"Wir sind immer noch ein Bergvolk"

Moderation: Nana Brink |
Nach Ansicht des Schriftstellers Thomas Hürlimann prallen in der Schweiz zwei unterschiedliche Mentalitäten aufeinander. Einerseits gebe es diese beschauliche und interne Art, andererseits verschärfe sich aber das Tempo und habe amerikanisches Niveau erreicht.
Brink: Heute jährt sich der Rütli-Schwur wieder, wie jeden 1. August seit 1291. Bei uns hier im Studio zu Gast am Nationalfeiertag der Schweiz ist nun der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann, bekannt geworden durch Werke wie "Der große Kater" oder "Fräulein Stark", die sich vor allem mit dem eigenen Land auseinander setzen. Zwei Ereignisse im Jahr 2001 haben Thomas Hürlimann, Jahrgang 1950, besonders bewegt. Das Attentat im Parlament des Kanton Zug und nur wenige Tage später erklärte die Schweizer Fluggesellschaft Swiss Air ihren Bankrott und alle Welt fragte sich: Was ist denn los in der Schweiz? Herr Hürlimann, ist die Schweiz aus ihrer Idylle gefallen?

Hürlimann: Ich glaube nicht. Eine Insel, bis zu einem gewissen Grad ist sie nach wie vor. Aber die beiden Ereignisse, die Sie ansprechen, haben gezeigt, dass die ruhigen Zeiten für uns vorbei sind. Die Schweiz merkt immer mehr, dass sie eigentlich in zwei verschiedenen Zeiten lebt. In einer noch langsamen, dafür steht gerade so eine Stadt wie Zug, da bin ich aufgewachsen. Das war noch ein fast mittelalterliches Städtchen, ein Biedermeier-Städtchen aus dem 19. Jahrhundert mit Vereinen, mit Geranientöpfen am Bahnhof.

Und gleichzeitig hat sich dieses Zug Ende der 50er Jahre durch den gesenkten Steuerfuß eigentlich fast in eine amerikanische Stadt verwandelt. Und beide Zeiten, also die eine, die sozusagen mit der Welt verbunden war, und die beschauliche, interne, die reißen natürlich aneinander. Und das gerade dort in Zug das passiert ist, halte ich deshalb für keinen Zufall.

Brink: Hat uns ja alle sehr überrascht. Also, man hätte es überall vermutet, aber nicht in der Schweiz, nicht in Zug. Sie sprechen von zwei Zeiten, von zwei Geschwindigkeiten. Hat das auch ein bisschen was - also, die eine Geschwindigkeit zumindest - mit dieser alten Schrat-Mentalität zu tun, wie sie mal ihre Zeitgenossen, ihre Landsleute beschrieben haben?

Hürlimann: Ja, sicher. Wir sind immer noch in der Mentalität ein Bergvolk. Der Berg, auch wenn die ganze Schweiz im Mittelland lebt, ist doch so etwas wie unser Nationalsymbol, das hat auch Canetti gesagt. Und wenn Sie zum Beispiel die Zürcher Bahnhofsstraße nehmen, dann finden Sie diese alten Schrat-Mentalität auch, denn was machen alten Schrate? Sie haben eine Höhle, worin sie ihre Vorräte verbergen und an der Bahnhofstraße sind das dann die Tresore. Also, da werden teilweise... mit den gleichen Mitteln, wird da gearbeitet.

Allerdings ist es natürlich so, dass im Berg ein anderes Tempo gilt, das ist der Bergschritt. Das kann man ganz äußerlich sehen. Zürich ist eine relativ hektische Stadt, da ist die Geschwindigkeit, auch die nur im Straßenbild, schon eine ganz andere. Da sehen Sie niemanden mehr, der im Bergschritt geht. Und gerade das ist teilweise die Schwierigkeit, dass wir eigentlich als kleines Land, geographisch sehr beschränkt, mit diesen beiden verschiedenen Geschwindigkeiten auskommen müssen, dass wir sie oft in einer Person eben austragen.

Brink: In Ihrer Person auch? Spüren Sie die selbst bei sich?

Hürlimann: Ja und Nein. Ich hoffe immer mehr, dass ich meine langsame Geschwindigkeit einhalten kann. Ich bin zum Beispiel..., wenn ich in Berlin spaziere, werde ich dauernd überholt. Ich sehe einfach mehr.

Brink: Sprechen Sie auch schneller?

Hürlimann: Ich muss hier schneller sprechen! Ich bemühe mich jetzt sehr schnell zu sprechen, sozusagen, dass die Leute am Radio nicht wegbrechen. Aber eigentlich denke ich entschieden langsamer als Sie, vermute ich.

Brink: Sieht man anders auf sein Land, wenn man im Ausland lebt? Gerade Sie als Schriftsteller?

Hürlimann: Ich glaube schon. Es ist für mich so, dass ich gehe und wieder komme. Und sehr oft sieht man ja Veränderung erst dann, wenn man eine gewisse Zeit weg war. Das sind manchmal nur Kleinigkeiten, aber sie fallen mir auf, weil ich mich eine gewisse Zeit in einer ganz anderen Gesellschaft aufgehalten habe.

Ich habe zum Beispiel, als ich in Leipzig lebte, mal eine Frau gesehen, die ihren Wagen voll gemacht hat mit Waren, dann kam sie an die Kasse und die Frau an der Kasse hat sie angeschrieen und hat gesagt: Sie müssen endlich kapieren, im Kapitalismus kann man die Dinge nicht einfach nur aus dem Regal nehmen und dann meinen, man hätte sie damit schon gekauft, man muss sie nämlich bezahlen. Das ist natürlich etwas, das mir in der Schweiz so nie begegnen würde. Aber ich schaue dann plötzlich einen Supermarkt in der Schweiz ganz anders an, nachdem mir so eine Frau in Leipzig begegnet ist.

Brink: Gibt es noch Vorurteile der Schweizer gegenüber den Deutschen? Das gab es ja mal in den 50er, 60er vielleicht auch 70er Jahren.

Hürlimann: Ja, vielleicht in der alten Generation. Also, jene Generation, die noch den Krieg erlebt hat, die mit einer gewissen Angst vor dem großen Deutschland gelebt hat. Bei der Nachkriegsgeneration, oder bei den späteren Generationen ist das überhaupt nicht mehr der Fall. Die deutsche Kultur ist ein Teil unserer Kultur. Der deutsche Fußball ist den meisten Schweizern wichtiger als der Schweizer Fußball. Also da gibt es diese Vorurteile nicht mehr.

Brink: War das denn eigentlich zwangsläufig, dass Sie in eine deutsche Stadt gehen mussten, wenn Sie denn schon ins Ausland gehen?

Hürlimann: Das hatte für mich etwas mit der Sprache zu tun. Ich habe Philosophie studiert, und wollte dann zwar möglichst weit weg von der Schweiz. Und dann habe ich auf die Landkarte geschaut, Wien war achthundertundetwas Kilometer, Berlin, also das damalige West-Berlin, neunhundert. Da habe ich gedacht: Ist noch ein bisschen weiter weg, gehe ich nach West-Berlin.

Brink: Hatte also keine irgendwie ideologischen oder sonst wie Gründe, sondern rein praktische. Das klingt...

Hürlimann: Das habe ich erst gemerkt, als ich dann an der damaligen FU und in Kreuzberg gelandet bin. Also ich bin nicht mit ideologischen Gründen gestartet.

Brink: Wir haben jetzt so viel über Geschwindigkeiten gesprochen. Ich möchte das Thema eigentlich noch mal aufnehmen: Geschwindigkeiten - wie sich Gesellschaften verändern. In der Schweiz haben Sie gesagt, leben sie immer noch in zwei Geschwindigkeiten. Hat sich Deutschland schneller verändert seit der Wende, als die Schweiz?

Hürlimann: Nein, erstaunlicherweise nicht, dass, glaube ich, hängt damit zusammen, dass die beiden deutschen Staaten in dem Moment, wo sie sich vereinigt haben, sehr aufeinander verwiesen waren. Konkret, das Wort kommt ja von concrescere - zusammenwachsen. Und dieses Zusammenwachsen hat dazu geführt, dass beide deutschen Staaten plötzlich aufeinander verwiesen waren. Also, der Ossi schaute auf den Wessi und umgekehrt.

Während die Schweiz oder auch umliegende Länder, wie Österreich, Holland und so weiter, die waren in derselben Zeit natürlich genötigt eher nach außen zu schauen. In der Schweiz hat man das, was hier teilweise jetzt immer mehr und stärker festegestellt wird, dass wir eben in einer Welt wohnen, die immer schneller wird, die sozusagen ihre Entscheidung trifft, ohne dass wir selber etwas dazu tun können... In der Schweiz hat man diesen Prozess früher erlebt und beobachtet, und vielleicht auch etwas früher darauf reagieren können.

Brink: Dann ist die Schweiz doch schneller. Gar nicht so langsam, wie Sie immer sagen.

Hürlimann: Ja, das langsame Tempo kann manchmal eher zum Ziel führen. Das gibt es tatsächlich!

Brink: Ist ja dann auch ein bisschen konservativer.

Hürlimann: Auch das. Es geht ja immer darum, das Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren, gerade im Bergschritt kann man es teilweise besser im Auge behalten, als wenn man gezwungen ist, sich als Sprinter irgendwie nach vorne zu beugen und auf den Boden zu gucken.

Brink: Wir haben den Schweiz-Tag heute, im Deutschlandradio Kultur beschäftigen wir uns mit der Schweiz. Das ist der Nationalfeiertag. Kommt man als Schweizer Schriftsteller eigentlich an Wilhelm Tell vorbei?

Hürlimann: Nein, wir sind natürlich mit ihm aufgewachsen. Und er gehört zu unseren mythischen Figuren. Und ich denke auch nicht ganz zu Unrecht. Das, was wir eben angesprochen haben, das ist auch schon in Tell eigentlich drin. Nämlich, dieser Widerspruch: einerseits war ja Tell so etwas wie ein Rebell, andererseits war er ein braver Untertan. Und er selbst hat an sich erfahren, dass es eben sozusagen zwei Kräfte gibt. Er hat sich diesen Kräften ausgesetzt, ist dadurch zum Helden, aber auch dadurch zum Tyrannenmörder, oder zum Mörder geworden. Insofern ist das eine mythische Figur, die uns heute durchaus noch etwas sagen kann.

Brink: Ich sehe ein Lächeln auf Ihrem Gesicht. Sie mögen Ihn also, ja?

Hürlimann: Ich mag ihn schon deshalb, weil er auch den Einzelgänger verkörpert. Also, er hat sich... also, man darf ja nicht vergessen, Schiller hat das vollkommen richtig gemacht im dritten Akt. Als der große Rütli-Schwur geschworen wird, und wenn das Stück wirklich pathetisch wird, da ist Tell gar nicht dabei. Die Theaterkritiker haben ihm das damals vorgeworfen. Aber er hat durchaus Recht. Das ist ein Einzelgänger, der sich lieber im Abseits aufhält und dann im richtigen Moment, man muss auch sagen aus dem Hinterhalt, eben seinen Schuss abgibt.

Brink: Herzlichen Dank. Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann, heute bei uns zu Gast in Deutschlandradio Kultur. Vielen Dank für das Gespräch!

Hürlimann: Ich danke Ihnen!