kultur: „Rausprüfen“ nennt man das auch.

Horst Hippler: Weil man nicht genau weiß, wo die Leute hingegangen sind. Die große Problematik ergibt sich, glaub ich, dadurch, dass die Auswahl eines Studiengangs im Wesentlichen nur von einem Studierenden gemacht wird, ohne zu wissen, was ihn tatsächlich erwartet. Das ist unser Problem. In Fächern, wo wir Selbstauswahl haben. Insbesondere bei den Wirtschaftsseminaren in Karlsruhe haben wir fast keine Schwundquote mehr. Wenn jeder sozusagen freien Zugang hat zu jedem Studium, dann probiert man was und dann merkt man, man ist da auf einmal überfordert. Das ist die Situation, in der wir standen. Das wird sich jetzt ändern, glaub ich.

Deutschlandradio Kultur: Aber ist das alte Ingenieurstudium nicht auch etwas abschreckend für junge Leute, weil sie gleich mit Mathematik und Physik voll losgehen, aber die Praxis, wo das mal hinführen soll – zum Maschinenbau, in die Elektrotechnik –, das kommt erst später dran.

Horst Hippler: Natürlich muss man früh genug zeigen, was das Fach ist. Aber ohne Mathematik und ohne Grundkenntnisse in Mathematik kann man, glaub ich, kein wissenschaftlicher Ingenieur mehr werden. Und das ist das Ziel an einer Forschungsuniversität. Wir haben Fachhochschulen, die sich anders aufgestellt haben. Die haben ein anderes Profil.

Deutschlandradio Kultur: Wieso hat man dann den Bachelor? Der Bachelor sagt ja, er soll berufsorientiert sein. Die erste Phase des Studiums, also auch die Phase zum Warmlaufen, soll sich schon an der Praxis orientieren.

Horst Hippler: Das ist eine Idee, der wir nicht so ganz folgen können, weil wir glauben, die Ausbildung gerade zu einem Ingenieur an einer Forschungsuniversität bedeutet eine fünfjährige Ausbildung mindestens. Ich halte trotzdem das System Bachelor/ Master für geeigneter, für besser als das klassische Vordiplom-Diplom-Studium, weil ein akademischer Zwischenabschluss gegeben wird. Und mit diesem Zwischenabschluss, der sozusagen eine Qualität hat, kann man sich umorientieren. Man kann schauen, bin ich genau richtig oder bin ich falsch oder wechsle ich von einer Richtung in eine andere. Das ist viel, viel besser als vorher. Man hat etwas in der Hand. Mit einem Vordiplom war man immer noch gar nichts. Man hatte noch gar nichts.

Wenn man sich entscheidet, dann zu wechseln oder zu sagen, ich gehe dann an eine andere Hochschule oder ich wechsele das Fach oder gehe direkt in die Wirtschaft, dann ist das in Ordnung. Aber dass man eine Ausbildung bekommen hat, die einer Berufsausbildung entspricht, ist nicht wahr. Da gibt’s einen großen Unterschied. Man ist vorbereitet für das folgende Studium im Masterbereich.

Deutschlandradio Kultur: Dann will ich noch mal nachfragen: Hier am Karlsruher Institut für Technologie. Sie sagten, Ihre Studenten brauchen diese Grundlagen beispielsweise in Mathematik und Physik. Sind das dann am Schluss andere Studenten mit Abschluss als beispielsweise an anderen Universitäten, wo stärker dieser Praxisbezug da ist? Muss man da genau differenzieren?

Horst Hippler: Ich glaube, bei den Technischen Universitäten hier in Deutschland ist das alles sehr ähnlich. Die Fachhochschulen haben ein anderes Profil. Die sind natürlich in diesem Sinne keine Forschungsuniversität.

Deutschlandradio Kultur: Aber wenn Sie bedenken, dass im Gegensatz zu früher heute ungefähr 40 Prozent der jungen Leute eines Jahrgangs Abitur machen und sich um ein Studium bewerben, und gesetzt den Fall, Sie wollten unter diesen jungen Leuten, gerade unter den jungen Frauen, viele Aspiranten werben, müssten Sie dann nicht Ihr Studium anders aufbauen als es früher war?

Horst Hippler: Das Studium ist anders aufgebaut. Trotzdem kann man auf die Grundausbildung in Mathematik nicht verzichten, weil sie an den Schulen gar nicht mehr geleistet wird. Da gibt es ein großes Manko. Was passiert ist, ist, dass viele Universitäten jetzt Vorkurse eingeführt haben, um das nachzuholen, was man als Basis tatsächlich braucht. Wir haben insbesondere in Deutschland einen großen Unterschied in den mathematischen Kenntnissen der Abiturienten durch die Konstruktion der unterschiedlichen Bundesländer und durch die unterschiedlichen Anforderungen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben es ja sicherlich an unseren Fragen schon gemerkt, welchen Vorwurf wir bedienen. Der kommt von der Wirtschaft, von den Sponsoren der Wirtschaft, dem Stifterverband für die Wissenschaft. Die eben hat Ihnen vorgeworfen, Sie seien zu abgehoben, Sie seien zu wenig anwendungsorientiert. Also, noch mal mit der klaren Marke der Kritik: Was haben Sie denen geantwortet?

Horst Hippler: Wir haben geantwortet: Wir sind ganz klar eine Universität, die forschungsintensiv ist. Wir sind nicht dazu da, Massen für die Wirtschaft auszubilden. Dafür haben wir Fachhochschulen. Zwei Drittel aller deutschen Ingenieure kommen von Fachhochschulen. Und an den großen Forschungsuniversitäten ist ein anderes Profil. Wir brauchen auch einen anderen Nachwuchs, auch für die Wirtschaft, nämlich den wissenschaftlich qualifizierten Nachwuchs. Das sind die Personen, die wissenschaftliche Methoden erlernt haben, um Probleme zu lösen, von denen die Wirtschaft noch gar nicht weiß, dass sie existieren.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben vor wenigen Minuten gesagt, dass sich in Bezug auf Abbrecherquoten in Zukunft was ändern wird. Gleichzeitig sagen Sie jetzt, wir brauchen natürlich die Grundausbildung in Mathematik und Physik. Aber irgendwie haben Sie da einen Gedanken nicht zu Ende geführt. Was heißt das denn, „es wird sich ändern“? Sie werden nicht mehr so viele auf der Strecke verlieren?

Horst Hippler: Ich denke mal, man muss sehr viel intensiver in Tutorien begleiten. Man muss sich sehr viel intensiver um die Individuen kümmern. Jeder lernt ein bisschen anders. Er braucht andere Kurse, andere Hilfe, andere Unterstützungen. Und in diesem Sinne wird sich das Studium ändern müssen. Aber das kostet Geld. Denn man braucht eine bessere Betreuungsrelation. Man kann in der jetzigen Zeit, wenn man in Richtung Massenuniversität geht, nicht glauben, dass das zum Nulltarif ist. Man braucht mehr Geld dafür. Man braucht mehr Tutorien, mehr Personal. Und man braucht vor allen Dingen auch noch andere Konzepte, die sozusagen unterstützen und tutoriell unterstützen. Und wir bauen gerade hier in Karlsruhe und in Stuttgart an den beiden Technischen Universitäten mit Hilfe des Landes so etwas auf.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja fusioniert hier in Karlsruhe, die Universität Karlsruhe mit dem Forschungszentrum Karlsruhe, und haben eine Großforschungseinrichtung dadurch geschaffen. Diesen Forschungsinstitutionen wirft man ja immer vor, sie würden zu sehr auf ihre Forschungsexzellenz sehen und die Lehre vernachlässigen. Ist das nicht auch richtig, dass jetzt die Reform der Lehre, über die immer wieder diskutiert wird, auch im Rahmen der Hochschulrektorenkonferenz, hinten runter fällt, vielleicht sogar aus finanziellen Gründen?

Horst Hippler: Die Frage, ob die Forschung sozusagen die Lehre wirklich dominiert: Ich glaube, das ist nicht der Fall. Wenn man mal genau hineinschaut, gerade in die Natur- und Ingenieurwissenschaften in Deutschland, ist die Lehre in der Vergangenheit exzellent gewesen. Wenn man mal hinschaut, wo wäre sozusagen der Technologiestandort Deutschland, wo wäre er, wenn wir dort keine sehr, sehr gute Ausbildung hätten? Wir wären im Nirwana. Es kann also nicht so schlimm sein.

Und unsere Absolventen werden, wenn sie ein Postdoc suchen in den USA in den Naturwissenschaften oder in den Ingenieurwissenschaften mit Handkuss genommen. Also, das ist wohl sicherlich nicht so. Es gibt natürlich Studiengänge und es hat Studiengänge gegeben, da war Modul Einführung, glaube ich, Pflicht und wichtig, aber Naturwissenschaften und Ingenieure hatten schon immer Module, die aufeinander aufbauten. Also, für die war das eigentlich gar nichts Neues. Was neu dazu gekommen ist: Ich glaube, der Bachelor-Abschluss ist prima, ist was Tolles. Und wenn eine Hochschule oder eine Universität keine gute Lehre anbietet, wird sie Probleme haben, auch eigenen guten Nachwuchs zu bekommen. Also, das geht immer Hand in Hand.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt ist es doch so, dass die deutsche Wirtschaft seit Monaten wieder jammert. Sie sagt, wir haben Fachkräftemangel, uns fehlt’s an Ingenieuren. Möglicherweise haben wir Ingenieure, aber die haben die falsche Ausbildung. – Wenn Sie optimal ausbilden, dann könnte man doch vielleicht eine mutige Prognose wagen und sagen: Na, wartet mal ab, in zwei, drei Jahren haben wir das gelöst, weil wir hier an der Universität die richtigen Leute mit den richtigen Fächern ausbilden. Können Sie das versprechen?

Horst Hippler: Nein, das kann ich nicht versprechen, weil natürlich die Ausbildungskapazität längst nicht der Nachfrage in Deutschland entspricht. Da gibt es ein großes Problem. Baden-Württemberg hat aufgrund dessen ja die Fachhochschulen ausgebaut, um dem doppelten Abiturjahrgang gerecht zu werden, und mehr Fachhochschulstudienplätze geschaffen. Jetzt kommen die Universitäten und ziehen ein bisschen nach in den MINT-Fächern. Das sind die Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Ich denke aber, die Ausbildungskapazität wird der Nachfrage bei Weitem nicht gerecht werden. Wir brauchen auch Ingenieure aus anderen Ländern, aus anderen Ausbildungspotenzialen. Wir haben im Moment das Geld nicht, um diese Menge an Ingenieuren tatsächlich ausbilden zu können. Und natürlich bin ich nicht so sicher, ob wir auch die Leute haben, die Menschen haben, genügend haben, die sich für diese Fächer so interessieren, dass man sie da auch ausbilden kann.

Deutschlandradio Kultur: Wie wollen Sie das bekommen, dass die jungen Leute nicht an den MINT-Fächern, besonders die jungen Frauen nicht an den MINT-Fächern vorbeigehen? Was tun Sie, um die jungen Leute zu umwerben für die Naturwissenschaften, für den Ingenieurberuf?

Horst Hippler: Also, ich glaube, das ist eher eine Frage der Gesellschaft. Das ist nicht mehr eine Frage an der Universität. Die Entscheidungen, wo und wie und was man studiert, die fallen ganz woanders. Die fallen gar nicht sozusagen wirklich am Schluss. Und ob ein junges Mädchen tatsächlich in ein solches Fach hineingeht, das hängt von Erfahrungen auch insbesondere in der Familie ab, welche Vorbilder gibt es. Ich sage immer, wir haben in Deutschland wirklich verpasst an der Stelle, dass wir Frauen wirklich verprellt haben. Wir haben nach der Wiedervereinigung im Osten sehr viele Ingenieurinnen gehabt und Naturwissenschaftlerinnen gehabt. Wir kamen aber danach in eine wirtschaftliche schwierige Situation. Und was passiert ist, ist, dass man zuerst die Frauen entlassen hat an dieser Stelle. Das bedeutet, dass die Großmutter jetzt ihrer Enkeltochter nicht empfehlen wird, Ingenieur zu werden, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht hat.

Das war ein Riesenfehler. Da hat die Gesellschaft jetzt dran zu knapsen. Und ich denke, es ist eine Frage, wie stellt sich die Gesellschaft darauf ein. Natürlich gibt es modernere Konzepte. Die Frage nach dem Design ist in den Ingenieurwissenschaften eine ganz, ganz wichtige Frage. Und das interessiert Frauen natürlich eher. Und natürlich muss man auch darüber nachdenken, ob die Worte, die man benutzt, eigentlich heute auch noch en vogue sind. Also, wenn wir Studiengänge haben, die heißen Chemieingenieur"wesen“, Maschinenbau"wesen“, Bauingenieur"wesen“, dann ist das was gewesen, aber das ist eigentlich nichts Modernes mehr.

Deutschlandradio Kultur: Es ist im Namen nichts Modernes mehr. Wenn der Inhalt stimmt, könnte es ja trotzdem passen.

Horst Hippler: Ja...

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem haben wir ja auch bei Arbeitslosen, Entschuldigung, bei Arbeitslosen Ingenieure, die diesen Titel haben, aber nicht unterkommen im Arbeitsmarkt, weil sie möglicherweise nicht die neuen Qualifikationen haben, die der Markt nachfragt. Was macht man mit denen?

Horst Hippler: Ich glaube nicht, dass es so viele arbeitslose Ingenieure tatsächlich gibt in Deutschland – im Vergleich zu anderen Fächern. Natürlich wird es passieren. Es gibt immer Einzelfälle. Und dann ist es auch eine Frage der Mobilität. Sind die Leute bereit, auch mobil zu sein und zu wechseln und da auch hinzugehen, wo die große Nachfrage nach Ingenieuren ist? Da haben wir in Deutschland ja ein größeres Problem mit der Mobilität als mit dem Angebot an Stellen.

Deutschlandradio Kultur: Mal die umgekehrte Frage: Sie als Karlsruher Forschungszentrum und Universität haben durchaus ein Interesse von jungen Studenten zu spüren bekommen? Das ist also gegen den Trend oder ist das schon der neue Trend?

Horst Hippler: Ich weiß nicht, ob’s der neue Trend ist, aber für uns ist ganz sicher ein solcher Trend vorhanden. Es wechseln viele, auch höhere Semester, nach Karlsruhe – aus welchen Gründen auch immer. Ich glaube, man schaut genauer hin, an welcher Universität, an welcher Einrichtung man seine Ausbildung genießt. Ich glaube, dieser Trend ist eingeleitet worden durch die Exzellenzinitiative, dass die Studierenden sehr viel genauer hinschauen, wo will ich denn studieren, wo kriege ich einen guten Abschluss.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben noch mal nachgeguckt. Wenn das stimmt, haben Sie 16 Prozent ausländische Studenten bei Ihnen an der Universität. Viele kommen auch aus China. Ist das eine Öffnung, wo Sie sagen, wunderbar, dass die alle kommen und bei uns lernen wollen? Oder gibt’s da auch den Hintergedanken, dass Sie sagen, aha, wir züchten eigentlich hier auch schon die Konkurrenz, die in fünf, sechs, sieben Jahren, weil die sehr emsig und fleißig sind, unseren Ingenieuren das Leben schwer machen, weil sie das dann in China produzieren?

Horst Hippler: Also, die Zahl ist ein bisschen größer. Das sind nicht 16 Prozent. Es kommt darauf an, wie Sie zählen, ob Sie sozusagen Bildungsinländer mitzählen oder nicht mitzählen, ob Sie EU-Ausländer mitzählen oder nicht mitzählen. In der Summe sind es ungefähr 23 Prozent ausländische Studierende. Sie haben recht. Wir haben ein großes Kontingent von Chinesen bei uns. Ob das richtig ist oder nicht richtig ist, ...
Deutschlandradio Kultur: Konkurrenz belebt das Geschäft.

Horst Hippler: Ich denke, Internationalität ist auch wichtig. Und ich glaube, was auch wichtig ist, ist, dass in diesen Ländern nachher Personen sind, die wissen, was deutsche Kultur ist, die wissen, was deutsche Produkte sind. Und auch das ist ein großer Vorteil. Wir wissen, dass der chinesische Wissenschaftsminister, Herr Wan Gang, der hat auch in Deutschland studiert, hat dann bei Audi gearbeitet in der Forschung und ist dann Präsident gewesen der Tongji-Universität und jetzt Minister, was dazu führt, dass wir natürlich sehr, sehr gute Beziehungen im Wissenschaftsbereich zu China haben. Und ich glaube, so falsch kann das gar nicht sein, dass man auch Leute hier ausbildet aus diesen Ländern. Natürlich ist Know-how und Methodik, das alles, miteinander vernetzt, aber eine Isolierung wäre eigentlich das Schlechteste, was man machen könnte.

Deutschlandradio Kultur: Tacheles heute mit Prof. Horst Hippler, dem Präsidenten des Karlsruher Instituts für Technologie und zugleich dem Gründungspräsidenten der TU9, einem Verbund der neun führenden Technischen Universitäten Deutschlands.

Zum Forschungsprogramm des Karlsruher Instituts. Sie selbst haben sich sehr stark für die Kernenergie eingesetzt. Und alle Leute sprechen, selbst die Politik, nur noch von einer Brückentechnologie. Aber die Ingenieure wollen da nicht so ganz runter. Warum?

Horst Hippler: Also, ich hab mich nicht sehr stark für die Kernenergie eingesetzt. Ich habe den Aufruf mit unterschrieben, weil wir kein Energiekonzept haben in Deutschland. Das ist was anderes. Ich glaube, wir brauchen in Deutschland ein wirklich echtes Energiekonzept.

Deutschlandradio Kultur: Also, mit dem, was die Bundesregierung vorgelegt hat, sind Sie nicht einverstanden?

Horst Hippler: Jetzt ist es besser. Als der Aufruf war, gab es das ja noch gar nicht. Jetzt ist es besser. Jetzt redet man über einen Energie-Mix. Man redet darüber, sozusagen zu investieren in erneuerbare Energien. Nur man muss eigentlich sich Gedanken machen, wie wir die Energieversorgung für die Zukunft sicherstellen können, wohl wissend, dass wir im Moment und auch für längere Zeit CO2 weiter produzieren müssen, weil fossile Brennstoffe im Moment und für längere Zeit sicherlich der wichtigste Energielieferant sein werden.

Deutschlandradio Kultur: Bloß, was interessiert einen Wissenschaftler noch an der Kernenergie?

Horst Hippler: Sagen wir es mal so: Da gibt es viele Fragen, die noch zu beantworten sind. Kernenergie, wenn Sie von der klassischen Kernenergie sprechen, von der Kernspaltung, die jetzt im Gange ist, da gibt es viele Aspekte der Sicherheit, über die man reden muss. Wir brauchen Ingenieure, die auch Sicherheitsstandards sozusagen überwachen können, einhalten können und genau schauen können, ob wir noch an dieser Stelle richtig aufgestellt sind. Es geht darum zu schauen, dass man den radioaktiven Abfall sozusagen endlich anders verwerten kann, dass er umgebrütet wird, dass wir eben nicht 100.000 Jahre diesen Abfall haben, sondern vielleicht nur noch einige hundert Jahre, wenn man ihn wandelt in andere Elemente. Da gibt es große Forschungsprojekte. Das sind spannende Fragen, die zusammenhängen mit dem Bereich jetzige Kernenergie.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie denn das Gefühl, dass die Politik Sie tatsächlich beim Wort nimmt? Immerhin haben Sie ja mal auch gesagt, wir könnten, wenn wir frei forschen könnten und Vorschläge machen, Perspektiven in Sachen Energiepolitik aufzeigen, die tatsächlich schnell uns auch unabhängig machen von allen fossilen Brennstoffen.

Horst Hippler: Also, es gibt ja viele Ansätze an dieser Stelle, wie man mit diesem Problem umgeht. Natürlich ist die Sonne der beste Energielieferant, den wir haben. Und es gilt sozusagen, diese Energie effizient zu nutzen. Und da gibt es eben viele, viele Möglichkeiten. Die Natur hat uns das vorgemacht. Die Pflanzen machen das. Also, wichtig ist zu schauen, kann man Pflanzen sehr, sehr effizient nutzen? Wie kann man das bewerkstelligen, dass man Pflanzen als Energielieferanten sieht für die Zukunft?

Man kann davon reden, dass man die Sonne direkt benutzt als Wärmequelle und daraus Energie erzeugt. Man kann über Fotovoltaik reden, obwohl wir in Deutschland wahrscheinlich da der falsche Platz sind für Fotovoltaik. Da fehlt ein bisschen Sonne. Und wenn man weiter in den Süden geht, wo mehr Sonne ist, da gibt’s ein anderes Problem mit der Fotovoltaik. Denn je höher die Temperatur ist, desto schlechter werden die Wirkungsgrade. Also, eigentlich wäre Fotovoltaik ganz prima ganz oben in Norwegen, da, wo da klarer Himmel ist, oder in Nordschweden. Aber da wohnt niemand. Das ist dann ein anderes Problem. Da müssten Sie die Energie wiederum transportieren.

Das Problem ist ja, Energie muss transportiert werden, genau dahin, wo sie gebraucht wird. Und das hat man früher so gemacht, dass man sie da erzeugt hat, indem wir Kraftwerke da gebaut haben, wo wir die Energie gebraucht haben. In der Zukunft werden wir eher von den geografischen Gegebenheiten abhängen. Und dann müssen wir eben die Energie dorthin transportieren. Und das zieht andere Probleme nach sich. Sie müssen Leitungen legen. Sie müssen vielleicht durch verschiedene Länder gehen. Ja, das sind andere Probleme, die dann auf uns zukommen. Da sind eben auch riesige Kosten mit verbunden, das muss man wissen, riesige Investitionen mit verbunden. Aber denen muss man sich stellen. Dafür braucht man ein wirkliches Programm.

Deutschlandradio Kultur: Bräuchten wir beispielsweise ein nationales Energieforschungskonzept?

Horst Hippler: Ich bin ganz sicher, dass wir mit einem nationalen Energieforschungskonzept sicherlich einen Ansatz hätten, der in Abstimmung mit der Wissenschaft und nicht ideologisch getrieben und so weit bringt, dass wir etwas Nachhaltiges haben. Sie haben ja die Probleme und die Problematiken, dass viele, viele unterschiedliche Energieszenarien diskutiert werden und dann aus jedem Szenario ergeben sich andere Verläufe. Aber diese Szenarien sind eigentlich nie wissenschaftlich echt untersucht worden, ob sie mehr oder weniger real sich entwickeln können.
Wichtig ist Flexibilität hat an dieser Stelle, weil, die Forschung kann durchaus in einigen Bereichen größere Fortschritte machen. Und dann muss man auch in der Lage sein, etwas zu verändern relativ schnell, um dem zu folgen.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir über Energiepolitik reden, und da sind wir ja im Moment dabei, kann man das eigentlich im 21. Jahrhundert – und Beispiel wäre vielleicht auf einer anderen Ebene, Stuttgart21 –, kann man diese Fragen rein naturwissenschaftlich lösen? Oder ist es nicht eigentlich die Aufgabe von Wissenschaft, auch zu sagen, nein, wir müssen versuchen mit unterschiedlichen Disziplinen, bis hin zu Humanwissenschaften, gemeinsam versuchen Lösungen zu finden, die tatsächlich dann das Energieproblem so lösen, dass die Menschen damit auch mitgehen?

Horst Hippler: Ich glaube, es geht gar nicht mal um das Energieproblem an sich. Es ist, glaube ich, in der jetzigen Situation, in der man ist, ein Land, ein Staat, dem es wirtschaftlich gut geht, wo die Bevölkerung eigentlich recht zufrieden ist und satt ist, die Frage eine ganz andere. Die Frage ist: Wie können wir unseren Wohlstand, unseren jetzigen Vorsprung, den wir haben in einigen Feldern, wie können wir das nutzen, damit es uns weiterhin gut geht?

Und natürlich ist es relativ schwierig, wenn man sehr satt ist, einzusehen, dass man Veränderung bräuchte. Da haben wir gesehen, Stuttgart21 war jetzt ein Beispiel, aber viele andere größere Projekte scheitern ja oder dauern sehr, sehr lange, weil es viele, viele Eingaben gibt. Wir brauchen da schon mehr Partizipation, Partizipationsprinzip, ein Umdenken in der Entscheidungsfindung und Integration. Und das ist etwas, was, glaub ich, Neuland ist.

Wir erleben ja zum ersten Mal, dass die Gesellschaft einfordert, Technologien zu entwickeln. Das ist noch nie so gewesen. Es ist immer so gewesen, dass Technologien die Gesellschaft verändert haben. Jetzt kommt es zum ersten Mal soweit, dass die Gesellschaft fordert, Technologien zu entwickeln, um Problemen zu begegnen. Das bedeutet natürlich, dass wir einen viel größeren Austausch brauchen zwischen Gesellschaft und Technologie.

Deutschlandradio Kultur: Auch zwischen Naturwissenschaften und Humanwissenschaften, also den Schnittstellen?

Horst Hippler: Absolut. Und wir haben gerade in Karlsruhe uns so aufgestellt. Wir haben dort einen Forschungsschwerpunkt aufgestellt, der heißt „Menschen und Technik“. Da geht es genau um diese Fragen. Es geht nicht nur um die Frage Schnittstelle Mensch-Maschine. Das ist eine Frage natürlich, die auch sehr spannend ist, aber es geht darum: Wie beeinflusst die Gesellschaft jetzt die Technologien und die Entwicklung von Technologien? Und andersrum: Wie beeinflussen die Technologien die Gesellschaft? Und das sind ganz, ganz wichtige Fragen, über die man reden muss. Und daraus ergeben sich dann natürlich auch Notwendigkeiten für größere Projekte, über die man dann reden muss. Und ich hoffe, dass daraus dann eine größere Akzeptanz entsteht, wenn es früh genug diskutiert wird.

Deutschlandradio Kultur: Warum sind denn die Energieforscher keine guten Politikberater? Denn es wird ja immer wieder diskutiert, beispielsweise in der Klimaschutzpolitik: Was ist denn, wenn die Welt nicht mitmacht? Oder was ist denn, wenn Europa nicht mitmacht, dann steht Deutschland ganz alleine. Da würde man doch eigentlich erwarten von den Forschern zu sagen, wir machen euch ein Szenario. Die Alternative eins, zwei, drei und vier und immer, was eintritt, können wir auch die zweit- und drittbeste Lösung für uns in Deutschland finden.

Horst Hippler: Ich glaube schon, dass es für uns wichtig ist, dass wir Technologien entwickeln, die vielleicht heute noch keiner groß nachfragt, die aber gerade in diese Richtung gehen, weil, diese Technologien werden gebraucht werden in Kürze, auch in vielen anderen Ländern. Da ist es wichtig, den Vorsprung zu haben.

Wir haben bei der Fotovoltaik Riesenfehler gemacht in Deutschland. Wir haben sozusagen alles entwickelt, alles subventioniert und produziert wird’s jetzt in China. Das war falsch. Wir müssen gleichzeitig sehen, dass wir, wenn wir etwas mit unterstützen und erforschen, dass wir auch in Deutschland produzieren. Denn es hat sich ja gezeigt in der letzten Wirtschaftskrise, dadurch, dass wir noch produzieren und gerade im Maschinenbau noch produzieren und stark sind, dass wir sehr, sehr schnell aus dieser Krise herausgekommen sind.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind von Haus aus Physiker. Ihr Fachgebiet ist physikalische Chemie. Warum interessieren Sie sich für die Naturgeschichte der Kerze? Weil jetzt Weihnachten kommt?

Horst Hippler: Weil die Verbrennung an einem Docht ein ganz klassisches physikalisch-chemisches Problem ist. Und wenn man genau hinschaut, ist man eigentlich fasziniert, was dort passiert. Ein Docht, etwas ganz Einfaches, saugt flüssiges Wachs ein. Das flüssige Wachs wird aber erst erzeugt durch die Flamme, also eine Rückkopplung. Und dann strömt dieses flüssige Wachs in dem Docht nach oben, wird angezogen, muss verdampfen. Und dann von der Verdampfung her entwickeln sich dann verschiedene Verbrennungszonen in den verschiedenen Farben. Sie kennen das. Sozusagen in der Mitte ist gar keine Flamme. Dann wird sie bläulich und außen wird sie gelblich. Das sind spannende Fragen. Wo kommt das her? Warum ist das? Wo kriegt die Kerze genügend Sauerstoff? Es muss ja sozusagen auch Sauerstoff hineintransportiert werden. – Ganz, ganz spannende Fragen. Das ist reine klassische physikalische Chemie. Da versucht man einen solchen Vorgang, der eigentlich ganz alltäglich ist, zu verstehen mit physikalischen Methoden.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man so eine Kerze brennt, dann ist es einfach auch schön und vorweihnachtlich und man kann sich dran erfreuen. Da kommt dann wieder dieses Menschliche, das neben der Physik sicherlich auch noch eine Rolle spielt.
Herr Hippler, herzlichen Dank für das Gespräch.

Horst Hippler: Bitte, gerne.
Studenten nehmen am 26. Jan. 2005 an einer Vorlesung an der Humboldt Universität in Berlin teil
Hippler: Viele Ingenieursstudenten wissen nicht, was sie tatsächlich erwartet© AP